Me­tho­dik für Ri­si­koa­na­ly­sen in Tun­neln

Astra-Richtlinie 19004

Normenbasierte Vorgaben bei der Planung von Strassentunneln nehmen nicht direkt Rücksicht auf Kosten und technische Schwierig­keiten des jeweiligen Tunnelsystems. Vom Astra entwickelte quantitative Ansätze binden Risiken und Kosten schon in den Planungsprozess ein.

Data di pubblicazione
11-05-2017
Revision
11-05-2017
Samuel Rigert
MSc ETH Masch.-Ing., Amberg Engineering, Lüftung & Sicherheit
Marco Bettelini
Dr. sc. techn. ETH Zürich, Amberg Engineering, Lüftung & Sicherheit

In den letzten zwei Jahren haben sich Tunnelbauexperten mit der Richtlinie 19004 des Schweizerischen Bundesamts für Strassen Astra Risikoanalyse für Tunnel der Na­tio­nalstras­sen befasst. Sie legt fest, wann und wie bei der ­Neuplanung oder Sanierung von Tunneln Risiken mittels quantita­tiver Methoden analysiert werden müssen. Das Risiko von Personen­schäden soll ein gesellschaftlich «tolerierbares» Niveau nicht überschreiten, zugleich ist das Prinzip der Verhältnis­mässigkeit zu wahren: Die Sicherheit soll so lang schrittweise erhöht werden, bis dies kosten­effizient nicht mehr möglich ist (vgl. «Kalkulierbare Sicherheit», TEC21 43/2015). Nun wurden Erfahrungen gesammelt, wie mit der Richtlinie in der Praxis umgegangen werden soll. 

Segmentieren, modellieren, quantifizieren 

Bei der neuen Methodik wird ein Tunnel durch zahlreiche Parameter (Risikoindikatoren) charakterisiert, die Einfluss auf seine Sicherheit ­haben: Verkehrsaufkommen, Längsneigung, Fluchtwege oder Brandschutzeinrichtungen. Diese Para­meter variieren über die gesamte Tunnellänge. Daher unterscheidet sich auch das Unfall-, Brand- oder Todesfallrisiko in jedem Tunnel­abschnitt. Am Eingangsportal etwa ist das Unfallrisiko aufgrund der wechselnden Lichtverhältnisse in der Regel höher als im Innen­bereich oder bei der Ausfahrt. 

Mittels Bayesian Probabi­lity Nets (BPN) werden Tunnel in Segmente mit identischen, einfach zu beschreibenden Parametern eingeteilt, die verschiedenen Risikofaktoren modelliert und das Risiko für Unfälle, Brände und Gefahrengutereignisse für jedes Segment ermittelt. Aus diesen Ereignisraten sowie weiteren Indikatoren (z. B. Fluchtwegdistanz und Lüftungssystem) wird pro Segment das Risiko für Todesfälle und Verletzte abgeleitet. 

Die Aggregation der Ergebnisse aller Segmente ergibt das ­Gesamtrisiko in Form quantifizierbarer Konsequenzen für jede Fahrt­richtung und das gesamte Tun­nelsystem. Diese sind mit festgelegten Grenz­werten zu ver­gleichen. Gegenüber rein normen­basierten Ansätzen erlaubt dieses quantitative Verfahren, zahlreiche Faktoren realitätsnah zu modellieren, und ­liefert reproduzierbare, präzise Resultate für aussagekräftige Schlussfolgerungen. 

Beispiele aus der Praxis

Die Methodik bei quantitativen ­Risikoanalysen wird in verschiedenen Planungsphasen angewendet. Zwei fiktive Fälle sollen das Vorgehen verdeutlichen. Im Beispiel 1 geht es um die Risikoanalyse eines be­stehenden Tunnels. Das Astra hat ein Sanierungs­programm initiiert, um bestehende Strassentunnel mit Gegenverkehr mit Notausgängen und/oder Fluchtstollen auszustatten. Dabei gilt es, die Kosteneffizienz solch teurer Massnahmen und eventuell wirtschaftlichere Alternativen zu prüfen.

Risikoanalyse zur Verbesserung der Notausgänge

Hierfür wurden zunächst die relevanten Risikoindikatoren für einen 2 km langen Tunnel mit 17000 Fahrzeugen im Gegenverkehr, 6 % Längsneigung und schwach ausgelegter Belüftung definiert. Die Analyse des Istzustands zeigte ein hohes Unfall- bzw. To­desfallrisiko aufgrund der hohen Längsneigung und des schwach ausgelegten Ventilationssystems. Besonders ausgeprägt ist das Brand­risiko in Richtung 1 (bergauf). Die Todesfallrate liegt jedoch in beiden Richtungen deutlich über der Toleranzgrenze von 13 Todesfällen pro Milliarde Fahrzeugkilometer. Fahrzeugbrände sind in diesem Beispieltunnel die grösste Risikoquelle.

Zur Senkung des Todesfallrisikos unter die Toleranzgrenze wurde die Situation mit der Anordnung von Notausgängen in einem Abstand von 300 m, 200 m und 100 m sowie mit einer verbesserten Beleuchtung neu evaluiert. Dabei rechnete man die Investitions- und Betriebskosten der Massnahmen in Jahreskosten um. Während die Kosten für die neue Beleuchtung niedrig ausfielen, schlugen die Not­ausgänge mit einer Investition von 25 Mio. Fr. und Jahreskosten von 1 Mio. Fr. zu Buche.

Bereits Notausgänge in Abständen von 300 m senkten das Todesfallrisiko deutlich. Mit Abständen von 200 m oder 100 m ging dieses Risiko auf die Hälfte bzw. ein Viertel zurück. Zugleich stiegen die Kosten mit den kürzeren Abständen nur unwesentlich, da ein Fluchtstollen ohnehin für alle Varianten erforderlich war. Der monetäre Nutzen der Risiko­minderung wurde gemäss Vorgaben für den Strassenverkehr in der Schweiz ermittelt, die Massnahmenkosten von 5 Mio. Fr. zur Verhinderung eines Todesopfers vorschreiben.

Die Effizienz der Massnahmen entspricht dem Verhältnis von mo­netärem jährlichem Nutzen zu den ­Jahreskosten. Im vorliegenden Beispiel ergab dies eine Effizienz von 1.425 (für ­Notausgänge alle 300 m), 1.430 (200 m) bzw. 1.401 (100 m). Die bessere Beleuchtung erbrachte einen vergleichsweise bescheidenen Nutzen, aber aufgrund geringer Jahreskosten eine Effizienz von 3.719. 

Die Astra-Richtlinien sehen eine schrittweise Umsetzung der Massnahmen vor. Beginnend mit der effizientesten werden weitere Massnahmen ergänzt. Dabei muss die Effizienz jeder Massnahme nach jedem Schritt neu evaluiert werden, da die Risikominderung der bereits angewandten Massnahmen die Wirkung der folgenden verringert. Im gewählten Beispiel war jede Massnahme für sich kosteneffi­zient. In Kombination galt dies jedoch nur noch für Notausgänge in einem Abstand von 200 und 300 m. Letzten Endes muss das Massnahmenpaket die Todesfallrate unter die Toleranzgrenze ­senken, um zur Bauausführung empfohlen werden zu können. 

Risikoanalyse eines Neubaus 

Im Zuge der Planung eines 2 km langen Tunnels mit sehr hoher Längsneigung (mehr als der international akzeptierte Wert von 5 %) wurde eine um 500 m verlängerte, weniger steile Variante untersucht. Durch die Streckenführung mit tieferer Längsneigung konnte zwar die Brandgefahr pro Tunnelkilometer gesenkt werden, die zusätzlichen Tunnelmeter erhöhten aber die Anzahl der Unfalltoten (+10 %) und -verletzten (+5 %). Die längere ­Variante erbrachte ­höhere Opferzahlen bzw. eine Risiko­erhöhung. Aufgrund der zusätzlichen Investitionskosten in Höhe von 25 Mio. Fr. für den 500 m ­längeren Tunnel und jähr­lichen Kosten von 1 Mio. Fr. erwies sich die Verringerung der ­Tunnelsteigung eindeutig als kontra­produktiv. 

Risiken auf den Punkt gebracht

Bei der Sanierung veral­te­ter Stras­sentunnel, aber auch bei der Planung von Tunnelneubauten kommt die quantitative Risikoanalyse zur Anwendung. Gegenüber rein nor­menbasierten Ansätzen lässt sich damit das ­Gesamtrisiko der betrachteten ­Infrastruktur ermitteln und mit vorgegebenen Grenz­werten (Risiko­akzeptanz) ver­gleichen. Sicherheitsmassnahmen werden auf Kosteneffizienz geprüft und nur bei positivem Verhältnis umgesetzt. Diese Methodik ermöglicht risiko­orientierte Vergleiche von Projektvarianten mit repro­duzierbaren Ergebnissen.

 

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