«Net­to-Null ist heu­te noch ni­cht er­reich­bar»

Der Bausektor wird als Vorreiter für eine CO2-freie Zukunft gelobt. Aber selbst Nachhaltigkeitsfachleute erachten es als grosse Herausforderung, den Gebäudebereich in den kommenden zwei Jahrzehnten auf «klimaneutral» umzustellen. Ein Gespräch mit Katrin Pfäffli und Heinrich Gugerli, die das nachhaltige Bauen schon länger prägen.

Data di pubblicazione
02-11-2020

TEC21: Ein grosses, kompaktes Wohnhaus aus Holz oder Lehm, mit erneuerbarer Energie versorgt und ohne Parkplätze darum herum kann die Klimaziele der 2000-Watt-Gesellschaft in der Praxis erreichen. Genügen diese Zutaten aber auch für die «Netto-Null»-Bilanz?

Katrin Pfäffli: Wir können ein Gebäude betreiben mit fast keinen CO2-Emissionen. Im Bereich Gebäudebetrieb haben wir effektiv viel erreicht. Auch eine nahezu emissionsfreie Fortbewegung ist heute möglich, was für den 2000-Watt-Bereich Mobilität unerlässlich ist. Dazu zähle ich den Fuss- und Fahrradverkehr ebenso wie den Transport mit dem umweltfreundlichen öV oder einem Pkw. Im Bereich Gebäudeerstellung schaffen wir dagegen die Netto-Null-Bilanz klar noch nicht. Auch mit natürlichen Baustoffen wie Holz oder Lehm bauen wir nicht treibhausgasfrei. Genauso wenig lässt sich die Verkehrsinfrastruktur treibhausgasfrei erstellen.


TEC21: Was läuft falsch?

Heinrich Gugerli: Es läuft nichts falsch, aber zu langsam. Die Dekarbonisierung des Gebäudebetriebs ist voll im Gang. Wenn wir die besten verfügbaren Standards und Labels breit umsetzen würden, wie sie die öffentliche Hand für eigene Bauten gemäss dem «Gebäudestandard 2019.1» verlangt, könnten wir weitere wichtige Schritte im Betrieb vorankommen. Die letzten Schritte betreffen nun allerdings die Dekarbonisierung des Bereichs «Erstellung von Gebäudepark und Infrastruktur». Dies ist jetzt anzugehen; nur mit Effizienz allein lässt sich Netto-Null nicht erreichen.
 

TEC21: Was braucht es dazu?

Katrin Pfäffli: Um in Richtung Klimaneutralität oder Netto-Null zu bauen, gibt es bereits einen starken Hebel. Wir können Gebäude für den emissionsfreien Betrieb optimieren und bis 70 % aller Treibhausgase im heutigen Gebäudepark der Schweiz eliminieren. Das sollten wir dringend tun, auch wenn es im Einzelfall durchaus kompliziert sein kann. Bewährte Planungsstandards wie der SIA-Effizienzpfad Energie beweisen, was heute in Sachen Klimaschutz bestens funktioniert. Doch es gibt einen Restaufwand, der ein neues Verständnis von Bauen erzwingt. Wie können wir unseren Gebäudepark und die darin eingelagerten Treibhausgasemissionen im Kreislauf behalten, sodass wir nicht alles ständig neu produzieren müssen? Auf welche emissionsintensiven Baustoffe können wir verzichten? Wie lassen sich Fenster produzieren ohne Treibhausgase? Wie lassen sich also Zement und andere Baustoffe dekarbonisieren?

Heinrich Gugerli: Eigentlich braucht es eine Transformation unseres Wirtschaftssystems. Alle Prozesse müssten vollständig dekarbonisiert werden. In einer vor Kurzem erschienen Studie wurde die Perspektive der Baustoffherstellung für den Zeitraum 2030 bis 2050 untersucht. Unter anderem geht sie von einer durchgehenden Umstellung auf erneuerbare Energien aus. Im Durchschnitt aller untersuchten Baustoffe können die spezifischen Treibhausgasemissionen um fast zwei Drittel gesenkt werden. Die Emssionsbilanz von damit konstruierten Gebäuden reduziert sich um mehr als die Hälfte.


TEC21: Die Zulieferbranche stellt vermehrt klimaneutrale Produkte vor. Ist das keine Hilfe?

Heinrich Gugerli: Effektiv wird «klimaneutraler Zement» angeboten. Doch das Produkt selbst ist nicht CO2-frei hergestellt; seine Treibhausgasbilanz wird anderswo kompensiert. Da die Netto-Null-Bilanz schlussendlich im globalen Massstab aufgehen muss, helfen Kompensationen langfristig nicht weiter. Für eine Bilanzierung von Bauprodukten gemäss den Regeln der Plattform «Ökobilanzen im Baubereich» ist die Berücksichtigung von CO2-Zertifkaten nicht zugelassen. Als klimaneutral gilt ein Produkt nur dann, wenn die Herstellung inklusive vor- und nachgelagerter Prozesse selbst emissionsfrei erfolgt.


TEC21: Kann die Technik andere Wege zu Netto-Null finden?

Heinrich Gugerli: Neben der Umstellung auf erneuerbare Energien wird intensiv an neuen Prozessen in der Baustoffherstellung geforscht. Emissionssenkende Verfahren sind auf dem Reissbrett verfügbar. In Zukunft ist denkbar, dass technische CO2-Senken einen Beitrag zur Netto-Null-Bilanz leisten. Die Industrie wird das CO2nach kontrollierter Emission fest binden und ablagern können.

Katrin Pfäffli: Die Technik kann in Zukunft einiges richten. Aber der grösste Hebel liegt wohl eher in unseren Köpfen: Mit Strategien wie umnutzen statt neu bauen, mehrfach nutzen respektive wieder- und weiterverwenden lassen sich Ressourcen sehr effektiv einsparen. Dazu müssen wir nicht auf die Zukunft hoffen, sondern können heute damit beginnen.


TEC21: Zwischen «Netto-Null» und den Zielwerten im SIA-Effizienzpfad klafft eine Lücke, haben Sie in einem Fachbeitrag  geschrieben. Wie lässt sich diese überwinden?

Heinrich Gugerli: Im Vergleich zu heute ist das Etappenziel des SIA-Effizienzpfads dringlicher zu erreichen und dürfte vermutlich vorgezogen werden, zum Beispiel auf 2040. Damit wollen wir Gewissheit erhalten, dass die Ziele des Effizienzpfads mit heute zur Verfügung stehenden Mitteln erreichbar sind. Die Branche braucht etwas Praktikables in die Hand. Wichtig ist, dass wir den eingeschlagenen Weg konsequent weiter gehen. Wir müssen ja zum Glück «Netto-Null» nicht heute erreichen, obwohl die Zeit angesichts der langen Investitionszyklen im Gebäudepark drängt.
 

TEC21: Wie relevant ist die graue Energie für die heutige Baupraxis?

Katrin Pfäffli: Die Relevanz wird langsam erkannt. Das Merkblatt SIA 2032 hat im Jahr 2010 erstmals die Methodik zur Erfassung von grauer Energie und Treibhausgasemissionen im Bereich Erstellung geklärt. Inzwischen stützen sich viele Standards und Labels auf diese Berechnung. Ich könnte mir vorstellen, dass der Ressourcenverbrauch und die Emissionen im Bereich Erstellung in Zukunft vermehrt auch als behördliche Vorgabe nachgewiesen werden müssen.
 

TEC21: Können sich aus der Revision des Effizienzpfads solche Forderungen ergeben? Braucht es irgendwann einmal gesetzliche Anpassungen?

Heinrich Gugerli: Im Bereich der Betriebsenergie haben Push- und Pull-Faktoren gemeinsam sehr grossen Erfolg, als Zusammenspiel zwischen Best Practice und gesetzlichen Vorschriften. Bei der Erstellung von Gebäuden sind hinsichtlich des Ressourcenverbrauchs noch keine gesetzlichen Vorschriften einzuhalten. Die Vorgaben und die Umsetzungserfahrung aus dem SIA-Effizienzpfad könnten in Zukunft aber durchaus als Basis für eine Regulierung dienen. Limiten für die graue Energie und die Treibhausgasemissionen sind denkbar. Wenn schon ein weitgehender Umbau der Baustoffwirtschaft ansteht, um Netto-Null zu erreichen, müssten Baustoffhersteller eigentlich an langfristigen und klaren Rahmenbedingungen interessiert sein.
 

TEC21: Die Aktualisierung des Leitkonzepts der 2000-Watt-Gesellschaft ist selbst in Fachkreisen kaum zur Kenntnis genommen worden. Wer sind die treibenden Kräfte?

Heinrich Gugerli: Die Initiative stammt vom Bundesamt für Energie; das Amt will damit die Energiestrategie des Bundes und die Verpflichtungen aus dem Pariser Klimaabkommen zusammenführen. Damit wird die Bilanzierung von Städten, Gemeinden und Regionen, Gebäuden und Arealen sowie von Haushalten und Einzelpersonen auf eine einheitliche Basis gestellt und der Umsetzung mehr Schub gegeben. Neben dem SIA und weiteren Wirtschafts- und Interessenverbänden sind grössere Städte mit dabei; die Trägerschaft ist somit breit aufgestellt.

Katrin Pfäffli: Spannend ist, dass das Leitkonzept eine Muster-Charta enthält mit einem verpflichtenden Massnahmenspektrum. Auf diesem Konsens lässt sich die praktische Umsetzung aufbauen.

Heinrich Gugerli: Sie beruht auf der Klima- und Energie-Charta der Städte und Gemeinden, die sich zum Klimabündnis formiert haben. Konkrete Handlungsanweisungen sollen helfen, das Netto-Null-Ziel auf deren Territorien bis 2050 zu erreichen. Die öffentliche Hand soll diejenigen Teilziele, die in ihrem direkten Einflussbereich liegen, aber schon früher umsetzen.
 

TEC21: Solange der Effizienzpfad nicht aktualisiert ist, müssen sich Labels wie die 2000-Watt-Areale quasi mit überholten Planungs- und Berechnungsgrundlagen behelfen. Wie kann man verhindern, dass die Aussagekraft nicht leidet?

Katrin Pfäffli: Ich möchte dezidiert darauf hinweisen, dass der heutige SIA-Effizienzpfad in keiner Weise eine überholte Grundlage darstellt. Im Gegenteil: Wer danach baut, erfüllt das Etappenziel der 2000-Watt-Gesellschaft. Dieses war bisher auf 2050 angesetzt und wird neu früher zu erreichen sein. Das ist ein gewaltiger Schritt in Richtung Netto-Null und genau das, was heute überhaupt möglich ist.

Heinrich Gugerli: Da möchte ich nachdoppeln: Die aktuellen Anforderungen der 2000-Watt-Areale für den Gebäudebetrieb sind die strengsten in der BFE-Gebäudelabelfamilie, zu der der GEAK, Minergie/Minergie-P und SNBS gehören. Wichtig ist, dass der Wille zur Aktualisierung und gegenseitigen Abstimmung vorhanden ist. Sobald der revidierte SIA-Effizienzpfad vorliegt, werden die Anpassungsarbeiten für die 2000-Watt-Areale in Angriff genommen. Interne Revisionsrunden sind nicht neu; Erfahrungen hat man beim Wechsel von der Ausgabe 2011 zu 2017 gesammelt. Aber bis ein aktualisierter Effizienzpfad verfügbar ist, vergehen voraussichtlich zwei oder mehr Jahre. Zur Überbrückung plant die Trägerschaft des Arealzertifizikats eine Zusatzregel. Demnach wird als ergänzend zu den Bilanzwerten für Wärme und Strom eine Versorgung zu 100 % aus erneuerbarer Energie verlangt.
 

TEC21: Sie sagen, Netto-Null ist bei der Erstellung von Gebäuden noch nicht machbar. Mit der genannten Zusatzregel für 2000-Watt-Areale wird zumindest Netto-Null im Betrieb zwingend verlangt. Wie gross ist die Herausforderung dafür?

Heinrich Gugerli: Die Zusatzregel verlangt nicht nur eine fossilfreie Wärmeerzeugung im Gebäude, worauf sich zum Beispiel das nationale CO2-Gesetz im Entwurf oder die Minergie-Standards beziehen. Hier geht es auch um Emissionen von Kraftwerken und Fernwärmewerken, aus denen die konsumierte Energie stammt. Gerade wenn wir bestehende oder sich im Aufbau befindliche Wärmenetze betrachten, ist die Regel «100 % erneuerbar» nicht immer einfach umsetzbar. An einigen Orten ist die Fernversorgung auf ein zusätzliches, fossiles Redundanzsystem angewiesen. Einige Areale, die das 2000-Watt-Zertifikat besitzen, können die Versorgungssicherheit vor Ort effektiv erneuerbar organisieren.

Katrin Pfäffli: Die Herausforderung, alle Nah- und Fernwärmenetze auf erneuerbar umzustellen, ist effektiv gross. Allerdings sind auch hier die Fortschritte gross: Vor zehn Jahren lag die erneuerbare Quote im Schnitt erst bei 60 %; inzwischen stieg sie auf 80 bis 90 %. Zwar kann der einzelne Gebäudebesitzer mit einem Label wenig Einfluss darauf nehmen. Doch Energieversorger und die Gemeinden scheinen sich dafür zu engagieren.

Heinrich Gugerli: 2000-Watt-Areale haben eine relevante Grösse, um den lokalen Energiemarkt zu bewegen. An verschiedenen Orten pflegen Bauinvestoren und Energieversorger eine gute Zusammenarbeit und bringen die Entwicklung neuer Wärmeprodukte inzwischen voran, über die Arealgrenzen hinaus.

Zum Thema siehe auch «Mit dem SIA-Ef­fi­zi­enz­pfad En­er­gie in Rich­tung «Net­to-Null»»

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