Mit dem SIA-Ef­fi­zi­enz­pfad En­er­gie in Rich­tung «Net­to-Null»

Der SIA-Effizienzpfad Energie ist der erste Gebäudestandard, der Zielwerte für den Treibhausgasausstoss definiert. Dazu sind die Bereiche Erstellung, Betrieb und induzierte Mobilität zu bilanzieren. Um das vom Bundesrat beschlossene «Netto-Null-Ziel» zu spiegeln, will der SIA nun sein Planungsinstrument zum 2000-Watt-kompatiblen Bauen aktualisieren.

Publikationsdatum
04-11-2020
Katrin Pfäffli
dipl. Architektin ETH SIA, Nachhaltigkeitsberaterin, Mitglied der SIA Kommission 2040

Der SIA führte 2011 den Gebäudestandard «SIA-Effi­zienzpfad Energie» ein und formulierte im Merkblatt SIA 2040 dafür Zielwerte für die Treibhausgasemissionen aus den Bereichen Erstellung, Betrieb und Mobilität. Anlass war die Erkenntnis, dass der Gebäudebereich massgeblich zum Klimaschutz beitragen kann. Aus­serdem verknüpft der Effizienzpfad die Reduktionsziele der 2000-Watt-Gesellschaft mit heute zur Verfügung stehenden emissionsarmen Bau-, Energie- und Mobilitätssystemen.

In der Zwischenzeit hat der Souverän die nationale Energiestrategie 2050 gutgeheissen; der Bundesrat beschloss seinerseits das Klimaziel 2050, in der Absicht, die Bilanz der inländischen Treibhausgase auf «Netto-Null» zu senken.1 Das erhöht die Dringlichkeit in der Klimafrage und stellt sowohl den SIA-Effizienzpfad als auch die 2000-Watt-Gesellschaft vor eine neue Herausforderung. Im Vergleich zu den bisherigen Vorgaben der 2000-Watt-Gesellschaft ist der Absenkpfad deutlich zu verschärfen.

Das Leitkonzept 2000-Watt-Gesellschaft ist aktualisiert

Ein erster wichtiger Schritt ist getan: Das Bundesamt für Energie (BFE) und die Programmleitung von «EnergieSchweiz für Gemeinden» haben das «Leitkonzept für die 2000-Watt-Gesellschaft 2020»2 veröffentlicht; es passt das bisherige 2000-Watt-Bilanzierungskonzept an die neuen klimawissenschaftlichen Erkenntnisse und aktuellen energie- und klimapolitischen Rahmenbedingungen an.

Die Hauptziele, die bis 2050 zu erreichen sind, lauten:

  • Treibhausgasausstoss: «Netto Null» statt bisher 2 t CO2 äq. pro Person und Jahr;
  • gesamte Primärenergie (Dauerleistung): 2000 Watt pro Person statt bisher 3500 W/P;
  • Energieversorgung Schweiz: 100 % erneuerbare Energieträger.   


SIA-Effizienzpfad: schon bisher ambitioniert

Das aktualisierte Leitkonzept für die 2000-Watt-Gesellschaft bildet zusammen mit den Ökobilanzdaten im Baubereich3 die Grundlage für eine Bilanzierung auf unterschiedlichem Massstab: von Einwohnerinnen und Einwohnern zum Haushalt; von Gebäude und Arealen bis zu Gemeinden und Städten. Der SIA trägt diese Aktualisierung mit und beteiligt sich an der Umsetzung mit dem «SIA-Effizienzpfad Energie» auf Stufe Gebäudebereich.

Auf diesem Instrument baut auch das Label «2000-Watt-Areal» auf. Letzteres gehört zur BFE-Labelfamilie und bezieht sich auf grössere Siedlungsgebiete. Auch hier ist zu prüfen, wie sich die verschärften Zielpfade des Leitkonzepts in die Umsetzungsinstrumente integrieren lassen.

Die Zielwerte des SIA-Effizienzpfads sind bereits enorm ambitioniert. Die Version gemäss Merkblatt SIA 2040, Ausgabe 2017, verlangt die Reduktion der Treibhausgasemissionen um etwa einen Faktor 4 – im Vergleich zur Bilanz des Gebäudebestands von 2010 über alle Bereiche Erstellung, Betrieb und Mobilität.

Trotz umfassendem Bilanzierungssystem und unter ausschliesslicher Anwendung heutiger Technologien sind die Ziele erreichbar. Dazu tragen die drastischen Verbesserungen in der Nutzungsphase der Gebäude weitgehend bei: 2000-Watt-kompatible Neubauten stossen im Betrieb höchstens ein Zwölftel der Treibhausgase aus, verglichen mit dem Gebäudebestand 2010. Die Reduktionswirkung ist im Vergleich zu anderen Gebäudestandards und zur BFE-Labelfamilie einzigartig.4

In der gesamtheitlichen Betrachtung kann dennoch «nur» eine Reduktion um Faktor 4 erreicht werden; weitere Potenziale im Bereich Erstellung sind gegenwärtig noch beschränkt. Der 2000-Watt-Richtwert lässt sich mit kompakter Gebäudeform, einfachem Tragkonzept, ressourcenschonender Bauweise und Materialisierung am ehesten erreichen. Dadurch reduziert sich der spezifische Treibhausgasausstoss im besten Fall immerhin um 25 %5. Für das Netto-Null-Ziel reicht das jedoch nicht.

Auch für den Bereich Mobilität verlangen die Richtwerte des SIA-Effizienzpfads eine deutliche Reduktion der Treibhausgasemis­sionen. Theoretisch und technisch möglich wäre eine nahezu treibhausgasfreie Fortbewegung. Allerdings ist das Reduktionspotenzial bei der Herstellung von Fahrzeugen und der Bereitstellung der Verkehrsinfrastruktur bisher ebenso beschränkt wie bei der Erstellung von Gebäuden.

Ist Netto-Null möglich?

Eine dringlichere Senkung der Treibhausgasemissionen gemäss dem aktualisierten 2000-Watt-Leitkonzept bedingt eine allfällige Verschärfung der Zielwerte und wohl auch eine Verkürzung des Zielhorizonts. Ein einzelnes Gebäude oder ein Areal kann zwar das bisherige, ambitionierte Etappenziel bereits heute umsetzen, wie zahlreiche ­Beispiele beweisen, die nach den Zielwerten des SIA-Effizienzpfads geplant oder als «2000-Watt-Areal» zertifiziert sind.

Bleiben wir aber realistisch: Wenn wir das bestehende Etappenziel für 2050 neu zehn oder vielleicht 15 Jahre vordatieren, wird bis dahin erst ein Bruchteil des Gebäudebestands umfassend saniert oder neu gebaut. Die Erneuerungsrate ist um ein Vielfaches zu klein, um den Gebäudebestand nur schon auf das heutige Etappenziel des SIA-Effizienzpfads zu bringen. Zudem gilt: Gebäude, die heute neu gebaut oder umgebaut werden, sind bis 2050 hoffentlich immer noch in Betrieb. Sie müssten also nicht nur das Etappenziel erreichen, sondern bereits auf das Ziel «Netto-Null» vorbereitet sein.

Herausforderung: Dekarbonisierung der Baustoffe

Angenommen, wir könnten die heutigen technischen Möglichkeiten weitgehend ausschöpfen: Gebäude lassen sich ab sofort konsequent erneuerbar betreiben, und Treibstoffe für die Mobilität wie Benzin, Diesel und Erdgas gehörten der Vergangenheit an. Den Löwenanteil der rest­lichen Treibhausgase stösst dann nicht mehr der Betrieb von Gebäuden und Fahrzeugen aus, sondern deren Produktion, Errichtung, Rückbau und Entsorgung. Nur: Gebäude, Fahrzeuge oder Verkehrsinfrastruktur zu bauen, ohne dabei Treibhausgase freizusetzen, ist heute schlicht nicht möglich.

Für eine treibhausgasfreie Gebäudeerstellung müssen wir radikal neu denken. Architekturschaffende der Gruppe Countdown 20306 sprechen von der «Neuerfindung der Moderne». Ihnen ist bewusst, dass gewohnte Materialien und Bauweisen auf den Prüfstand gehören. Dar­aus ergeben sich völlig «neue Entwurfs- und Gestaltungskonzepte, sowohl im Massstab des Gebäudes als auch in dem der Stadt».

Konsequentes Weiter- und Wiederverwenden von Bauteilen und Gebäuden verlangt nach einer neuen Wertschätzung des Bestands als Lagerstätte für Treibhausgase. Gebäude und Bauteile im Kreislauf zu halten anstatt sie zu entsorgen, kann die Entwurfsprozesse auf den Kopf stellen und etablierte Wertschöpfungsketten verändern.

«Netto-Null» im Bereich Erstellung wird so zur Herausforderung für die nächsten Jahrzehnte. Die Bauwirtschaft hat die Potenziale für eine Reduktion von «grauen» Treibhausgasemissionen zwingend auszuschöpfen. Neben der Gebäudekonzeption geht es um eine Weiterentwicklung bekannter Baustoffe7 und um neue, emissionsfreie Baumaterialien.

Revision: SIA-Effizienzpfad

Der SIA stösst die Revision des SIA-Effizienzpfads Energie mit einer Spurgruppe an. Die offenen Fragen sind benannt; eine grosse Herausforderung ist, dass das Netto-Null-Ziel mit den heute zur Verfügung stehenden Technologien, Baustoffen, Konstruktionen und Verkehrsinfrastrukturen noch nicht erreichbar ist, im Gegensatz zum bisherigen Etappenziel der 2000-Watt-Gesellschaft. Die Kommission SIA 2040 setzt
sich für die Revision zudem das Ziel, die bewährten Qualitäten des SIA-Effizienzpfads zu erhalten.

Obwohl wir das Netto-Null-Ziel noch nicht erreichen, erhöht sich die Dringlichkeit für die Umsetzung der Effizienzpfad-Zielwerte: Gehen wir den eingeschlagenen Weg konsequent weiter, tun wir damit gewaltige Schritte in die richtige Richtung. Und wie bisher gilt, das jeweils Bestmögliche zu realisieren. Die Herausforderung darf gross sein, aber sie muss bewältigbar bleiben.

Die Treibhausgasemissionen sind wie bis anhin umfassend zu betrachten, ebenso wie der Lebenszyklus von Gebäuden und Arealen inklusive induzierter Mo­bilität. Unterschiedliche Umsetzungswege und vielfältige architektonische Lösungen mit «Netto-Null»-Bilanz sollen möglich bleiben. Die anstehende Revision des Effizienzpfads wird diese Themen mit der notwendigen Konsequenz und der gebotenen Sorgfalt angehen. Dass das bisherige Merkblatt im Lauf der Revision voraussichtlich zu einer Norm aufgewertet wird, unterstreicht die Bedeutung dieses In­struments.

Zum Thema siehe auch das Interview mit den beiden Autoren: «Net­to-Null ist heu­te noch nicht er­reich­bar»


Anmerkungen


1 Klimaziel 2050, Bundesamt für Umwelt 2020.


2 Leitkonzept für die 2000-Watt-­Gesellschaft, EnergieSchweiz 2020; www.local-energy.swiss


3 Ökobilanzdaten im Baubereich, KBOB, eco-bau, IPB 2016; www.kbob.ch / www.eco-bau.ch


4 Vergleichende Analyse der energe­tischen Gebäudebewertung der vier Standards der BFE-Gebäude­label-­Familie, BFE 2019.


5 Dokumentation D0258, Ergänzungen und Fallbeispiele zum Merkblatt SIA 2040:2017


6 www.countdown2030.ch


7 LCA of climate-friendly construction materials, EnergieSchweiz, Amt für Hochbauten Stadt Zürich 2020.

Tags

Verwandte Beiträge