Rüc­k­bau wird zur Op­tion

Das Bundesgericht stützte den Entscheid der Gemeinde Weggis, die Nutzung von fünf Liegenschaften zu verbieten, um deren Bewohner vor abstürzenden Felsblöcken zu schützen. Droht nun eine Rückbauwelle?

Data di pubblicazione
17-03-2016
Revision
25-05-2016

Nach dem schadensreichen Unwetter 2005 liess die Luzerner Gemeinde Weggis ihre Gefahrenkarte überarbeiten. Die Parzellen in der «Horlaui», einem steilen Gebiet, das im oberen Teil durch 20 m hohe Nagelfluhbänder begrenzt wird, kamen aufgrund der Steinschlag- und Felssturzgefahr in die rote Zone zu liegen – dies bedeutet eine erhebliche Gefährdung für Personen sowohl ausserhalb als auch innerhalb von Gebäuden. Aufgrund umfassender Studien empfahlen Fachleute eine Aussiedlung der fünf betroffenen Liegenschaften bis 2019 (vgl. Bild).

Im Frühjahr 2014 spitzte sich die Situation zu. Vertiefte Abklärungen veranlassten den Gemeinderat, unverzüglich zu handeln. Die Behörde verfügte unter Anwendung des Polizeinotrechts im Juni 2014 ein Betretungs- und Nutzungsverbot für fünf Liegenschaften per 1. August 2014. Ebenso ordnete sie einen Rückbau der Liegenschaften an (vgl. TEC21 17–18/2015)

Ausreichende gesetzliche Grundlage

Gegen diese Entscheide reichte einer der fünf Eigentümer Beschwerde ein. Das Kantonsgericht lehnte diese ab, worauf der Eigentümer das Bundesgericht anrief. Dieses bestätigte im Juli 2015 das Urteil des Kantonsgerichts. Die Gemeinde habe ihren Entscheid auf solide Grundlagen abgestützt. Es seien verschiedene Varianten geprüft worden, und der vom Gemeinderat getroffene Entscheid sei nicht nur von den beigezogenen Experten empfohlen, sondern auch durch die zuständigen Stellen von Kanton und Bund gestützt worden.

Weiter hatten die Gerichte die Frage zu prüfen, ob Grundrechte verletzt wurden, insbesondere die in der Verfassung verankerte Eigentumsgarantie. Dabei galt es zu beurteilen, ob die Entscheide des Gemeinderats sich auf eine hinreichende gesetzliche Grundlage abstützten, diese im öffentlichen Interesse lagen und verhältnismässig waren. Die gesetzliche Grundlage besteht gemäss den Ge­richten im kantonalen Planungs- und Baurecht (PBG). Es schreibt vor, dass Bauten die für ihren Zweck notwendige Sicherheit erbringen müssen und so zu erstellen und unterhalten sind, dass weder Menschen noch Sachen gefährdet werden.

In Gebieten, in denen ­Rutsch- und Steinschlaggefahr besteht, dürfen grundsätzlich keine Bauten erstellt werden, und Ausnahmen fallen nur in Betracht, wenn hinreichende Sicherungsvorkehrungen getroffen werden. Auch für das ausgesprochene Betretungs- und Nutzungsverbot besteht eine Grundlage im erwähnten Gesetz, wonach die ­Gemeinde die Benützung von Räumen zu verbieten hat, wenn eine solche gesundheitschädigend oder mit Gefahr verbunden ist. 

Das Kantonsgericht hält fest, dass der Schutz von Personen im öffentlichen Interesse liegt und grundsätzlich einen schweren Eingriff in die Eigentumsgarantie rechtfertigen kann. Das Bundesgericht spricht sogar von einem gewichtigen öffentlichen Interesse. Das primäre Ziel aller von der Gemeinde veranlassten Massnahmen sei der Schutz der sich im Gebiet aufhaltenden Personen vor Stein- und Blockschlag, Felsstürzen und spontanen Rutschungen.

Dass dabei auch finanzielle Erwägungen im Sinn einer Kosten-Nutzen-Betrachtung mitberücksichtigt worden seien, sei zulässig, solange dies nicht allein ausschlaggebend sei. Die Massnahmen sind gemäss den Gerichten zudem verhältnismässig, weil sie für die Betroffenen zumutbar sind und mildere Anordnungen nicht ausreichten, um das Ziel zu erreichen.

Solide Abklärungen sind unerlässlich

Die Verantwortlichen für die Naturgefahren beim Bafu begrüssen den Entscheid der Gerichte; sie sehen den eingeschlagenen Weg beim Integralen Naturgefahren-­Management bestätigt. In konfliktträchtigen Situatio­nen sei es aber unerlässlich, die Entscheide auf fundierte Grundlagen abzustützen, sagt Arthur Sandri von der Abteilung Gefahrenprävention. Hier seien Gemeinden, Kantone und zuständige Projektingenieure gefordert. Kosten-Nutzen-Aspekte müssten in die Planung einfliessen, bei der Wahl der Massnahmen dürfe man aber nicht nur ökonomisch argumentieren (vgl. «Mehr als ein Fünftel der Bauzonen sind gefährdet»)

Ähnliche Schlüsse zieht auch Albin Schmid­hauser, der Leiter der Abteilung Naturgefahren bei der Dienststelle für Verkehr und Infrastruktur des Kantons Luzern. Die etablierte Methodik der Gefahrenbeurteilung müsse nach bestem Stand des Wissens und der Technik angewandt werden. Hätten die Gerichte die gesetzlichen Grundlagen für die getroffenen Entscheide als ungenügend beurteilt, stünde man nun vor einem Problem. Schmidhauser hält es für denkbar, dass künftig vermehrt die Möglichkeit einer Aussiedlung und eines Rückbaus erwogen wird.

Er verweist auch auf die eidgenössische Waldverordnung, in der Artikel 17 festhält, dass die Sicherung von Gefahrengebieten auch die Verlegung gefährdeter Bauten und Anlagen an sichere Orte umfassen kann. Eine wichtige Rolle spielte auch die Gebäudeversicherung Luzern (GVL). Es stellte sich die Frage, ob eine Versicherungsleistung ausbezahlt werden kann, obwohl noch gar kein physischer Schaden eingetreten ist. «Wir entschieden, dass dieser Fall gleich zu behandeln ist wie ein Elementarereignis und die Besitzer für ihre nicht mehr nutzbaren Häuser zu entschädigen sind», sagt Peter Sidler, Abteilungsleiter Versicherungen der GVL.

Dabei stützte man sich auf einen Praxishinweis des Interkantonalen Rückversicherungsverbands ab (vgl. Kasten). Dass eine Gemeinde allzu schnell zu solchen Massnahmen greife, weil die Versicherung einen grossen Teil der Kosten übernehme, glaubt Sidler nicht. «Eine Behörde verfügt ein dauerhaftes Betretung- und Nutzungsverbot sowie den Rückbau einer Liegenschaft nicht leichtfertig», ist er überzeugt. 

Dass der Gemeindeexekutive der Entscheid nicht leicht gefallen sei, bestätigt Baptist Lottenbach, der Gemeindeammann von Weggis und in dieser Funktion für die Naturgefahren zuständig. Entscheidend seien die Unterstützung der Fachstellen von Kanton und Bund sowie die vertrauensvolle Zusammenarbeit mit den ­beteiligten Geologen und Ingenieuren gewesen. «Wir sind sehr erleichtert, dass unser Vorgehen durch das höchste Gericht der Schweiz gestützt worden ist», sagt Lotten­bach. Noch wichtiger sei aber, dass die Situation in der Horlaui nun bereinigt sei.


Gebäudeversicherungen

Die Gebäudeversicherung Luzern (GVL) profitierte von den Vorarbeiten des Interkantonalen Rückversicherungsverbands (IRV), in dem die kantonalen Gebäudeversicherungen zusammengeschlossen sind.

«Als der Fall in der Horlaui sich zuspitzte, hatten wir eben ein Projekt ab­geschlossen, dass sich genau mit dieser Frage beschäftigte», sagt Alain Marti vom IRV. Das Ergebnis war der Praxishinweis Nr. 5 «Vorzeitige Erbringung von Versicherungsleistungen». Dieser hält fest, dass vier Voraussetzungen kumulativ erfüllt sein müssen:

  • Ein drohender Schadenprozess tritt mit überwiegender Wahrscheinlichkeit ein und führt zur Zerstörung.
  • Es liegt ein dauerhaftes, ganzjähriges Nutzungsverbot aufgrund akuter Personengefährdung vor.
  • Der Gebäudeschaden ist unabwendbar, verhältnismässige Präventionsmassnahmen sind nicht möglich.
  • Der Abbruch bzw. der Rückbau ist sichergestellt.

In Weggis kam diese Regelung zum ersten Mal zur Anwendung. Laut Marti gab es in der Schweiz bereits mehrere gleich gelagerte Fälle, bei denen Gebäude zurückgebaut wurden. Wie die Gebäudeversicherungen damit umgehen sollten, war aber unklar. Man habe deshalb eine Lösung für Fälle anbieten wollen, in denen in Gang gekommene und unabwendbare Natur­gefahrenprozesse mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit zu einem Schaden führen. Und weil die Kriterien streng seien, bestehe kaum das Risiko, dass die Gemeinden sich vor der Aufgabe drückten, ihr Gebiet vor Naturgefahren zu schützen, und den Schwarzen Peter einfach an die Gebäudeversicherungen weiterreichten.

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