Die Ka­pa­zi­tät ei­ner Röh­re in zweien

Die zweite Röhre des Gotthard-Strassentunnels lag lange auf Eis. Nun wird sie bis 2029 gebaut und soll die erste während deren Instandsetzung ersetzen. Im Anschluss folgt getrennter Richtungsverkehr dank beider Röhren, allerdings nur einspurig. 2.14 Milliarden Franken werden für den neuen Tunnel in die Hand genommen, aber das Nadelöhr bleibt weiter bestehen.

Data di pubblicazione
23-03-2022

Im Gotthard – dem oft Durchlöcherten – findet sich noch immer etwas Gestein, das zur Durchörterung taugt. Und eine Idee, was man dort einbauen könnte, findet sich ebenfalls – wenn diese auch nicht mehr ganz taufrisch ist: etwa eine zweite Röhre für den Strassenverkehr als Ergänzung des Gotthard-Strassentunnels, der 1980 eröffnet wurde.

Ursprünglich noch als Einzelstollen geplant, wurde dem Projekt noch ein Service- und Infrastrukturstollen einverleibt, der selbstverständlich auch als Sicherheitsstollen fungiert. Überlegungen, diesen zu einem späteren Zeitpunkt in eine zweite befahrbare Röhre umzuwandeln, gab es damals schon.

Nun aber, seit 2020, wird an einer separaten zweiten Röhre gearbeitet, 40 Jahre nach der Inbetriebnahme der ersten. Dass die Umsetzung zum jetzigen Zeitpunkt erfolgt, ist beileibe keine Selbstverständlichkeit – scheiterten doch Überlegungen oder Initiativen für eine zweite Röhre schon seit Jahrzehnten. Es brauchte tatsächlich gar eine Gesetzesänderung, um das Projekt auf den Weg zu bringen: Artikel 84 der Schweizerischen Verfassung, der sogenannte Alpenschutzartikel, schliesst eine Kapazitätserweiterung der Transitrouten für den Strassenverkehr aus. Um einer solchen Erweiterung vorzubeugen, wurde 2016 die ­«Änderung des Bundesgesetzes über den Strassentransit­verkehr im Alpengebiet» umgesetzt. Hierin ist eine einspurige Führung des Verkehrs im Gotthardtunnel verankert, auch wenn zwei Fahrstreifen in jeder Röhre vorhanden sein werden.

Entsteht also ein neuer Prachtbau, der aber auf den Verkehr beziehungsweise die Staus kaum Auswirkungen haben wird? Die einfache Rechnung von Projekt­gegnern – ob sie wahr ist, sei dahingestellt –, «2 Röhren = 2 × so viele Lastwagen», muss also eher umgemünzt werden in «2 Röhren = Staus wie bisher». Aber wer steht am Gotthard eigentlich im Stau beziehungsweise wer würde in erster Linie von einem verbesserten Verkehrsfluss an diesem Nadelöhr profitieren?

Im Transport ist nicht der Weg das Ziel

Der Bau der ersten Röhre in den 1970er-Jahren fiel in eine Zeit, in der noch viel dem Automobil untergeordnet wurde. Die Alpen wurden massentauglich ausgebaut, was man an den Daten der Eröffnungsfeiern einiger wichtiger Strassenverbindungen nachvollziehen kann: Den Anfang machte der Grosse St.-Bernhard-Tunnel 1964 als erster für den Strassenverkehr freigegebener, alpenquerender Tunnel, 1965 folgte der Mont-Blanc-Tunnel, der Felbertauerntunnel 1967, 1974 dann die Eröffnung der Brennerautobahn und 1975 der Tauerntunnel in Österreich und 1980 mit dem Gotthard-Strassentunnel zeitgleich der Mont-Cenis-Strassentunnel (Fréjus-Tunnel).

Die Route durch den Gotthard nimmt bis heute nicht nur schweizweit eine Sonderstellung ein. Die kürzesten Wege durch die Alpen zwischen den nördlichen und den südlichen Wirtschaftszentren führen entweder durch den Gotthard oder über den Brenner. Der San Bernardino kann zwar routentechnisch hier noch mitspielen, aufgrund des weniger starken Ausbaus ist er gegenüber den beiden Giganten jedoch schon von untergeordneter Bedeutung. So wurden 2019, noch vor der Pandemie, über seine Strasse 1.5 Mio. Nettotonnen Güter bewegt, während der Gotthard 7.43 Mio. Nettotonnen aufwies. Der Brenner mit seinen 39.9 Mio. Nettotonnen bleibt stras­sentechnisch allerdings unangefochten (vgl. TEC21 20/­2018, «Bauwerk Europas: Der Brenner Basistunnel»).

Die französischen Strassentunnel Fréjus und Mont Blanc wickeln jeder für sich etwa die Grössenordnung der gesamten Schweiz (10.2 Mio. Nettotonnen) an strassengebundenem Transitgut ab, allerdings decken diese ein anderes Einzugsgebiet der Güterströme ab, da ihre Ausrichtung westlicher ist. Ein Umweg eines LKW, der etwa von Frankfurt nach Mailand fährt, macht durch den Fréjus keinen Sinn. Von Paris nach Mailand sieht dies schon anders aus. Letztlich ist es eine wirtschaftliche Frage.

Eine neue Röhre für die Fracht?

Dem Gütervolumen von 2019 entsprachen 643 000 Fahrten schwerer Strassengüterfahrzeuge durch den Gotthard-Strassentunnel. Zwei Drittel davon entfielen auf ausländische Fahrzeuge. Über alle vier schweizerischen Alpenübergänge waren es insgesamt 898 000 Fahrten.

Dies bedeutet eine durchschnittliche tägliche Verkehrsstärke (DTV) von etwa 2300 LKW durch den Gotthardtunnel. Diese haben ungefähr 13 % Anteil, sodass insgesamt ca. 17 500 Kraftfahrzeuge täglich durch den Gotthardtunnel rollen. Diese Zahlen sind für beide Richtungen zusammen, das heisst, in jeder Fahrtrichtung halbieren sie sich etwa.

Betrachtet man nun andere lange einröhrige Alpentunnel, die im Gegenverkehr betrieben werden, bemerkt man gravierende Unterschiede: Vergleichbar sind etwa der Fréjus-Tunnel und der Mont-Blanc-Tunnel mit Längen von 12.8 km beziehungsweise 11.6 km.

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Beide haben ein höheres Frachtaufkommen als der Gotthard (Fréjus 11.6, Mont Blanc 9.5, Gotthard 7.3 Mio. Nettotonnen im Jahr 2019) und somit auch mehr Schwerverkehr. Im Fréjus–Tunnel beträgt der Anteil an LKW mehr als die Hälfte der Fahrzeuge. Der Anteil an Personenwagen aber ist signifikant geringer als am Gotthard. Fahren durch die beiden französischen Tunnel etwa 1.8 bis 2 Mio. Fahrzeuge pro Jahr, sind es im Gotthard ungefähr 6.4 Mio.

Zurückführen lässt sich dies auf drei wesentliche Faktoren: Der Gotthardtunnel ist durch die Autobahnvignette abgedeckt und für PKW sehr günstig, während die beiden anderen Tunnel teuer sind. Eine PKW-Fahrt durch den Mont-Blanc-Tunnel kostet hin und zurück etwa 60 Euro. Ein kurzer Trip als Ausflügler auf die andere Seite schreckt daher eher ab. Zudem sind die französischen Tunnel bei Weitem nicht derart von Berufspendlern vereinnahmt, wie das beim Gotthard der Fall ist. Es arbeiten einfach viele Tessiner in der Nordschweiz. «Das Geld sitzt in Zürich», könnte man sagen, was wiederum auch Auswirkungen auf den pendelnden Ausflugsverkehr hat. Die Zweitwohnsitze und wochenendbenutzten Rustici im Tessin ziehen selbstverständlich Pendelverkehr nach sich. Im Jahr 2000 gab es im Tessin über 45 000 zeitweise bewohnte Wohnungen, was ungefähr 24 % am gesamten Wohnungsbestand ausmachte. Und letztlich ist der Gotthard natürlich eine der grossen Einfallschneisen für Touristen, die nach Süden und wieder zurück streben. Dies zeigt sich deutlich an den übermässigen Auslastungen und Staustunden vor allem in den Ferienmonaten.

Zwei Dinge lassen sich aus dem oben Angeführten folgern: Verglichen mit anderen Alpentunneln ist eine zweite Röhre am Gotthard sinnvoller als anderswo überhaupt. Der Fréjus-Tunnel erhält übrigens eine zweite Röhre. Das Projekt eines Sicherheitsstollens wurde während der Planung angepasst, sodass Letzterer als zweite Strassenröhre umgesetzt wird. Frühestens 2022 wird es dann dort getrennten Richtungsverkehr geben. Und: Die zweite Röhre des Gotthard-Strassentunnels wird nicht in erster Linie, wie oftmals befürchtet, für den ausländischen Transitverkehr gebaut. Die Verkehrszahlen sprechen eine andere Sprache.

Tropfenweise in den Tunnel

Nun lässt sich natürlich auch der Standpunkt vertreten, dass die jetzige Situation am Gotthard ausreichend ist. Das Tropfensystem, das man nach den grossen Tunnelbränden um die Jahrtausendwende (Mont-Blanc–Tunnel und Tauerntunnel 1999, Gotthardtunnel 2001) eingeführt hat, hat seine Funktion unter Beweis gestellt: LKW werden im Schwerverkehrszentrum in Erstfeld von der Autobahn abgeleitet, stichprobenartig werden Fahrzeuge für eine Kontrolle ausgewählt. Alle Fahrzeuge dürfen aus rechtlichen Gründen nicht kontrolliert werden. Im Zentrum gibt es einen mehrstreifigen Stauraum, in dem die Fahrzeuge warten müssen, bis sie die Freigabe zur Weiterfahrt in Richtung Tunnel erhalten. Dadurch kommt es auf der Anstiegsstrecke nach Göschenen nicht zu Überlastungen durch LKW-Verkehr. Die Tunneleinfahrt wird über eine Ampel geregelt. Die rechte Spur ist für die LKW vorgesehen, PKW fahren auf der linken Spur bis vor das Tunnelportal. Die Ampel lässt nun LKW beziehungsweise PKW tropfenweise und in Abständen in den Tunnel fahren. Dadurch werden nötige Sicherheitsabstände im Tunnel von Anfang an herbeigeführt. 150 m Abstand müssen die LKW halten, auch im Fall eines Staus. Nach knapp 15 Minuten erreichen so die Fahrzeuge wieder das Tageslicht unter südlicherer ­Sonne in Airolo. Das Schwerverkehrszentrum hat sich so gut bewährt, dass nun ein Gegenüber auf der Süd­seite bei Giornico kurz vor der Eröffnung steht.

Ist das Schwerverkehrszentrum und das Tropfensystem bereits ein hoher Sicherheitsgewinn für die Befahrung des Tunnels, wird die zukünftige getrennte Richtungsführung ihr Übriges dafür tun.

Die ausführliche Version dieses Artikels findet sich in TEC21 9/2022 «Der Längste mal zwei».

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