Auf­bauen oder spren­gen

ETH Forum Wohnungsbau 2017

Konventionen können Orientierung bieten. Sie können aber auch Grenzen setzen. Beim ETH Forum Wohnungsbau 2017, das im März im Kongresshaus Zürich tagte, wurden Überlegungen zur Bedeutung dieses Begriffs für das Wohnen und Bauen in der Gegenwart angestellt. 

Data di pubblicazione
13-04-2017
Revision
20-04-2017

Der geschickte Titel lud bereits im Vorfeld der diesjährigen Tagung zu Spekulationen ein: Ist der Begriff der Konventionen in Stadtentwicklung und Wohnungsbau negativ oder positiv besetzt? Oder sogar überflüssig? Diesen Fragen gingen Fachleute aus Soziologie, Trendforschung, Ökonomie und der theoretischen wie praktischen Architektur in ihren Referaten nach. In Bezug auf langfristige Investitionen sind die Ansprüche des sogenannten Mittelstands von grosser Bedeutung. Gleichzeitig ist mit der Betrachtung von ausdifferenzierten Gruppen und deren Bedürfnissen die Entwicklung der Mehrheit der Gesellschaft aus dem Fokus geraten. Es ist also an der Zeit für eine Analyse als Quelle für aktuelle Informationen.

Nach einer erhellenden Einführung durch die Leiterin des Wohnforums, Dr. Marie Glaser, eröffnete Prof. Dr. Harald Welzer mit einem soziopsychologischen Ansatz den Reigen der Vorträge. Nach seinem Verständnis liegt der Wert der Konventionen in der Schweiz vergleichsweise hoch. Was hier als konventionell gilt, ist in den meisten anderen Ländern Luxus. Problematisch ist das daraus erwachsende Bedürfnis nach Konsumgütern, das zu einer absurden Vermehrung und Vergrösserung von Gegenständen führt.

Von zentraler Bedeutung sei daher die Frage nach der Verbesserung der Lebensqualität an sich. Am Beispiel der Mobilität hiesse das, nicht weiter über die Entwicklung umweltfreundlicher Autos nachzudenken, sondern vielmehr über eine Lebensform, die das Auto weitgehend überflüssig macht. Eine städtebauliche Auswirkung wäre die Demokratisierung von Plätzen und Räumen, sodass die Bewohner sich vermehrt mit ihrer Umgebung, ihrer Heimat identifizieren können und sich dadurch verantwortlich und eingebunden fühlen.

Bedürfnis nach Stofflichkeit

Eine ganz andere Position vertrat Dr. Monika Kritzmöller, deren Forschungsschwerpunkt die alltagsästhetischen Phänomene und Trends bei Strukturen von Textil und Architektur bilden. Beiden Bereichen gemein ist die sinnliche und haptische Wahrnehmung, die den Nutzer an bestimmte Materialien und Handwerkskünste bindet. Anregend in Bezug auf das Tagungsthema war die These, dass erst die Existenz von Konventionen eine Entfaltung von Freiheitsgraden ermöglicht.

ETH-Professor Miroslav Šik ging dem Verlust der sichtbaren Konstruktion eines Hauses nach, so wie es durch das Verkleiden der Fassaden mit Wärmedämmung häufig erzwungen wird. Die ursprüngliche Stofflichkeit der Baumaterialien und die Ablesbarkeit der Statik wirken vertrauensbildend, die gleich machende Putzoberfläche ist hingegen Ausdruck des konventionellen Bauens.

Die damit einhergehende Abstraktion der Architektur kann durch Oberflächengestaltungen, die die darunterliegenden Kraftlinien abbilden, gemildert werden. Šik plädiert dafür, radikale Experimente zu vermeiden und dem Angemessenen und Herkömmlichen mehr Wertschätzung entgegenzubringen. 

Kommunikationsräume

Die gegenwärtigen Konventionen des Wohnens in Peking, wie sie Professor Yung Ho Chang beschreibt, empfindet er als nicht aktzeptabel. Mehrgeschossige Strassen und Hochhäuser prägen das gewöhnliche Stadtbild. Dort, wo die natürliche Erdoberfläche noch erhalten ist, ist der Fussgänger nicht vorgesehen. Wie schon häufig in den vorangegangenen Vorträgen fallen auch hier die Begriffe Nostalgie und Tradition, um zu einer Vorstellung der eigentlichen Bedürfnisse der Menschen zu gelangen.

Gemeinsam mit seiner Partnerin Lijia Lu, mit der er das Büro FCJZ leitet, hat Chang den Masterplans für den Campus von Novartis am Stadtrand von Shanghai entwickelt. Dabei versuchten sie, den Mitarbeitern ein Umfeld zu schaffen, das nicht nur einen Arbeitsplatz bietet, sondern auch einen Lebensraum, wie es ihn im Stadtraum nicht mehr gibt. Mit einem Rückgriff auf traditionell verankerte Wohnformen wie die U-förmigen Hofbauten transponierten sie bekannte, also konventionelle Räume in einen städtebaulichen Massstab.

Zwischen die dicht gesetzten Forschungs- und Laborgebäude, die als in die Höhe gestapelte Raumgruppen mit jeweils individuellen kleinen Höfen zu bezeichnen sind, setzten sie einen von Teehäusern, Cafés und Restaurants gefassten Platz. Es ging ihnen darum, verschiedene Orte für die Kommunkation anzubieten. Innerhalb eines Teils der Bauten, die die Architekten selbst realisieren konnten, verwirklichten sie die gleiche Idee der Mischung von Weg und Aufenthaltsraum, von gemeinschaftlicher und privater Fläche. So bildet eine grosse offene Holztreppe das Zentrum eines Laborgebäudes. Die Podeste sind in Analogie zu den Teehäusern als offene Sitzbereiche gestaltet, sodass die gesamte Treppe als ein belebter Ort der Kommunikation funktioniert.

So gelingt es, den Stadtraum ins Innere der Gebäude hineinzuziehen, und umgekehrt, den menschlichen Masstab der Innenräume in das Umfeld hinaus zu transportieren.

Fehlender Mut

Nach diesen anschaulichen Ausführungen verschaffte Dr. Patrik Schellenbauer, Chefökonom bei Avenir Suisse, einen Überblick über die ökonomischen Entwicklungen der sogenannten Mitte der Gesellschaft. Die Grafiken zeigen eine überraschend statische Situation auf hohem Niveau und verorten die beängstigenden Berichterstattungen zur aufgehenden Schere zwischen Arm und Reich in der Schweiz  in den Bereich angstgesteuerter Prognosen. Er konstatiert den Schweizern einen Hang zur Nivellierung und einer instinktiven Eliteskepsis: Durch den ausgeprägten Wunsch, nicht auffallen zu wollen, halten wir uns gegenseitig im Rahmen des Gewöhnlichen, was uns eine Sicherheit vermittelt und den Wunsch nach Änderung der Konventionen in den Hintergrund rückt.

Gute Provisorien

Die Siedlungspolitik der Stadt München setzt stark auf den Umgang mit dem Bestand. Im kommunalen Wohnungsbauförderprogramm gilt es unter anderem, zu verdichten, zu sanieren und gleichzeitig städtische Grünflächen als Naherholungsgebiete zu erhalten oder sogar zu erweitern. Um Wohnqualität zu schaffen, legt man besonderen Wert auf den Erhalt von öffentlichem Raum als Ort der Begegnung. Eine aktuelle Herausforderung ist die Suche nach kurzfristigen Wohnmöglichkeiten, wie sie die zahlreichen Studenten und die gestrandeten Flüchtlinge brauchen.

Prof. Elisabeth Merk, die dortige Stadtbaurätin, mahnt zum eigenverantwortlichen Handeln, statt mit der Einbindung immer neuer juristischer Erwägungen den Entwicklungsprozess zu hemmen. Um in der schwierigen Situation zwischen Sparzwängen und den Bedürfnissen einer wachsenden Stadt innovative Lösungen aufzuspüren, seien jegliche Konventionen, die Entwicklungen begrenzen, zu hinterfragen.

Der französische Architekt Dominique Perrault reagiert mit anarchistischer Energie auf die immense Dichte der Stadt Paris. Durch die radikale Ablehnung von Boden und Decke als Begrenzung des Wohnens eröffnen sich ihm weite Flächen: Er geht hoch hinaus und vor allem in den Untergrund. Wie schon bei der Bibiothèque Nationale de France 1989 schafft er neue Räume, auch Aussenräume unterhalb der gegebenen Oberfläche, und vernetzt so das unterirdische Transportsystem mit dem städtischen Lebensraum. Für eine neue Erschliessung, wie er es an einem Teil von Schloss Versailles («Zu klein!») realisieren konnte, ist das eine Aufwertung des gebauten Raums.

Ob dies allerdings auch für Aufenthaltsräume gültig wäre, bleibt zu diskutieren. Überzeugend sind diese opulent bebilderten Entwürfe immer dann, wenn es um eine Verlagerung der Oberflächen, um Einschnitte ins Gelände geht. In der «gebauten Landschaft» entstehen Plätze und Wege, die an den seitlichen Schnittflächen von unterirdischen Geschäfts- oder Aufenthaltsräumen flankiert werden. Die Aussenräume bieten Möglichkeiten, Tageslicht und Luft in Bereiche zu lenken, die sonst im Dunklen liegen würden und nicht attraktiv wären.

Prof. Dietmar Eberle, bis 2016 Leiter des Forums Wohnungsbau, stellte abschliessend fest, dass der Begriff der Konventionen nicht präzise zu formulieren sei. Aus den gehörten Thesen lasse sich keine Übereinkunft entwickeln. Die Vorträge kreisten um Themen der Tradition, der Sehnsucht nach einer Vergangenheit, die wir uns als Energie zunutze machen könnten. Das Sprengen begrenzender Konventionen sei immer erhellend. Die Überwindung der Angst vor dem Blick ins Dunkel hält er für vorbildlich, denn 50% aller Investitionen im Städtebau fliessen in Strukturen unter der Erde. Es sei also sinnvoll, hier weiterzudenken: «Vergessen Sie die Siedlung, bauen Sie in der Stadt!»

Weitere Informationen zu den vorangegangenen und dem diesjährigen Tagunsgprogramm mit Links zu den einzelnen Vorträgen finden Sie hier.

 

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