«Wir feiern bald den Hö­he­punkt un­se­rer Ar­beit»

Interview mit Renzo Simoni

Der Gotthard-Basistunnel wird im Juni eröffnet. Mit Renzo Simoni, dem Vorsitzenden der AlpTransit Gotthard, haben wir über die noch zu erledigenden Aufgaben, die Zukunft der Mitarbeitenden und die Weiterverwendung des gesammelten Wissens gesprochen.

Data di pubblicazione
28-04-2016
Revision
25-05-2016

TEC21: Herr Simoni, am 1. Juni 2016 wird der ­G­otthard-­Basistunnel eröffnet. Was ist bis dahin noch alles zu tun? 

Renzo Simoni: Bis Ende Mai 2016 befinden wir uns im Testbetrieb. Insgesamt werden rund 3500 Fahrten mit bis zu 275 km/h durchgeführt. Es finden sowohl dynamische als auch statische Tests statt, ­um das Zusammenspiel aller im Tunnel eingebauten Komponenten in unterschiedlichen Betriebszuständen zu prüfen.

Zudem laufen Fertigstellungs- und In­standsetzungsarbeiten, ausserdem sind Mängel zu beheben. Herausfordernd ist die logistische Koor­dination der verschiedenen Aufgaben. Dabei hilft ein detaillierter Plan für den 24-Stunden-Betrieb: ­Ge­ar­beitet wird in vier Schichten zu sechs Stunden, ­die jeweils für Unterhaltsarbeiten bzw. den Testbetrieb zur Verfügung stehen. Das Ziel ist die Übergabe des betriebsbereiten Tunnels an die SBB am 1. Juni 2016. 

TEC21: Und was geschieht unterdessen vor den Portalen?

Renzo Simoni: Auf den Zulaufstrecken – das heisst auf den Anschlussstrecken im Norden bis Altdorf und im Süden bis Giustizia – sind weitere Anpassungs-, Rückbau- und Rekultivierungsarbeiten fällig. 

TEC21: Das sind zum Beispiel …?

Renzo Simoni: Im Kanton Uri führt die Stammlinie schon seit zwei Monaten über den Bahndamm, der neu das Nordportal des Gotthard-Basistunnels erschliesst. Die bisherige Linie nach Erstfeld kann daher vollständig rückgebaut werden; ebenso der Autobahnzubringer, der die alten Gleise bislang auf einer Brücke überquert. Diese Verbindungsstrasse wird künftig ebenerdig geführt. Derweil sind die Arbeiten ­an der offenen Bahnstrecke grösstenteils beendet. Das Rekultivieren und diverse Instandsetzungen nehmen jedoch noch einige Zeit in Anspruch. 

TEC21: Und im Süden?

Renzo Simoni: Dort dauert das Ganze weniger lang, weil die Verlegung der Stammlinie zwischen Bodio und Biasca bereits erfolgt ist und der Rückbau abgeschlossen ist. Der ehemalige Installationsplatz wird nun rekultiviert. Generell dauern einzelne Pflegemassnahmen und ökologische Ausgleichsmassnahmen, im Süden und im Norden, noch Jahre. Nach der Inbetrieb­nahme der AlpTransit Gotthard sind beispielsweise Neophyten in den neu geschaffenen Biotopen zu bekämpfen, renaturierte Bachbette zu überwachen oder Ausgleichsflächen sachgerecht zu pflegen. 

TEC21: Sind damit die schlaflosen Nächte vorbei?

Renzo Simoni: Es gibt durchaus Themen, bei denen wir Lösungen suchen müssen. So gibt es Bereiche im Tunnel, an denen die segmentierte Fahrleitung für den nahtlosen Übergang über einige Meter doppelt geführt wird. Ein stehender Zug kann hier einen Kurzschluss und Schäden an der Fahrleitung verursachen. Dieses Phänomen hat man im SBB-Netz erst in den letzten Jahren festgestellt. Ein Zug kann an den unmöglichsten Stellen stehen bleiben. Jetzt muss geklärt werden, wie man damit umgeht. 

Zudem beschäftigt uns der reibungslose Einsatz der Software für die Bahnleittechnik. Weiter haben Messfahrten gezeigt, dass der Tunnelfunk ab gewissen Geschwindigkeiten nicht überall qualitativ gleich gut ist. Jetzt muss man baulich nachrüsten. Offene Fragen gibt es auch bei den mobilen Erhaltungstoren, die den Tunnel während der Erhaltungsschichten segmentieren, bei diversen Kühlsystemen und bei den Brandschutzklappen.

Das sind alles Themen, die eigentlich hätten gelöst und erledigt sein müssen, bevor der Testbetrieb begonnen hat. Aber es läuft eben selten so wie im Schulbuch.

TEC21: Erreichen Sie den nächsten Meilenstein wie geplant? 

Renzo Simoni: Es gibt diese fachlich klar erkannten Unzulänglichkeiten. Wir gehen aber davon aus, dass wir den nächsten Meilenstein erreichen. Das ist die Erteilung der Bewilligung des Probebetriebs durch das Bundesamt für Verkehr. Bis zur Übergabe müssen wir die Funktionalität und die Erfüllung der Sicherheitsanforderungen im Tunnel nachweisen. Nur so können wir am 1. Juni dem Bund und den SBB einen betriebsbereiten Tunnel übergeben. Dann beginnt der sechsmonatige Probebetrieb. In dieser Zeit sind erneut diverse Nachweise zu erbringen, damit wir im Dezember fahrplanmässig in Betrieb gehen können. 

TEC21: In der Probephase ist die Federführung bei der SBB?

Renzo Simoni: Das ist so. Unsere Leute arbeiten noch mit, aber die Gesamtverantwortung haben die SBB. Deshalb ist die Übergabe in diesem Juni der Höhepunkt unserer Arbeit, und den feiern wir. Nachher sind wir – salopp gesprochen – weg vom Fenster. 

TEC21: Die AlpTransit Gotthard AG wird in naher Zukunft aufgelöst. Wie ist die Stimmung im Team? 

Renzo Simoni: Man muss unterscheiden: Am Gotthard haben uns viele Mitarbeitende bereits verlassen, weil sie ihren Job erfüllt haben, so etwa Personen, die am Rohbau beschäftigt waren. Die am Ceneri oder für die Bahntechnik tätigen Mitarbeitenden sind so beschäftigt, dass sie sich zurzeit nicht allzu viele Gedanken machen müssen.

Sicherheit gibt jedoch allen unser Programm «Libero» (Programm für Haltemassnahmen, Unterstützung bei Frühpensionierung, Outplacement etc.). Darin sind Funktionen definiert und in einem entsprechenden Prozess den Mitarbeitenden zugeordnet. Wir überprüfen zweimal pro Jahr, wie lang die jeweilige Funktion für das Projekt noch notwendig ist. Stellen wir fest, dass die Funktion einer Person innerhalb von zwei Jahren ab dem Betrachtungszeitpunkt ausläuft, muss der Vorgesetzte ein Standortgespräch führen. In den folgenden zwei Jahren wird dann gemeinsam eine für beide Seiten möglichst gute Lösung gesucht. 

TEC21: Mit welchem Inhalt?

Renzo Simoni: Gemeinsam sind diverse Möglichkeiten erarbeitet worden, abhängig vom fachlichen Hintergrund, von der Lebensphase, dem Alter, den Vorstellungen der einzelnen Person etc. Im Anschluss ver­suchen wir eine Vereinbarung zu treffen, damit diese Person so lang bleiben kann, wie sie benötigt wird. Im Gegenzug kann man etwas anbieten, wie beispielsweise eine Halteprämie oder Unterstützung bei Outplacements oder Frühpensionierungen. Bis heute haben wir rund 30 Vereinbarungen unterschied­lichen Inhalts mit Mitarbeitenden abgeschlossen. 

TEC21: Für die Mitarbeitenden ist also gut gesorgt – aber was passiert mit dem gesammelten Wissen? 

Renzo Simoni: Gemäss Statuten soll die AlpTransit Gotthard AG aufgelöst werden, sobald die Achse Gotthard realisiert ist. Das schliesst den Ceneri mit ein, bezieht sich aber nicht auf die zurückgestellten Elemente. Jetzt ­­ist die Frage, ob es den politischen Willen gibt, dass man unsere Erfahrung andernorts einsetzen möchte. Dazu braucht es die Zustimmung unseres Eigners SBB, aber auch die politische Akzeptanz. Im FABI-Gesetz steht, dass der Bund die SBB oder die Umsetzungsgesellschaften mit der Planung beauftragen kann. Es wird in der Schweiz weitere Tunnelprojekte geben – auch visionäre Projekte wie «cargo sous terrain» stehen im Raum. Dazu bräuchte es Bauherrenorganisa­tionen, die entsprechendes Know-how besitzen. 

TEC21: Dieses Projekt würde Sie reizen?

Renzo Simoni: Klar, das wäre visionär. Auch wenn bei diesem Projekt derzeit sowohl finanziell als auch politisch noch vieles offen ist. 

TEC21: Das Know-how, das während der Realisierung des Gotthard-Basistunnels aufgebaut wurde, interessiert auch heute schon andere Organisationen. Sie sind zum Beispiel Mitglied des Beirats der Projektgesellschaft der Stuttgart-Ulm GmbH der Deutschen Bahn AG. Wie kam es dazu, und was ist Ihre Aufgabe?

Renzo Simoni: Ich wurde aufgrund meiner aktuellen Funk­tion berufen. Ich habe zum Beispiel in Stuttgart unser Risikomanagement vorgestellt, das Modell der Personalmassnahmen oder das Ausschreibungskonzept Bahntechnik – es gibt viele Themen, bei denen ­«Stuttgart 21» von unseren Erfahrungen profitieren möchte. Es freut mich, dass ich meine Erfahrung und mein Wissen von Bauherrschaft zu Bauherrschaft weitergeben kann. In den letzten Jahren wurde in Bezug auf «Stuttgart 21» vieles nicht korrekt dar­gestellt. Aus dem Projekt wird sich zudem eine einmalige städtebauliche Chance ergeben. 

TEC21: Welche Erkenntnisse können Sie weitergeben? 

Renzo Simoni: Was die finanziellen Belange angeht, ist es sinnvoll, bereits ab dem Stadium Kostenschätzung ein Risikomanagement aufzuziehen. Ziel ist, sämt­liche Risiken zu erfassen und diese finanziell abzuschätzen, damit die entsprechenden Risikopuffer vorhanden sind. Das ist nicht einfach. Sobald höhere Investitionskosten absehbar sind, steigt das Risiko, dass ein Projekt politisch scheitert. Wichtig ist auch eine offene Kommunikation. Wenn es beispielsweise um eine offene Linienführung geht, müssen die Interessenspartner vor Ort von Anfang an einbezogen werden. So kann die Opposition schon in einem frühen Stadium gemindert respektive können allseits akzeptierbare Lösungen gefunden werden. 

TEC21: Sie sprechen von der Linienführung im Kanton Uri?

Renzo Simoni: Genau. Der enge Lebensraum in der Urner Reussebene und der Verlauf der Anschlussstrecke wurden intensiv diskutiert und die verschiedensten Nutz- und Schutzinteressen berücksichtigt. Die vertikale Linienführung im Bereich der Schächen­querung hat das Projekt verteuert und viel Zeit gekostet. Es gab intensive politische Auseinandersetzungen. Mit dem Ergebnis, dass man in Erstfeld im nördlichsten Los unterirdisch zwei Abzweiger gebaut hat. Dies ermöglicht eine spätere Anbindung für die Unterfahrung des Raums Schattdorf und die direkte Verbindung zwischen Gotthard-Basistunnel und Axentunnel. Das war eine Vorinvestition, die den Bund rund 60 Millionen Franken gekostet hat. 

TEC21: Vor Baubeginn gab es grosse Unsicherheiten. Wie sind die Arbeiten rückblickend verlaufen? 

Renzo Simoni: Der Bau ist gut gelaufen. Im Grossen und Ganzen sind die Störungen und Hindernisse aufgetaucht, die man erwartet hat. Dazu gehören die Intschizone, das Tavetscher Zwischenmassiv, die Pioramulde oder das Unterfahren der Stauseen Val Nalps und Santa Maria. Das ist sicher auch eine Errungenschaft der intensiven Vorauserkundungen (vgl. «Signale aus dem Herzen des Gotthards»). Sie haben das Projekt berechenbarer gemacht, und die eigentliche Bauzeit von 16 Jahren wich im Endeffekt kaum von der Prognose ab, in der mit 12 bis 16 Jahren gerechnet worden war. 

TEC21: Der Gotthard-Basistunnel wird in Kürze eröffnet. Wie ist der Stand am Ceneri?

Im Januar dieses Jahres haben die Mineure die letzten Durchbrüche gefeiert und damit einen wichtigen Meilenstein erreicht: Die ganze Flachbahn durch die Schweizer Alpen ist durchgehend ausgebrochen. Das war ein historisches Ereignis für dieses Projekt. Die Ausbauarbeiten laufen weiter, die Planung für den Einbau der Bahntechnik hat begonnen. Die Übergabe vom Rohbau an die Bahntechnik erfolgt im Herbst 2017. Es ist vorgesehen, dass der Ceneri auf den Fahrplanwechsel Ende 2020 in Betrieb geht.

TEC21: Die meistgenannten Personen im Zusammenhang mit dem Bau des Gotthard-Scheiteltunnels sind Alfred Escher und Louis Favre. Welche Person wird später in den Geschichtsbüchern stehen, wenn es um den Gotthard-Basistunnel geht?

Wichtig waren die erste Abstimmung zur NEAT und der damit verbundene politische Durchbruch. Dies ist verbunden mit dem damaligen Verkehrsminister Adolf Ogi. Ich nehme deshalb an, dass sein Name mit diesem Jahrhundertbauwerk in Erinnerung bleiben wird. Nicht nur für den Gotthard-Basistunnel oder die Gotthardachse, sondern stellvertretend für die gesamte NEAT, am Gotthard wie auch am Lötschberg.


Vielerlei weitere Fakten rund um den Bau des Gotthard-Basistunnels finden sich hier.


Der Gotthard-Basistunnel in drei Bänden

Wer mehr über Planung und Bau des Gotthard-Basis­tunnels erfahren möchte, wird in der Gotthard-Trilogie (herausgegeben von der AlpTransit Gotthard) mit Sicherheit fündig:

Der erste Band (2002/2012) beschäftigt sich mit den Anfängen des Projekts AlpTransit Gotthard. Er zeigt auf, wie viele Planungs- und Vorbereitungsarbeiten in diesem grossen Bauprojekt stecken. Zudem enthält er den lesenswerten Essay «Mythos Gotthard», der aufzeigt, weshalb gerade diese Gegend für die Schweiz so be­deutend ist.

Das zweite Buch (2010) beleuchtet verschiedene Themen rund um den Bau des Gotthard-Basistunnels. Es vermittelt einen Überblick über das gesamte Projekt und zeigt, mit welchen Herausforderungen die Projektbeteiligten während der Bauphase konfrontiert waren. Die Bildstrecke des Urner Fotografen Angel Sanchez zeigt die harte Arbeit der Mineure unter Tag.

Band 3 (2016) illustriert, was alles notwendig ist, damit aus einem Rohbautunnel ein Bahntunnel wird. Unter dem Gesichtspunkt Herausforderungen und Lösungen werden die Rohbauausrüstung und die Bahntechnik thematisiert. Aber auch die Inbetriebsetzung und der zukünftige Betrieb werden beleuchtet.

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