Sen­si­ble Sa­kral­räu­me

Bis in zehn Jahren werden in Deutschland an die 12 000 Kirchen nicht mehr genutzt; in der Schweiz spricht man von einigen hundert. Doch Sakralbauten prägen unser Stadtbild, sind auch für viele Nichtgläubige wichtige Identifikationspunkte. Wie also mit diesem Erbe umgehen?

Publikationsdatum
08-10-2021
Eva Schäfer
Dipl. Arch. ETH, eigenes Büro für Denkmalpflege, Bauforschung und Umnutzungsberatung, Hochschuldozentin

Kirchengebäude werden in der Schweiz zunehmend anders genutzt als zur Feier klassischer Gottesdienste. Die Gründe dafür sind mannigfaltig: Wegen schwindender Mitgliederzahlen und geringer Gottesdienstteilnahme fusionierten in den letzten Jahren immer mehr christliche Gemeinden. Die grösseren von ihnen haben oft mehrere Kirchen­gebäude zur Auswahl, die «bespielt» werden müssen. Einige Gemeinden fragen sich, wie sie ihre Immobilien bewirtschaften sollen, und entscheiden sich zur Weitergabe eines Gebäudes für einen gänzlich neuen Gebrauch (Umnutzung). Andere versuchen, «ihre» Kirchen mit ergänzenden Funktionen breiteren gesellschaftlichen Kreisen zugänglich zu machen oder zusätzliche Einnahmen für den Gebäudeunterhalt zu generieren. In derlei Fällen spricht man in Fachkreisen von einer «erweiterten (kirchlichen) Nutzung».

Hierzulande stellt sich die Situation im weitesten Sinn (noch) etwas anders dar als in den Nachbarstaaten. Während in den Niederlanden, Grossbritan­nien, Frankreich, Deutschland und sogar in Italien zum Teil seit Jahrzehnten notgedrungen auch profane Umnutzungen realisiert wurden, sind in der Schweiz aktuell zumeist «erweiterte Kirchennutzungen» im Gespräch – dank den vorhandenen Mitteln der Kirchen und wegen des akut noch weniger leer fallenden Bestands.

Küche in Olten, Inseln in Kloten

Ein Beispiel für eine solche erweiterte Kirchennutzung ist die Stadtkirche St. Martin (1908–1910) in Olten. Die Luzerner hummburkart architekten konnten im Rahmen eines Renovierungsprojekts 2010 bis 2018 zusätzliche Einbauten zur breiteren Nutzung durch die Gemeinde und für eventuelle Kulturveranstaltungen realisieren.

Neben technischen Erneuerungen, der Restaurierung der Oberflächen und der Neugestaltung der liturgischen Ausstattung wurden unter der Empore eine Teeküche und eine Toilette eingebaut. In die frühere Werktagskapelle integrierte das Architekturbüro in Absprache mit der christkatholischen1 Kirchgemeinde das Gemeindesekretariat. Und im Osten des grosszügigen Saalraums ordneten die Planerinnen und Planer neu ein Gemeinschaftsgrab im Boden an, das interessanterweise wieder Bestattungen im Kirchenraum ermöglicht.

Einen vergleichbaren Ansatz wählte man auch für den erneuernden Umbau der reformierten Kirche Kloten (1785/86): Der als Zentralbau konzipierte und in den 1950er-Jahren stark veränderte Kirchenbau ist seit dem Umbau aus dem Jahr 2013 mit beweglichen Bänken ausgestattet (Fahrländer Scherrer Jack Architekten, ­Zürich). Unter den Emporen ergänzten die Planenden das Kircheninnere mit vier unterschiedlich gestalteten Rauminseln, denen jeweils eine eigene ­Nutzungsidee zugrunde liegt. Insgesamt ist so ein wesentlich flexiblerer Raum entstanden, der den Zentralbau respektiert.

Deutlich seltener kam es in der jüngeren Vergangenheit in der Schweiz hingegen zu einer vollständigen Neunutzung zu nichtkirchlichen Zwecken.2 Einige bekannte Bei­spiele in den grösseren Städten sind Mischnutzungen einer Citypastoral-Kirche mit profanen Veranstaltungs­anlässen wie in Basel die Elisabethenkirche, in Zürich die reformierte Kirche St. Jakob oder in Luzern die ­Peterskapelle (vgl. TEC21 23/2016).

Die Positionen der Kirchen

Ob es nun um erweitert-kirchliche oder weltlich-profane Funktionen geht, die Grundlage für die Entscheidungen von kirchlicher Seite liegen im Gottesdienst- bzw. Kirchenbauverständnis der jeweiligen Religionsgemeinschaft bzw. Konfession begründet. Hier gibt es zwischen den christlichen Konfessionen gewisse Unterschiede. Das katholische Kirchenbauverständnis fusst auf der Vorstellung, dass Kirchen geweiht werden und sakrale Orte sind, die nicht ohne Entwidmung dauerhaft rein profan genutzt werden können. Als Wegleitung kann man die Empfehlungen für die Umnutzung von Kirchen und von kirchlichen Zentren der Schweizer Bischofskonferenz aus dem Jahr 2006 konsultieren.3 Diese Empfehlungen versuchen abzuwägen, welche Funktionen für Kirchen und Gemeindezent­ren infrage kommen. Die Weitergabe eines Kirchengebäudes an andere Religionsgemeinschaften soll wegen der symbolischen Bedeutung unterbleiben, und auch ausschliesslich kommerzielle Nutzungen, die der christlichen Ethik widersprechen, stufen die Verfasser als ungeeignet ein. Die Empfehlungen geben Eigentümern von Kirchengebäuden zudem Hinweise auf organisatorische und kirchenrechtliche Fragen.

Die nachreformatorischen Kirchen der luthe­rischen und der reformierten Richtung gehen hingegen davon aus, dass der Kirchenbau kein geweihter, also vom Alltagsleben getrennter Raum ist. So hat unter anderem der Schweizerische Evangelische Kirchenbund entsprechende Leitlinien für Umnutzungen herausgegeben.4 Sie decken sich in weiten Teilen mit den katholischen Empfehlungen. Auch für die reformato­rischen Kirchen steht fest, dass neue Verwendungen wenig geeignet sind, die den Symbolwert, den Kirchengebäude auch ohne Gottesdienste besitzen, infrage stellen. Der Überantwortung an nichtchristliche Religionen steht der Evangelische Kirchenbund vorsichtig kritisch, jedoch nicht grundsätzlich ablehnend gegenüber. Parallel zu diesen liturgisch-gottesdienstlichen Rahmenbedingungen ­bestehen in den einzelnen Kirchgemeinden unabhängig von der konfessionellen Zu­ordnung Wünsche, gemeinde­eigene und kulturelle Veranstaltungen im Kirchenraum realisieren zu können.

Was ist möglich, was sinnvoll?

Häufig wird der Umbau einer Kirche insbesondere in der öffentlichen Diskussion auf die Frage reduziert, was für eine Verwendung gewählt werden soll. Besonders interessant sind dann Beispiele, die an die Grenzen der Verträglichkeit des Gebäudes oder der kirchlichen Ethik gehen. Dies ist jedoch nur ein Teil der Herausforderungen, die sich in diesem Rahmen stellen. Aus kirchlicher Perspektive gibt es im Fall eines völlig neuen Gebrauchs verschiedene Präferenzen, die sich mit dem jeweiligen Gottesdienst- und Kirchenbauverständnis besser vereinbaren lassen. Abgelehnt wird international und konfessionsübergreifend eine abwertende Neunutzung, die den Kirchenraum lediglich als Kulisse für kommerzielle Zwecke nutzt. Aus denkmalpflegerischer Sicht ebenfalls nicht geeignet ist der komplette Ausbau eines Kirchengebäudes zu Wohnzwecken, also die Aufteilung in kleine Apartments, die die räumliche Struktur vollständig überformen. Die damit einhergehenden Ausbau­standards für das heutige Wohnen sind mit ursprünglich oft unbeheizten, dunkel gehaltenen Grossräumen kaum kompatibel. In vielen Fällen stehen daher heute – auch in der Schweiz – kircheneigene, öffentliche und kulturelle Neuverwendungen im Vordergrund, die den Grossraumcharakter der meisten Kirchengebäude respektieren.

Allerdings gibt es gerade im modernen Kirchenbau aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch andere Raumkonzepte. Kirchengebäude dieser Epoche wurden häufig von Beginn an mit Nebenräumen für die Gemeinde gekoppelt und von Anfang an auch liturgisch stärker mit dem Fokus auf gemeindliche Bedürfnisse mit Schulungs- und Veranstaltungsräumen ergänzt. Bauten dieser Typologie verlangen im Rahmen einer Nutzungs- und Umbaukonzeption sinnvollerweise andere Überlegungen als ein barocker Kirchensaal inmitten eines Dorfs. Dieser Umstand lässt sich anhand der nachfolgend vorgestellten Beispiele aus Basel darstellen. Sie beinhalteten die ergänzenden Räumlichkeiten, die es für den Umbau zum Probe- oder Konzertsaal braucht, bereits von vornherein.

Lesen Sie auch: «Des Umbaus spröder Charme» und «Musik anstatt Andacht».

Um eine geeignete neue Funktion – wie sie von kirchlicher Seite unabhängig von der Konfession ge­fordert wird – zu eruieren, ist im Vorfeld eines Bauprojekts ein eigener Findungsprozess mit der Eigentümerschaft, Vertretern der Kirchgemeinde, Fachleuten aus der Kirchenleitung, neuen Nutzungsinteressenten und Vertreterinnen und Vertretern lokaler Interessensgruppen nötig. Die definitive Nutzungsdisposition und ihre ­(bauliche) Umsetzung können bei einem so interdis­ziplinären und bedeutenden Thema mehrere Jahre in Anspruch nehmen. Für diese Prozesse sind neben den kirchlichen Rahmenbedingungen weitere Fragen zu berücksichtigen: die baulich-räumliche Disposition des Gebäudes, seine gesellschaftlich-soziale Einbindung in ein Dorf oder ein städtisches Quartier sowie denkmalpflegerische Belange. All diese Aspekte können die ­Nutzungswahl wie auch die Umsetzung beeinflussen. In die ­gesellschaftliche Debatte darüber, wie unsere Kirchengebäude künftig erhalten werden sollen, sind verschiedenste Kreise einzubeziehen. Um eine möglichst breite Auseinandersetzung zu unterstützen, können auch die Medien mit einer Darlegung der verschiedenen Facetten dieses Themas beitragen. Gelingen können derartige Prozesse dann, wenn alle Anspruchsgruppen frühzeitig miteinander reden und ihre Anforderungen formulieren können. Werden die bauhistorisch wertvollen Charakteristika eines kirchlichen Baudenkmals und die Raumdisposition bei der Umnutzung respektiert, können dank der neuen Nutzung auch leer fallende ­Kirchengebäude erhalten werden.

Aktuelle Herausforderungen

Im Unterschied zu den virulenten Geldsorgen anderer europäischer Staaten ohne Kirchensteuer stehen in der Schweiz für erweiterte kirchliche Nutzungen erhebliche finanzielle Mittel zur Verfügung. Die Ansprüche der neuen Nutzerschaft und die Erfüllung der Baunormen in ihrer Folge führen in der Regel zu aufwendigen Projekten. Bei unglücklicher Prozessorganisation können Grossprojekte aber auch hierzulande am finanziellen Aufwand scheitern, obwohl eine neue Trägerschaft gefunden ist.5

Es ist daher wichtig, dass für ein solches Vorhaben «Not wendende» Bedürfnisse eruiert werden und nicht das maximal finanzierbare Wunschprogramm einzelner Entscheidungsträger umgesetzt wird. Hier sind die Kirchengemeinden, Bistümer und die Landeskirchen angesprochen, solche Konzepte zu hinterfragen. Und natürlich sollte nicht jede Kirchgemeinde dieselbe «flexible» Ausrichtung anbieten, sondern zusammen mit Fachleuten aus verschiedenen Bereichen liturgisch motivierte Erneuerungen erarbeiten. Es ist sinnvoll, dass die Trägerschaften mit den baulichen Fachstellen (Bewilligungsbehörden, Denkmalpflege etc.) und Fachleuten aus der Stadtplanung und den Gesellschaftswissenschaften eine Portfolio-Betrachtung über den kirchlichen Gebäudebestand der Pfarr- bzw. Kirchgemeinde oder einer Stadt anstreben. Auf diese Weise lassen sich  konkrete Potenziale für neue Mitnutzungen ausmachen. Eine Überprüfung der Ergebnisse solcher Umbauten – zum Beispiel, ob die Nutzungsideen sich auch umsetzen liessen oder eine «Erneuerung» der Menschen und nicht nur der Kirchenarchitektur eingetreten ist – wurde bisher nicht unternommen. Es wäre nicht nur für die Forschung interessant, sondern auch für künftige Vorhaben relevant, ob sich die zuvor im Findungsprozess erarbeiteten Ideale auch tatsächlich verwirklichen liessen.

Erst denken, dann bauen

Einer der üblichen Gedankengänge hierzulande scheint zu sein, dass jede Nutzungsveränderung ganz selbstverständlich auch bauliche Folgen haben müsse. Ein fixes Raumprogramm und Architekturwettbewerbe sind jedoch selten geeignete Mittel, um nachhal­tige Konzepte für umgenutzte Kirchen zu erarbeiten. Um kurzlebige Grossprojekte abzuwenden, sind unter anderem auch Architekten gefragt, die nicht von Anfang an «mit dem Stift in der Hand» denken, sondern eher als konzeptionelle Prozesskoordinatoren tätig werden. Gemeinsam mit den kirchlichen Trägerschaften und neuen Interessenten könnten sie in einem eigenen Findungsprozess verschiedene Anspruchsgruppen zusammenbringen und im Dialog erst einmal Nutzungs­versuche angehen. Ein Beispiel dafür ist die Kirche Rosenberg in Winterthur, die als Flüchtlingsunterkunft genutzt wurde und aktuell als Covid-19-Testzentrum dient. Auf diese Weise könnte man aufspüren, was die Kirchgemeinde bzw. das Quartier und die Menschen in der Umgebung tatsächlich an zusätzlichen Funktionen benötigen. Derartige Versuchsprozesse könnten organisatorisch auch von den Landeskirchen und Bistümern begleitet werden – als eine Art konfessionelle Taskforce zu diesem Thema, die erfolgreiche Strategien weitertragen und als Ansprechpartner für andere Kirchgemeinden funktionieren könnte.

Dieser Artikel ist erschienen in TEC21 31/2021 «Die Zukunft der Kirchen».

Weiterführende Infos
Die Datenbank Kirchen­umnutzungen des Schweizerischen Kirchenbautags erfasst Kirchen, Kapellen und Klöster in der Schweiz, die in den letzten 25 Jahren eine Umnutzung erfahren haben bzw. deren Umnutzung vorgesehen ist. Eine weitere Datenbank auf der gleichen Website versammelt rund 200 Beispiele «Flexibler Kirchen­räume» in der Schweiz. Weitere Beispiele finden Sie in TEC21 51–52/2016 und in unserem digitalen Dossier «Umgebaute Kirchen».

Anmerkungen

 

1 Die Christkatholische Kirche entstand aus Protest gegen die Dogmen des Ersten Vatikanischen Konzils 1870. Durch die Selbstbezeichnung wollte die Christkatholische Kirche unterstreichen, dass ihrer Überzeugung nach allein Christus und nicht der Papst das Haupt der katholischen Kirche sei.

 

2 Bsp.: Neuapostolische Kirche, Basel (genutzt durch die Universität Basel); Temple du Bas, La Neuveville (Kulturraum Café Théâtre); Kapelle St. Johannes, Arbon (Veranstaltungsraum zum Mieten); Alte Kapelle Jeizinen, Gampel-Bratsch (Kulturveranstaltungen); Chapelle des Terreaux, Lausanne (Kulturveranstaltungen); Kirche Rosenberg, Winterthur (vorübergehende Nutzungen).

 

3 Schweizer Bischofskonferenz, Empfehlungen für die Umnutzung von Kirchen und von kirchlichen Zentren, Freiburg i. Ue. 2006.

 

4 Schweizerischer Evangelischer Kirchenbund, Wohnung Gottes oder Zweckgebäude? Ein Beitrag zur Frage der Kirchenumnutzung aus evangelischer Perspektive, Bern 2007.

 

5 Vgl. Projekt Orgelzentrum in der Kirche Auf der Egg in Zürich Wollishofen

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