Ein Mo­nu­ment re­struk­tu­rie­ren

Maison de la Radio et de la Musique

Architecturestudio gewann im Jahr 2005 den Wettbewerb für die Umgestaltung und Renovation des Pariser Hauptsitzes von Radio France. Seither ist der komplexe Umbau unter laufendem Betrieb mit verschiedenen ausführenden Büros Teil der Geschichte des emblematischen vor 60 Jahren eingeweihten Hauses.

Data di pubblicazione
16-03-2023

Die Maison de la Radio et de la Musique aus dem Jahr 1963, im 16. Arrondissement, umgeben von Haussmann’schen Stadt­häusern ist ein Monument. Vielleicht international nicht so berühmt wie der nahe Eiffelturm und der Arc de Triomphe, aber mindestens so formenstark und das französische Na­tionalgefühl prägend. Als Sitz aller Staatsradios, wie FranceInter oder FranceInfo, aber auch des Orchestre Nationale de France und der Philharmonie von Radio France – um nur einiges zu nennen – wurde und wird von ihm aus die Meinung der Franzosen tiefgründig, amüsant und aktualitätsbezogen geformt und verbreitet.

Umstrukturieren, öffnen und renovieren

Als man in den 2000er-Jahren feststellte, dass die Feuer­sicherheit im zentralen Archivturm des Hauptsitzes mit seinen hunderttausenden wichtigen Aufzeichnungen und Dokumenten – davon allein 50000 Vinylplatten – gerade elf Minuten gewährleistet war, fiel der Entscheid zur Renovation. Die Arbeiten an dem ganzen Bau mit rund 100000 m² Nutzfläche und 50 km Gängen begannen 2008 nach dem von Architecturestudio gewonnenen Wettbewerb und dauern bis heute an. «Das Haus, das vor 60 Jahren für einen bestimmten Zweck erstellt wurde, hat bis heute dieselbe Funktion», so Sidonie Guenin. Seit 2018 ist sie bei Radio France Direktorin für die Renovation und Umstrukturierung, die unter laufendem Betrieb neben Verwaltung, Radioproduktionen und Konzerten erfolgt. Sie koordiniert zahlreiche planende und ausführende Architekturbüros, Ingenieure, Unternehmen und Handwerker sowie die Anliegen der etwa 5000 Mitarbeitenden des Radios und der Konzerte – meist handelt es sich um Beschwerden über Lärm und Staub im Zusammenhang mit der Baustelle.

Der Umbau soll die Architektur von Henry ­Bernard (vgl. «1952, Maison de la Radio») wo möglich erhalten, die Räume auf den Stand der neusten Technik bringen, zeitgemässe Betriebsabläufe und Erschliessung integrieren und vor allem den im Kalten Krieg erstellten Bau mit Luftschutzräumen mit einer erweiterten Zugänglichkeit für die Öffentlichkeit in eine neue Epoche überführen. Diese aussergewöhnliche Ausgangslage veranlasste Bauherrschaft und Bauleitung, eine Umsetzung in vier Etappen über eine 2008 noch auf neun Jahre vorgesehene Bauzeit zu planen.

Lesen Sie auch:
«Himmelgrau über Seinegrün»Mit Feingespür setzt Chatillon Architectes Details in repräsentativen Räumen mit hohem Denkmalwert in der Maison de la Radio instand.

Neben der Renovation ist eine grosse restrukturierende Veränderung eine Passage, genannt das «Schiff». Sie verbindet den äusseren Ring mit einer ­öffentlichen «Agora» um den Turm im inneren Ring. Von dort aus führen vier neue 32 m lange Glasbrücken im fünften Stockwerk zurück zum äusseren Ring, um die Wege abzukürzen. Zudem musste der Bau unter der Ausführung von SRA Architectes teilweise neu verankert und gegen den Auftrieb des Grundwassers gesichert werden. 

Sehr aufwendig gestaltete sich auch die elf Jahre dauernde Asbestsanierung, die allen anderen Eingriffen vorausging. Im Archivturm wurden geräumige Arbeitsbereiche untergebracht, dazu waren Eingriffe in die Struktur nötig. Die Gegenstände sind nun extern oder in den ehemaligen Atombunkern im Keller gelagert.

Die neuen Produktions- und Sendestudios im äusseren Ring orientieren und öffnen sich zur Stadt hin. «In den Innenräumen hat jedes Radio den Anspruch auf ein eigenes Image. Man darf nicht alles gleichschalten, jede Produktionsstätte hat ihre Identität und ihren Platz», erzählt der Projektleiter von Architecturestudio, Alexander Arjona Jacobi, der den Umbau und die Renovation des Komplexes zu Beginn des Projekts begleitete.

Neue Weltklasse, alte Legenden

An Studios mangelt es im Haus nicht, neben 15 existierenden mit variablem Platzangebot wurde anstelle zweier kleinerer ein prestigeträchtiges neues Audito­rium mit 1461 Plätzen eingebaut (zum Vergleich: Das Opernhaus in Zürich hat 1100 Plätze).

Als Sitz des Orchestre Nationale de France ­sowie der Philharmonie de Radio France muss dieses grösste Auditorium natürlich über ausserordentliche akustische Qualitäten verfügen. Diese entwickelte der Akustiker Yasuhisa Toyota von Nagata Acoustics. «Am Anfang wurde gemäss den Angaben von Toyota ein Modell des Saals im Massstab 1:20 für die Akustiktests angefertigt. In Tokio genähte Filzpuppen sassen in verschiedenen Formationen im Modell, das dann mit Stickstoff gefüllt wurde, um die Tonsignal-Amplitude auf Massstab zu bringen. Danach bestimmte man mit Mess-­Mikrofonen die optimale Oberfläche der Wand­reliefs, der immensen Holzlinse an der Saaldecke und aller anderen Bauteilgeometrien», erinnert sich Alexander Arjona Jacobi.

Mehr zur Maison de la Radio et de la Musique Paris in TEC21 8/2023 «Klangfarben einer Renovation».

Das Auditorium fügt sich kohärent in die gesamte Umstrukturierung ein: Es ragt vom äusseren Ring in den niedrigen Zwischenring am Hof. Vom nur aufgefrischten originalen Eingangsfoyer auf der Seite der Seine gelangen die Zuschauer in den Saal, einen hölzernen Resonanzraum mit zentraler Bühne. Die Architektur ist also so angelegt, dass sich die Musiker räumlich im Mittelpunkt befinden und die Zuschauer in kleinen Gruppen um die Bühne sitzen. Die weiteste Entfernung zwischen Publikum und Bühnenzentrum beläuft sich auf nur 17 m, und doch ist sie mit einer Breite von 22 m und einer Tiefe von 15 m eine der grössten der Gegenwart. Frontal, in der Saalachse, öffnen sich die Holzwände vor einer monumentalen Orgel. Bis auf kleine technische Anpassungen, die noch erfolgen, waren diese Arbeiten im Jahr 2015 abgeschlossen.

Auf der anderen Seite, im legendären Studio 104, traten Celebrities wie Eddy Mitchell, Eric Clapton oder Norah Jones auf. Neue Akustikvorhänge und -reflektoren sowie räumliche Veränderungen ermöglichen hier variierbare Nachhallzeiten. Es ist für alle Stilrichtungen zeitgenössischer Musik nutzbar. Gleichzeitig entspricht die Grösse seiner Bühne jener des Auditoriums, sodass zwei grosse Orchester gleichzeitig proben können.

Turm: andere Funktion, alte Ästhetik

Neben den erneuerten Büros und Radiostudios im gros­sen Ring, die seit 2019 bezogen sind, wurde auch der Archivturm zu Büros umfunktioniert. Wegen den niedrigen Raumhöhen wurden jeweils zwei Stockwerke zusammengelegt, damit die Räume mit ihrer Infrastruktur und den heruntergehängten Decken hineinpassten. Darüberhinaus galt es auch hier, immense Mengen an Asbest zu entfernen. Aus diesen Gründen und um die Feuerbeständigkeit des Stahlskeletts den Hochhausnormen anzupassen, wurde der 63 m hohe Turm bis auf das Skelett zurückgebaut.

Die Fassade von Henry Bernard mit ihren schiessschartenartigen Fenstern, die wenig Licht durchliessen, um die Archivgegenstände vor Sonnenlicht zu schützen, durfte dagegen aus Gründen des Denkmalschutzes nur minim verändert werden. Um den Lichteinfall für die Büronutzung trotzdem zu verbessern und gleichzeitig den Ausdruck der alten Fassade zu erhalten, ersetzte Architecturestudio die senkrechten Längsprofile der Fassade durch im Querschnitt dreieckige Aluminiumleisten. Ausserdem wurden die originalen, nur 4 mm dicken Fassadenbleche entfernt und gereinigt. Die rückgebauten Luftkühltürme der Geothermieanlage, die bis 2011 in Betrieb war, schufen Platz für einen Besprechungsraum mit Panoramablick im obersten Geschoss.

18-jähriges Konzept und Kabel-Archäologie

Der Rahmen des komplexen Umbaus besteht aus einer städtebaulichen Hochhauszone, Arbeiten im Betrieb, unterbrochen von der Pandemie und einem Brand in teils bereits renovierten Bereichen, mehr Baulärm als angenommen und deshalb doch Auslagerungen einiger Abteilungen des Radios – und dann, zehn Jahre nach Baubeginn, die Unterschutzstellung als «Monument Historique».

Die Komplexität wird noch eindrücklicher, wenn Sidonie Guenin erzählt: «Die Ausführung des vor rund 18 Jahren ausgearbeiteten Konzepts von Architecturestudio bestimmt auch die Koordination. Wenn zum Beispiel eine vor Jahren akzeptierte Offerte endlich zur Ausführung kommt, müssen wir den Auftrag neu ausschreiben, da wir öffentliches Geld ausgeben. Weiter muss die übergeordnete Pilotplanung der Restaurierung der Service-Treppenhäuser und der Künstler­foyers über die ausführenden Chatillon Architectes koordiniert werden. Die Architekturbüros, die auf der anderen Seite für die Studios verantwortlich sind, sind unabhängig von den Baustellen der Foyers – teilen aber mit diesen die technische Ausrüstung. Die Bauherrschaft von Radio France kümmert sich übergeordnet um die Renovation, parallel dazu ist aber ein Spezialistenteam des Radios für den Schwachstrom und das Glasfasernetz des laufenden Sendebetriebs zuständig, auch das muss mit den Re­novationsarbeiten abgestimmt werden. Überhaupt sind die Medienkabel Gegenstand einer an Archäologie grenzenden Sisyphusarbeit: Während der Umstellung von analog auf digital und bereits im Lauf der vorangehenden Jahrzehnte wurden viele neue Installationen gezogen, ohne die alten immer abzumontieren. Zwar muss im Rahmen der Renovation alles neu verlegt werden, aber da der Produktionsbetrieb weiterläuft, ist man auch auf das parallel funktionierende alte Netz an­gewiesen: Die Synthese des Vorhandenen mit der Verknüpfung des Neuen und dem Timing der Änderungen beanspruchte zwei Jahre – doch heute ist alles gut sortiert.»

Die ausführliche Version dieses Artikels und weitere Beiträge zur Maison de la Radio et de la Musique in TEC21 8/2023 «Klangfarben einer Renovation».

Umbau Maison de la Radio et de la Musique, Paris

 

Bauherrschaft
Radio France, Paris

 

Architektur
Architecturestudio, Paris/Shanghai/Zug

 

Denkmalpflege
Chatillon Architectes, Genf

 

Bauleitung
Phasen 1–2: Architecturestudio, Paris
Phasen 3–4: SRA Architectes, Paris

 

Scenographie Auditorium
Changement à Vue, Paris

 

Ökonomie Konstruktion
Ecocités, Paris

 

Akustik Auditorium
Nagata Acoustics, Tokio

 

Landschaft
MDP, Michel Desvigne, Paris

 

Baukosten
493 Mio. Euro

 

Nutzfläche
100000 m²

 

Wettbewerb
2005

 

Ausführung
ab 2008

Articoli correlati