«Kei­ner baut ei­ne Klä­ran­la­ge nur für sein Haus»

Wie funktioniert eine Stadt ohne fossile Energie? Matthias Sulzer leitete ein nationales Forschungsnetzwerk zu dieser Frage. Seine Antwort: Es braucht dezentrale und vernetzte Versorgungssysteme.

Data di pubblicazione
08-06-2021


TEC21: Matthias Sulzer, Sie haben die letzten sieben Jahre über klimafreundliche Energieversorgung geforscht und kennen die Baupraxis als Mitgründer einer Unternehmensgruppe im Energie- und Gebäudetechnikbereich bestens. Wenn ich um eine Expertise bitten darf: Was für ein Haus würden Sie bauen?

Matthias Sulzer: Ich würde ein Mehrfamilienhaus in städtischer Umgebung in Auftrag geben, das zu einer qualitätsvollen Verdichtung beiträgt. Gute Zwischenräume sind dabei aus sozialen und klimatischen Gründen wichtig. Würde ich selbst dort wohnen, könnte ich so von kurzen Distanzen und einem guten öffentlichen Transportsystem profitieren.


TEC21: Und wie würden Sie das Haus energietechnisch ausrüsten?

Matthias Sulzer: Wichtig scheint mir eine effiziente, gut gedämmte Hülle. Zudem sind das Dach und die Fassaden aktiv für Solarenergie zu nutzen. Um das Haus komplett erneuerbar zu beheizen, sind allenfalls weitere lokale Wärmequellen zu evaluieren wie zum Beispiel Seewasser, Geothermie oder die Abwärme eines Datacenters. Allerdings möchte ich keine Energieautarkie anstreben.


TEC21: Warum nicht?

Matthias Sulzer: In der Stadt machen autarke Häuser keinen Sinn, bei der Energieversorgung ebensowenig wie in anderen Versorgungs- und Entsorgungsbereiche. Beim Trinkwasser und Abwasser sind Anschlüsse an ein Gesamtsystem selbstverständlich. Niemand baut eine Kläranlage nur für sein Haus.


TEC21: Sie waren vor gut zehn Jahren am Neubau der Monte-Rosa-Hütte in den Walliser Alpen beteiligt, die von ETH-Architekten als Modell für Energieautarkie realisiert wurde. Hat sich das Konzept inzwischen überholt?

Matthias Sulzer: Die SAC-Hütte ist ein wichtiges Projekt, aber liefert kein Rezept, wie wir in Zukunft bauen sollten. Damals war das autarke Versorgungskonzept ein Höhentraining, woraus wir gelernt haben: Die 100-%-ige Selbstversorgung ist technisch brutal und aus gesamtökologischer Sicht nur bedingt sinnvoll. Um die letzten 10 % zu erfüllen, benötigen wir denselben Aufwand wie für die vorangehenden 90 %. Dadurch verdoppeln sich die Flächen, die wir für die Solarenergiegewinnung benötigen. Auch die lokale Speicherkapazität wird zweimal so gross.


TEC21: Demgegenüber stehen im Tal oder in der Stadt übergeordnete Energienetze zur Verfügung?

Matthias Sulzer: Genau, in einer Stadt müssen Gebäude wirklich nicht alles selber machen. Vieles – Strassen, Wasser, Energie oder Daten – lässt sich traditionell gemeinsam nutzen. Dieser Leitgedanke hat unsere Forschungsarbeiten zur Transformation des fossilen Energiesystems geprägt. Wir haben die letzten sieben Jahre anhand von Simulationen untersucht, wie Städte mithilfe dezentraler Energiesysteme zu dekarbonisieren wären. Zentral ist dabei das Zusammenspiel zwischen dem dezentralen Energiesystem und dem Gebäudebestand. Der Standort und und der städtebauliche Kontext sind für eine klimafreundliche Energieinfrastruktur nämlich genauso relevant wie die klimatischen Standortbedingungen für die Städteplanung.


TEC21: Welche Optionen für den Ersatz von fossilen Heizungen ergeben sich daraus?

Matthias Sulzer: Die Forschungsarbeiten geben folgende Antwort: Hauseigentümer sollen sich an ein fossilfreies Energienetz anschliessen. Doch eine wichtige Zusatzfrage ist, wie die Netto-Null-Emissionsbilanz möglichst kosteneffizient und ökologisch erreicht werden kann? Deshalb haben wir Technologien, Planungsinstrumente und Algorithmen für einen kosten- und CO2-minimierten Betrieb von dezentralen Systemen für die Strom- respektive Wärmeversorgung. Konkret haben wir anhand eines digitalen Zwilling simuliert, wie die Versorgung in unterschiedlichen Massstäben etwa für ein Gebäude, ein Quartier oder eine Stadt funktioniert.


TEC21: Können Sie ein Beispiel dazu machen?

Matthias Sulzer: Im Einzelfall ist der Ersatz einer Ölheizung einfach zu bewältigen. Doch zur Dekarbonisierung von grösseren Siedlungsräumen sind komplexe Abhängigkeiten zu berücksichtigen. Nur ein leistungsfähiges Planungsinstrument hilft bei der Evaluation von vielen Informationen. Zur Veranschaulichung kann ich erzählen, wie ich selbst mit diesem Simulationstool herumgespielt habe. So klärte ich an meinem eigenen Wohnhaus ab, wie sinnvoll eine Speicherbatterie als Ergänzung zur Eigenstromproduktion ist. Ich fahre seit kurzem ein Elektroauto und möchte meinen Eigenverbrauchsanteil erhöhen.


TEC21: Und welchen Tipp haben Sie erhalten?

Matthias Sulzer: Die Evaluation bestätigte mir, dass ich mehr eigenen Strom dank einer kleinen Zusatzbatterie verbrauchen könnte. Allerdings wäre es energetisch genauso sinnvoll, meine Überschüsse mit einem Nachbarn zu teilen. Damit sind wir mitten im Thema unserer Forschungsarbeiten: Ein urbanes Energiesystem stellt das bestehende Versorgungsprinzip auf den Kopf. Bisher definiert der Konsum, wieviel, wann und wo Energie produziert werden muss. Ein dezentrales System nutzt dagegen erneuerbare Quellen lokal, wofür der Energieverbrauch an die Verfügbarkeit von Angebot respektive Eigenproduktion anzupassen ist.


TEC21: Zurück zur Einstiegsfrage: Was heisst das für ein neues Haus?

Matthias Sulzer: Ein Gebäude muss künftig mehr leisten als heute. Es muss effizient sein und sich aktiv versorgen. Es wird zum aktiven Element in einem vernetzten Energiesystem. Das heisst, es ist in ein übergeordnetes elektrisches und thermisches Netz eingebunden. Überschüssige Energie wird in Form von Wärme oder Strom in das Netz abgegeben und entsprechend dem Bedarf anderswo genutzt oder gespeichert.


TEC21: Zwischen Eigenversorgung und Netzanschluss gibt es also kein Entweder-Oder mehr?

Matthias Sulzer: Man muss beides betrachten. Wollen wir erneuerbare Wärme zum Heizen und für das Warmwasser lokal beziehen, benötigen wir neben lokalen Ressourcen auch eine gemeinschaftliche Infrastruktur. Ein dezentrales thermisches Netz erlaubt beispielsweise, jegliche Überschüsse mit anderen zu teilen. Muss ich mein Haus kühlen, kann ich Abwärme an die Nachbarschaft liefern, wo sie zur Warmwasserbereitstellung verwendet wird. Beim Strom funktioniert es genauso vernetzt; in der Praxis gibt es den Zusammenschluss für die Eigenversorgung schon.


TEC21: Sind solche Versorgungsnetze in verschiedenen Massstäben sinnvoll?

Matthias Sulzer: Ab einer gewissen Grösse, etwa einem Stadtquartier, kann eine Energiespeicherung zum Teil der dezentralen Vernetzungsinfrastruktur werden. Doch sonst gibt es keine «one size fits all»-Lösung. Beim Wechsel der Energieträger muss Vielfalt die jetzige fossile Monokultur verdrängen. Allein schon aus dem Grund, dass Städte unterschiedlich bebaut sind. Deren unterschiedliche Morphologie beeinflusst das nutzbare Energieangebot ebenso wie die Nachfrage einzelner Bauten. Wie viele Fassaden stehen im dicht bebauten Umfeld zur Solarstromerzeugung zur Verfügung? Oder bieten urbane Zwischenräume ausreichend Platz für Luftwasserwärmepumpen?


TEC21: Welche Folgen haben dezentrale Energiesysteme auf die Gebäudekonzepte und die aktuelle Planungspraxis?

Matthias Sulzer: Gebäudetechniker vertrauen auf statische Parameter, solange einfache Entscheide zu fällen sind, wie etwa die Wahl zwischen einer Ölheizung oder dem Anschluss an ein Gasnetz. Nun tauchen weitere Fragen auf: Welche Energiequellen sind auf dem Grundstück nutzbar? Muss Energie im Gebäude gespeichert werden und wie lange? Wie gut ist die Hülle zu dämmen? Wie werden die Technik und die Bauphysik eines Gebäudes für ein energetisches Optimum aufeinander abgestimmt? Neue Technologien kommen ins Spiel und erhöhen die Komplexität.


TEC21: Das energiepolitische Optimum heisst derzeit: Netto-Null. Ist eine klimaneutrale Versorgung mit dezentralen Energiesystemen und geringem Kostenaufwand möglich?

Matthias Sulzer: Das Ziel unserer Forschung ist, eine Stadt dank natürlicher Energieressourcen zu dekarbonisieren. Wir streben die Nullbilanz in unserem Postulat der Klimaneutralität aber nicht nur nach Ablauf eines Jahres sondern im Minutentakt an. Damit geht allerdings die Abkehr von der romantischen Idee einher, die lokalen Energieressourcen werden für alles genügen. Eine Stadt braucht mehr Energie als vor Ort verfügbar ist. Vor allem an Wintertagen muss relativ viel zugeführt werden.


TEC21: Also muss wie bisher Energie in eine Stadt importiert werden?

Matthias Sulzer: Teilweise ja, doch erneuerbare Energieträger werden künftig über weite Strecken handelbar, neben Strom wird das auch mit Wasserstoff möglich. Eine dezentrale Versorgungsstruktur hilft aber, lokale Ressourcen intern so effektiv wie möglich zu nutzen. Wird erneuerbare Energie vor Ort umgewandelt und genutzt, entfallen die Transport- und Speicherverluste. Deshalb haben Städte optimale Voraussetzungen zur Nutzung erneuerbarer Energieträger auf kleiner Skala wie etwa für Solarenergie, Geothermie, Biomasse oder das thermische Angebot von Oberflächengewässern.


TEC21: Reicht dieses Angebot, um die fossile Energieversorgung vollständig abzulösen?

Matthias Sulzer: Grosskraftwerke werden ihrerseits CO2-freie Energie von aussen liefern müssen, um vorübergehende Energiemankos zu überbrücken, sozusagen als Rückversicherung. Ein dezentralisiertes Energiesystem ist allerdings auf Innovationen angewiesen wie zum Beispiel eine Regelungsintelligenz für die interne Bewirtschaftung oder das Einbinden von Grosskraftwerken in die neue Energieinfrastruktur.


TEC21: Und gibt es Anzeichen, dass solche Konzepte schon bald in die Realität einfliessen können?

Matthias Sulzer: Die Städteplanung ist schon daran, monotone durch gemischte Nutzungszonen abzulösen. Kurze Wege reduzieren die Mobilität und den ökologischen Fussabdruck insgesamt. Gemischte Quartiere sind aber auch beliebter und sozial belebender. Dazu kommt der Vorteil, dass sich unterschiedlich genutzte Gebäude energetisch vernetzen lassen, und diese untereinander Energie austauschen können.

Klimaneutral dank vernetzter Energiesysteme

 

Zwischen 2014 und 2020 trieb Innosuisse die Energieforschung in der Schweiz voran, mit dem Aufbau von thematischen Kompetenzzentren. Dasjenige für ein Zukunftskonzept von energieeffizienten Gebäuden und Arealen (future energy efficient buildings & districts FEEB&D) versammelte 120 Forscherinnen und Forscher aus Universitäten und Hochschulen der ganzen Schweiz; 2017 übernahm Matthias Sulzer die Leitung des Executive Committees. In einem «white paper» sind die wichtigsten Ergebnisse dokumentiert und mit Empfehlungen für eine Umsetzung ergänzt. Für Städte wird ein vernetztes Energiesystem (Microgrid) entworfen, das mit erneuerbaren Quellen gespeist und flexibel auf unterschiedliche Betriebsanforderungen (Produktion, Verteilung, Speicherung, Nutzung) reagieren kann.

 

Um Gebäude in einem klimaneutralen Energiesystem zu vernetzen, postulieren die FEEB&D-Forscher zudem neue Effizienzparameter wie die Leistung (als Grösse für energetischen Maximalbedarf) anstelle von Energieverbrauchszahlen. Ebenso wichtig werden Algorithmen und datengetriebene Betriebssysteme, zur Orchestrierung des stadtinternen Energieaustauschs. Eine Planungssoftware, die vom FEEB&D-Spinoff Urban Sympheny vertrieben wird, soll nun Energie- und Städteplanern helfen, eine klimaneutrale Energieversorgung für unterschiedliche Massstäbe im Siedlungsbereich aufzubauen.

Articoli correlati