«Hier ver­steckt sich ei­ne fa­ta­le Fe­hl­bewer­tung zu Bau­wer­ken der Mo­der­ne»

Leserbrief

Die Diskussion über den geplanten Abbruch des Gewebegebäudes Tribschen in Luzern geht weiter. Nun nimmt der ehemalige stellvertretende kantonale Denkmalpfleger Stellung.

Data di pubblicazione
31-07-2020
Claus Niederberger
dipl. Architekt HBK/SWB/ass.BSA, Oberdorf; emer. Denkmalpfleger-Stv. im Kanton Luzern

«Der Leserbrief von Nick Meyer in TEC21 20/2020 beinhaltet eine Reihe von unkorrekten und isolierten Darstellungen, die der Sicht seines Arbeitgebers und Grundeigentümers, der CSS-Versicherung, entsprechen, jedoch zu Lasten des Gewerbegebäudes gemacht werden. Dies erfordert eine breitere Darstellung des Prozesses für die Bemühungen um die Erhaltung und Integration dieses Bauwerks in eine neue Arealüberbauung.

  1. Das Gewerbegebäude Tribschen in der Stadt Luzern, erbaut 1933, gehört in seiner originalen Form zu den schweizerisch bedeutenden Pionierbauten der frühen Moderne und ist für die Zentralschweiz eine Bauikone dieser Epoche.
     
  2. Die CSS-Versicherung ist aus sozialpolitischer Sicht eine ebenso bedeutende frühe Errungenschaft des Aufbruchs zur modernen Gesellschaft in der Schweiz, wie dies das Gewerbegebäude aus kulturpolitischer und architektonischer Sicht ist. Beide, die Institution und das Bauwerk, verkörpern deshalb beispielhaft die epochale Entwicklung unserer Gesellschaft zur Moderne in der Schweiz. Aus zwei so bedeutenden Frühwerken des 20. Jahrhunderts sollte eigentlich mit gutem Willen der Eigentümerin und der Behörden eine befriedigende Verständigungslösung realisierbar sein. Leider jedoch bis heute ohne Erfolg.
     
  3. Der bedeutende Stellenwert dieses Bauwerks ist in der Fachliteratur der Schweiz publiziert, und verschiedene Fachleute haben sich seit den 1980er-Jahren wiederholt bei den Behörden mit Eingaben und Gesprächen um den Schutzstatus dieses Bauwerks bemüht, trotz den vereinzelten baulichen Verunklärungen und dem vernachlässigten baulichen Unterhalt.
     
  4. Die städtebaulichen und architektonischen Wettbewerbe im Tribschen-Gebiet wurden in Eigenverantwortung von den Behörden der Stadt Luzern organisiert und durchgeführt, ohne Integration der Kantonalen Denkmalpflege. Mit der Inventarisation der Kulturobjekte hat die Stadt Luzern erst Jahre später begonnen. Das Gewerbegebäude wurde jedoch seit der ersten Beurteilung in diesem Inventarentwurf in die höchste Bewertungskategorie eingetragen und ist auch in dem von Stadt und Kanton genehmigten kantonalen Bauinventar von 2017 weiterhin in dieser Kategorie schützenswert eingetragen.
     
  5. Schon auf der Basis der ersten Petition zur Erhaltung und Integration des Bauwerks im Jahr 2002 mit mehr als 2300 Unterschriften haben die Entscheidungsbehörden von Stadt und Kanton weder intern noch extern ein fachliches Gutachten über den Stellenwert und den Zustand dieses Bauwerks in Auftrag gegeben. Auch haben sie sich bis heute, trotz allen fachlichen Bemühungen, in keiner Planungsphase für die Erhaltung dieses Bauwerks eingesetzt. Im Gegenteil: Sie haben nicht nur die Erhaltung und Integration dieses Bauwerks in eine neue Arealüberbauung abgelehnt, sondern die Baudirektion der Stadt hat den Eigentümern auch trotzdem im Voraus wiederholt den Abbruch und grössere Bau- und Nutzungsvolumen in Aussicht gestellt, als dies nach Bebauungsplan zulässig ist.
     
  6. Deshalb haben die Fachverbände BSA, SIA, SWB der Zentralschweiz und der IHS zwei schweizerisch anerkannte und renommierte Fachleute für Bauwerke der Moderne mit je einer fundierten und unabhängigen Beurteilung und Bewertung des Bauwerks und seines Erhaltungszustands beauftragt. Ergänzend dazu wurde im Auftrag der Grundeigentümerin 2017 ein drittes Gutachten erarbeitet. In allen drei Gutachten wird dem Bauwerk übereinstimmend eindeutig schützenswerte Höchsteinstufung als Baudenkmal zuerkannt. Daraus wird auch ersichtlich, dass das Bauwerk, mit Rücksicht auf seinen Stellenwert, mit einem verhältnismässigen finanziellen Aufwand saniert werden kann.
     
  7. Auch sind in zwei Machbarkeitsstudien vom Architekten des CSS-Neubaus grundsätzliche Integrationsmöglichkeiten des Gewerbegebäudes in eine neue Arealüberbauung detailliert belegt worden. Im Rahmen der vorgeschlagenen Projektierungsverfahren könnte ein mögliches weiteres Vergrösserungspotenzial für eine qualitätsvolle Überbauung des gesamten Areals geklärt und geschaffen werden.
     
  8. Die Kantonale Denkmalkommission hat auf dieser Basis der Kulturchefin des kantonalen Bildungs- und Kulturdepartements mit ausführlicher Begründung beantragt, das Bauwerk in das Kantonale Denkmalverzeichnis aufzunehmen und damit den Schutzstatus rechtlich zu verankern.
     
  9. Aufgrund der ablehnenden Haltung der Grundeigentümerin und der sie weiterhin unterstützenden politischen Entscheidungsbehörden haben die Fach- und Schutzverbände 2017 eine zweite öffentliche Petition gestartet, die im Dezember 2019 mit mehr als 2700 Unterschriften den Behörden übergeben wurde. Mit den Petitionen 1 und 2 sind zugunsten der Erhaltung dieses Bauwerkes insgesamt mehr als 5000 Unterschriften eingereicht worden.
     
  10. Trotz all diesen Fakten haben die Entscheidungsbehörden von Stadt und Kanton die vorliegenden Gutachten, Fakten, Belege und Petitionen in ihren politischen Entscheiden seit Herbst 2017 nur so weit berücksichtigt, als sie dazu ihre früheren wenig fundierten Vorentscheide zulasten der Erhaltung und Integration des Bauwerkes nicht revidieren mussten. Sie haben auf Antrag der Grundeigentümerin, der CSS-Versicherung, den Schutzantrag als unverhältnismässig abgelehnt, was weiterhin einen Abbruch des Bauwerks ermöglicht.
     
  11. Das ist ein politisch verhängnisvoller Entscheid, speziell für die jüngere Baukultur der Moderne. Wenn bei uns selbst bedeutende Pionierbauwerke mit fachlichen Höchstbewertungen keinen Schutzstatus mehr erhalten und zum Abbruch freigegeben werden, welche Kulturobjekte sind dann noch schutzwürdig? Wie können private Grundeigentümer öffentliche Auflagen für Kulturobjekte der unteren Kategorie «erhaltenswert» akzeptieren, wenn selbst «schützenswert» qualifizierte Kulturobjekte von schweizerischer Bedeutung abgebrochen werden können, nur weil ein Grundeigentümer über gewichtigen politischen Einfluss verfügt?
     
  12. Während im vergangenen Jahr in ganz Europa die grosse Bedeutung der Moderne mit dem Jubiläum 100 Jahre Bauhaus gefeiert wurde, soll in unserer Region eines der bedeutendsten Pionierbauwerke dieser Epoche auf Verlangen der Grundeigentümerin und mit Zustimmung der Entscheidungsbehörden von Stadt und Kanton Luzern zerstört werden. Insbesondere so fachlich höchst qualifizierte Pionierbauten von schweizerischer Bedeutung sind besonders schützenswerte Kulturobjekte und dürfen nicht Freiwild für Abbruchentscheide aus politischen Gefälligkeiten werden.
     
  13. Leider zeigt dieses Beispiel einmal mehr, wie selbst besonders bedeutende Pionierbauwerke der Moderne es schwer haben, von den politischen Entscheidungsbehörden als Kulturobjekte anerkannt und geschützt zu werden, im Gegensatz zu selbst bescheidenen Bauwerken früherer Epochen. Darin versteckt sich eine fatale Fehlbewertung zu Bauwerken der Moderne, die nicht nur eine neue Gestaltungssprache in der Architektur verkörpern, sondern auch einen umfassenden Umbruch und eine Neuorientierung unserer Gesellschaft beinhalten und bis heute unsere Baukultur nachhaltig prägen.
     
  14. Gegen eine solche politische Entscheidungspraxis wehren sich zu Recht der Innerschweizer- und der Schweizer Heimatschutz, unterstützt durch die Architektenfachverbände BSA, SIA und SWB der Zentralschweiz sowie den BSA Schweiz. Sie haben deshalb die Petitionen und Beschwerden beim Stadtrat Luzern, beim Regierungsrat des Kantons Luzern und beim Kantonsgericht eingereicht.»

Zum Gewerbegebiet Tribschen sind bisher folgende Beiträge erschienen:

 

Pe­ti­ti­on zur Ret­tung des Ge­wer­be­ge­bäu­des Trib­schen in Lu­zern
 

Untolerierbare Geschichtsleugnung


«Mit einem Erhalt wäre niemandem gedient»

 

«Das Bau­denk­mal ist nicht bloss Idee, son­dern rea­li­sier­te Wirk­lich­keit»
 

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