Ge­lieb­tes Alien: Kir­che St. Ni­co­las in Hé­ré­men­ce

Seit 1971 bildet die brutalistische Betonkirche St. Nicolas von Walter Maria Förderer das Zentrum von Hérémence VS. Der multifunktionale Baukomplex, der neben dem Gotteshaus auch diverse profane Nutzungen beherbergt, wirkt nach 40 Jahren aktueller denn je. Ein Besuch in Bildern.

Data di pubblicazione
26-09-2019

In der heutigen Zeit wäre es schlicht undenkbar, ein so radikales Gebäude an einem solchen Ort zu realisieren: ein raues, zerklüftetes Ungetüm aus Sichtbeton, das sich wie ein riesiger Termitenbau mitten in einem Bergdorf mit kleinen hölzernen Chalets breitmacht und in schwindelerregende Höhe auftürmt.

Doch im Hérémence der 1960er-Jahre hatte man keine Berührungsängste mit grossen Betonbauten. Das Walliser Bergdorf liegt an der steilen Flanke eines Tals, an dessen Ende 1951–1961 die Grande Dixence errichtet wurde, die mit 285 m Höhe bis heute grösste Gewichtsstaumauer der Welt ist. Die lokalen Unternehmen hatten Erfahrung mit dem Betonbau gesammelt, und der Wasserzins brachte Einnahmen ins Tal. 

Ein Turm für Bücher und Kinder

Ein Erdbeben hatte 1946 die alte Kirche von Hérémence beschädigt, und man beschloss, sie zu ersetzen. 1962 wurde ein zweistufiger Wettbewerb für den Neubau von St. Nicolas ausgeschrieben. Die Jury wählte das Projekt des Basler Bildhauers und Architekten Walter Maria Förderer, der damals mit einer Reihe von weiteren katholischen Kirchenbauten beschäftigt war, bevor er sich ab 1978 ganz der Bildhauerei zuwandte.

So greift der Entwurf für St. Nicolas raumkünstlerische Themen auf, wie sie beispielsweise auch im Kirchenzentrum Heiligkreuz in Chur (1966–1969) oder in der Kirche Heiligkreuz in Bern (1967–1969) präsent sind: plastisch ausgebildete Volumen, raue Beton- und glatte Holzoberflächen, höhlenartige Innenräume mit indirekter Lichtführung, komplexe Raumkompositionen und polygonale Grundrisse. Vor allem aber ist die Kirche St. Nicolas, die 1971 fertiggestellt wurde, mehr als nur ein Gotteshaus. 

Das riesige Volumen entwickelt sich über mehrere Ebenen den steilen Hang hinauf. Im untersten Geschoss, am Platz gegenüber der Gemeindeverwaltung, gibt es Gewerbeflächen, eine Bar samt Postschalter und eine öffentliche Toilette. Darüber, auf der mittleren Ebene, befindet sich ein zweiter, von Treppen und Mauern gefasster Platz, der einen introvertierteren Charakter hat und gleichsam das sakrale Pendant zum weltlichen Platz bildet; hier öffnet sich der Eingang zum eigentlichen Kirchenraum. Der Glockenturm schliesslich ragt nicht schlank in den Himmel, sondern ist als vielgestaltiger Zweckbau ausgebildet: Eine Treppe windet sich von Etage zu Etage hinauf, bildet einen weiteren Eingang zur oben durchführenden Kantonsstrasse, erschliesst die Gemeindebibliothek und einen Kindergarten und mündet schliesslich in einer Aussichtsplattform.

Betonherz für das Dorf

Trotz dieser überaus pragmatischen Kombination von Nutzungen wirkt der Bau nie wie ein gesichtsloses Mehrzweck-Konglomerat. Die Plastizität des riesigen Volumens mit seinen unzähligen Knicken, Nischen und Öffnungen, aber auch die Selbstverständlichkeit, mit der er sich an den steilen Hang klammert und die verschiedenen Ebenen des Dorfs gliedert, lassen ihn als dessen unangefochtenes Zentrum erkennen – als Ort, an dem alle vitalen Funktionen der kleinen Lebensgemeinschaft zusammenkommen. Das Volumen mag eine raue, zerklüftete Oberfläche haben; umso mehr Geborgenheit bietet sein Inneres, das sich allen Bedürfnissen, die da kommen mögen, flexibel öffnet. 

Offensichtlich wissen das die Bewohnerinnen und Bewohner von Hérémence zu schätzen. In den bald 40 Jahren seines Bestehens ist der Bau – bis auf das Dach, das neu eingedeckt wurde – bemerkenswert gut gealtert. Einzig die gewundene Aussentreppe, die sich durch die vielen Ebenen der Anlage bohrt, hat unübersehbar darunter gelitten, dass im Winter viel Salz auf die Betonoberfläche gestreut wurde. Ansonsten aber hat sich der Bau als durch und durch robust erwiesen: in seiner Materialisierung, in seinen vielfältigen Nutzungsmöglichkeiten, in seiner menschenfreundlichen Raumstruktur und in seiner brutalistischen Plastizität, die sich selbst mit liebevoll arrangierten Geranienkisten zu arrangieren versteht.

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