Kur­thea­ter Ba­den: Naht­los wei­ter­ge­führt

Die lange Geschichte des heute denkmalgeschützten Kurtheaters Baden kann weitergehen – auch aus der bautechnischen bzw. ingenieur­spezifischen Perspektive. Die Ingenieure von WaltGalmarini haben mit den Umbauarbeiten das bestehende Tragwerk aktualisiert und ertüchtigt.

Publikationsdatum
18-06-2021

Das Kurtheater Baden von Lisbeth Sachs (1914–2002) wurde 1952 als erstes Schweizer Theater der Nachkriegszeit eröffnet. Wegen der Kriegsjahre erst eine Dekade nach der Wettbewerbsauslobung umgesetzt, war es schon nach wenigen Jahren erweiterungsbedürftig. Eine ganze Reihe teils einschneidender Erweiterungen wurde vorgenommen.

1976 passte man das ursprünglich als Sommertheater errichtete Haus dem Ganzjahresbetrieb an. Insbesondere der filigran gebaute und als Juwel bezeichnete Gartenpavillon – nach seiner Schöpferin «Sachs-Foyer» genannt – erhielt eine die Bauphysik verändernde, intensivere Nutzung. Die vielen Menschen, die anfallende Feuchtigkeit und die höhere Heizleistung belasteten das Gebäude über Gebühr.

«Das Haus war schlicht überfordert», meint Elisabeth Boesch, die darum besorgt war, die aktuellen Umbauarbeiten so zu gestalten, dass sie die Gebäudesubstanz nicht ­zerstörten, sondern vielmehr dazu verhalfen, sie zu bewahren. 30 Jahre nach der Umstellung auf den Ganzjahresbetrieb bedurfte es einer eingehenden Instand­setzung und Erweiterung.

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«équilibre» – das Projekt der Architekten Elisabeth und Martin Boesch, das aus dem 2007 ausgeschriebenen Wettbewerb hervorging – stellte einen austa­rierten und befreienden Entwurf dar – nicht nur auf architektonischer, sondern genauso auf tragwerks­pe­zifischer Ebene.

Unsichtbar ergänzt

Auf den Plänen gut zu erkennen, real umgesetzt aber kaum sichtbar, wurde das vierachsige Bühnenhaus um zwei weitere Achsen in demselben Rhythmus verlängert. Dabei gibt der Bestand den Ton an. Im neu angebauten Volumen befinden sich die Hinterbühne, darüber die Büroräume und im obersten Geschoss der Probesaal.

Der Neubauteil fügt sich wie ein Tetrisstück in umgekehrter L-Form – mit kurzem, oben auskragendem Schenkel – an und über den Altbau. Die ohnehin geplanten, raumteilenden Stahlbetonwände wirken als Scheiben und tragen die Auskragung über dem Bestand. Das Eigengewicht der räumlich wirkenden Betonkonstruktion sorgt dafür, dass sie nicht kippt. Dabei ist die Rückwand des Anbaus als Betonscheibe so schwer, dass sie als Gegengewicht wirkt, und die Wand am Ende der Auskragung aus Holz so leicht, dass sie relativ wenig Gewicht in das System bringt.

Perforiert durch Türen, Fenster und Gebäudetechnikaussparungen legte man den Scheiben wohlplatzierte Bewehrungsstränge ein. Sie funktionieren als Druck- und Zugzonen. Mit dem Kräftefluss als Fachwerk in den Scheiben werden die Zug- und Druckkräfte an den richtigen Ort gelenkt und in die Fundation geleitet. Ein Gleichgewicht, das auch statisch dem Namen des Wettbewerbsprojekts alle Ehre macht.

Im tragenden Decken-Scheiben-Prinzip erstellt, ist der Neubau von aussen als Betonrahmenkonstruktion erkennbar, wie sie sich auch in der bestehenden Fassade abbildet. So hebt sich die neue zweischalige optisch kaum von der alten einschaligen Konstruktion ab. «Alt und Neu müssen sich nicht auf den ersten Blick voneinander unterscheiden», bekräftigt Martin Boesch. «Wir haben die explizite Ablesbarkeit des neuen Eingriffs hier nicht gesucht. Aber wer will, findet die neuen Stellen.»

Erst mit diesem Konstruktionsprinzip war der ergänzende Neubau als optisch gleiche Erscheinung, aber dennoch räumlich tragendes Raumkonstrukt möglich. Es war sogar Voraussetzung für eine Erweiterung des Kurtheaters. Denn sie legt sich zwar über den Altbau, darf aber keine Lasten auf ihn abgeben, da in ihm keine Last­reserven vorhanden waren.

Rahmen aussen – Scheiben innen

Die Betonrahmenkonstruktion der bestehenden Fassade zeigte typische Alterungserscheinungen, weil die Bauteile eine damals zwar übliche, aber nach heutigem Wissensstand zu geringe Betonüberdeckung aufwiesen. Es gab grobe Risse, partielle Abplatzungen und korrodierte Bewehrungseisen. Um die Lisenen und Gurten der Rahmenkonstruktion für die nächsten 50 Jahre wieder funktionstüchtig zu machen, mussten sie stellenweise – nicht aber als Ganzes – reprofiliert und mit einem mineralischen Anstrich versehen werden.

Damit dieselben Schäden künftig nicht auch in der neuen, optisch ähnlichen und daher ebenfalls sehr schlanken Betonkonstruktion entstehen, sahen die Ingenieure in den neu konstruierten Bauteilen einen sehr hohen Bewehrungsgehalt vor. Dieser sorgt dafür, dass die Risse klein bleiben und sich fein verteilen.

Kiste auf vier Stielen stabilisiert

Das neue, an das alte gestellte Volumen hält im Erd­bebenfall das gesamte Gebäude in horizontaler Längsrichtung, ohne Vertikalkräfte an den Bestand abzugeben. Damit der Bestand die neu zu berücksichtigenden horizontalen Kräfte infolge eines Erdbebens abtragen kann, musste er allerdings lokal ertüchtigt werden. Dies ausgerechnet am Herzstück des Hauses – an der Bühne und am denkmal­geschützten Theatersaal.

Der Theatersaal weist im Erdbebenfall statisch labile Mauerwerkswände auf. Man ertüchtigte sie, indem man sie mit Zugstangen vertikal vorspannte, wodurch sie leistungsfähiger wurden. In der Bühnenebene war eine komplexere Operation notwendig. Der Bühnenturm steht nur auf vier Stützen – wie eine Kiste auf nur vier Zahnstochern ist dies ein unzureichendes Tragsystem, wenn sich der Untergrund zu bewegen beginnt.

So entwickelten die Ingenieure eine statische Ertüchtigung, die einer Klammerwirkung gleichkommt. Bei der rückwärtigen Kistenebene erfolgte dies mit dem Neubau. Im Übergangsbereich von Hinterbühne zu Hauptbühne mit Abgang zum Orchestergraben und zu den Hauptsträngen der Bühnentechnik – die eigentliche Naht- und Angelstelle des Theaters – fügten sie eine Trag­werksergänzung ein.

Nach Variantenstudien über reine Betonlösungen einhäuptig an die bestehende Wand betoniert oder als reine Stahllösungen parallel zum Bestandstragwerk geführt, kristallisierte sich für diese Ergänzung eine Verbundkonstruktion heraus. Dank der Lösung mit ­einem geschraubten Stahlfachwerk, das auf einem ­Betonbock steht und über Mikropfähle fundiert ist, konnten die relevanten Elektroschaltschränke während der Bauzeit erhalten bleiben. Sie waren kaum fünf ­Jahre alt, und eine De- und Reinstallation wäre zu teuer und unverhältnismässig gewesen.

Kumulierter Erhalt im Juwel

Das gläserne Sachs-Foyer – das Herzstück des Kurthea­ters – besteht aus einer filigranen Stahlkonstruktion, wobei die Fassadenprofile die charakteristischen seesternartig angeordneten Stahlträger des Dachs tragen. Kein Tragelement, kein Stab ist hier zu viel. Die energetischen Anforderungen waren aber bei Weitem nicht erfüllt. Auch die korrodierten Stahlprofile mussten behandelt und eine neue Deckenverkleidung aus perforiertem Ulmentäfer für eine verbesserte Raumakustik zwischen den Dachträgern eingebracht werden.

Um das denkmalgeschützte Erscheinungsbild nicht zu zerstören, sollten die Neuerungen kaum sichtbar sein – ­insbesondere nicht der markante Ersatz der Einfach- durch die Zweifachisolierverglasung. «Reparieren und Erhalten wäre einfacher gewesen als der Weg über die Restaurierung unter Einhalt von optimierten bauphysikalischen und akustischen Anforderungen», bringt Elisabeth Boesch die Herausforderungen auf den Punkt.

Der Gartenpavillon wurde behutsam und vor allem sorgfältig restauriert. Mit sensiblem Vorgehen und angemessenen Konstruktionslösungen konnte das zusätzliche Gewicht aus der Wärmedämmung, aus der neuen Dachkonstruktion und aus der neuen Isolierverglasung abgetragen werden.

«Der Instandsetzungs­bedarf sah schlimmer aus, als er tatsächlich war», ­wiegelt Wolfram Kübler von WaltGalmarini ab. Handlungsbedarf bestand vor allem an den korrodierten Stützen­füssen, wo das Stahlprofil eingespannt ist und sich Kondenswasser sammelte – selbst innerhalb der Rohre. Die Stahlkonstruktion in der hohen Konstruk­tionsqualität wies mit den Fusseinspannungen und der biegesteifen Verbindung zwischen Stütze und Dachträger kleinere Systemreserven auf.

Die Ingenieure wussten dieses brach liegende Lastpotenzial durch eine detaillierte statische Analyse und mithilfe einer verfeinerten statischen Modellierung zu mobilisieren, ohne dass der Randverbund der Gläser über die gesamte Lebensdauer zu problematischen Zwängungen führen würde.

Verstärkungspotenzial sahen die Ingenieure ausserdem an den Profilen selbst. Allerdings durfte weder die Filigranität noch die Schlankheit des Tragwerks wesentlich verändert werden. Über ein Variantenstudium inklusive Überlegungen, wie die Dichtigkeit der Fassade und der Türen verbessert werden konnte, ergab sich die Lösung, wie die horizontalen Durchbiegungen der Fassade und der neuen Verglasung verkleinert werden konnten, ohne das Werk zu verunklären: Die Aussenseite der Konstruktion sollte komplett original belassen bleiben und nur die Stäbe innenseitig aufgedoppelt werden. Einerseits nahm man so die um 20 mm vergrösserte Glasstärke auf, andererseits versteifte sich mit dem höheren Trägheitsmoment die Konstruktion.

Das aufgedoppelte Flachstahlprofil ist über eine Kunststoffleiste vom Bestand getrennt, die quasi als Innendämmung funktioniert. Eine etwas grosszügigere, aber dennoch kaum sichtbare Aufdopplung erhielten die horizontalen Stahlriegel. Sie versteift die Glasebene zusätzlich und verbessert zugleich die Behaglichkeit des Innenraumklimas bzw. die Zuglufterscheinungen, weil damit der Kaltluftabfall über die gesamte Glas­höhe unterbrochen wird. Die Stützenhauptprofile sind neu ausgegossen, um den Korrosionsschutz im Innern dauerhaft sicherzustellen, die Leitungen zu fassen und zu stabilisieren sowie gleichzeitig auch die Fusseinspannung leicht zu verstärken.

Pirouette in der «promenade architecturale»

Die neue Isolierverglasung hat dazu beigetragen, den Wärmedurchgang durch die Gläser um einen Faktor 6 zu verbessern, was zu weniger Wärmeverlust führt. Trotzdem kommt das Sachs-Foyer dem originalen ­Erscheinungsbild von 1952 täuschend nah, «auch ohne die Augen zuzukneifen», scherzt Elisabeth Boesch ­erleichtert. Keine Selbstverständlichkeit. Denn die Anforderungen aus allen Disziplinen waren vielfältig: maximaler Substanzerhalt, Erhalt der filigranen Erscheinung, Erfüllung der Tragsicherheit und der Gebrauchstauglichkeit, Steigerung der Behaglichkeit und energetische Optimierung.

Mit konstruktiver und gestalterischer Kreativität sowie mit fachkundiger und detailgetreuer Arbeit des verantwortlichen Planungsteams konnten die Kernelemente des Bauwerks aufgefrischt und modernisiert erhalten bleiben. Insbesond­ere der Gartenpavillon, der mit der umlaufenden und transparenten Glasfassade Übergang in den Stadtpark und mit den beiden schwungvollen Treppenläufen zugleich Entrée in den Theatersaal ist. Die Pirouette in der «promenade architecturale» ist bewahrt.

Die ausführliche Version dieses Artikels ist erschienen in TEC21 19/2021 «Virtuoses Bühnenspiel».

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