Kräu­ter im Lehm­man­tel

Der Masse Form geben

Herzog & de Meuron erstellen mit der Lagerhalle in Laufen bereits das siebte Bauwerk für Ricola. Die Architektur ist reduziert und klar –sie überlässt dem Stampflehm die grosse Bühne.

Data di pubblicazione
14-01-2015
Revision
05-10-2015

Massig steht das neue Kräuterzentrum auf dem Feld inmitten der geschwungenen Ausläufer der Jurakette. Ein präzise definiertes Volumen mit je einem kreisrunden, überdimensionalen Fenster pro Fassade: der geometrisch reine Traum eines Architekten. Und dennoch wirkt der Quader weder verkopft noch abstrakt, sondern geradezu urwüchsig. Denn die Wände zeigen die Handschrift derer, die sie formten – die Schichten der Mischung aus Lehm und Bruchschotter werfen das Licht der Sonne in Schattierungen von erdigen Tönen zurück. Aus der Nähe verdichtet sich das Bild zu einem sinnlichen Erlebnis, wenn die Finger über raue und kratzige Fassaden streichen und feiner Staub an den Kuppen haften bleibt. Es fällt schwer, die Hände von diesem Gebäude zu lassen. 

Einmal mehr haben Herzog & de Meuron für Ricola eine Ikone geschaffen; diesmal archaisch, wuchtig und von grosser handwerklicher Eleganz. Es gibt viele Geschichten rund um das neue Kräuterzentrum zu erzählen. Zum Beispiel über die an der Einweihung im Juni 2014 ostentativ zur Schau gestellte gegenseitige Wertschätzung der Familie Richterich, Eigentümerin der Firma, und des Basler Architekturbüros, das vor zwei Jahrzehnten die epochale Einstellhalle mit den schmalen Eternitbändern für Ricola errichten ­konnte. Insgesamt sind sieben Gebäude aus dieser ­Zusammenarbeit entstanden; zur Eröffnung des Kräuterzentrums wurden sie in einer eigenen Publikation gewürdigt.1 

Einen eigenen Erzählstrang bildet auch das über lange Jahre gepflegte Interesse der Architekten für Stampflehm – das 2003 eröffnete Schaulager in Münchenstein war ursprünglich als Lehmbau konzipiert. Das Material führte die Architekten zum Vorarlberger Lehmbaupionier Martin Rauch, der diese beinahe vergessene Bauweise vor 30 Jahren zu neuem Leben erweckt hatte. Nachdem in Münchenstein am Ende doch Kratzbeton zum Einsatz kam, wurde nun in Laufen BL das erste Gebäude von Herzog & de Meuron und Martin Rauch in Stampflehm erstellt. Und wie beim Schaulager steht neben formalen Aspekten die Eigenschaft des Lehms im Vordergrund, das Klima in der Lagerhalle auf natürliche Weise zu regulieren.

Dies sind die Verstrickungen zwischen den einzelnen Protagonisten des neuen Kräuterzentrums, doch auch die baulichen Umstände sind erwähnenswert: Das Baumaterial der Fassade wurde keine zehn Kilometer weit transportiert, zudem kam mit dem Stampflehm ein Baustoff zum Einsatz, zu dem nur wenige Normen vorliegen. Ein Bekenntnis für die Region und ein Wagnis, das nur die wenigsten Firmen eingehen würden – schon gar nicht für einen Gewerbebau, der unentbehrlich ist für die Produktion.

Kurzum: Das neue Kräuterzentrum in Laufen ist in vielen Bereichen eine Ausnahmeerscheinung mit Bedingungen, wie sie sonst kaum anzutreffen sind. Die Lagerhalle muss vor diesem Hintergrund als glücklicher Einzelfall betrachtet werden, bei dem eine engagierte Bauherrschaft, ein virtuoses Architekturbüro und ein visionärer Unternehmer zueinander gefunden haben.

Stampfen und tüfteln 

Räumlich war die Aufgabe überschaubar – ein simples Betriebsdiagramm wurde direkt in Architektur umgesetzt. Die für die Produktion benötigten Kräuter werden zunächst in Quarantäne zwischengelagert, denn die Mehrheit der Bauernbetriebe liefert ihre Kräuter bereits getrocknet an Ricola; die Quarantäne dient der Qualitätskontrolle: Bei Verdacht auf Insektenbefall werden die Säcke geöffnet, und die Lieferung kann zurückgegeben werden, bevor sie in den Verarbeitungsprozess gelangt. Nach dem Zwischenlagern werden die Kräuter geschnitten, erneut gelagert und schliesslich gemischt und dosiert. Die Mischung wird in grossen Papiersäcken durch einen unterirdischen Gang in die weitere Produktion befördert. Einzige funktionale Anreicherung: Im Obergeschoss erlaubt das «Forum» Besuchern einen Einblick in die Werkhallen und dient als kleines Besucher- und Informationszentrum.

Auch bezüglich der Tragstruktur weicht die Halle – bis auf die Schnittstelle zur Lehmwand – mit einem vorgefertigten Stahlbetonskelett nicht vom ­Üblichen ab. Eine innere Schicht temperiert die Aufenthalts- und Arbeitsräume, die Lagerhallen profitieren von den herausragenden temperatur- und feuchtigkeitsausgleichenden Eigenschaften des unverkleideten Lehms. Es ist die Hülle aus 45 cm dickem Stampflehm – gefertigt aus Lehm, Mergel und steinigem Aushubmaterial –, die die Werkhalle aus der Masse der Industriebauten heraushebt. 

Gebäude aus Stampflehm sind in diesen Dimensionen nur mit Elementen aus dem Werk zu realisieren: Dank der Vorfertigung konnten Baumeister und Lehmbauer gleichzeitig arbeiten. Würden die Wände in durchgehenden Schichten vor Ort erstellt, was prinzipiell möglich ist, würde dies aus logistischen Gründen die Bauzeit beinahe verdoppeln. Der vielen Fahrten wegen war eine Produktion im vorarlbergischen Schlins nicht konkurrenzfähig, wo der Hauptsitz von Martin Rauchs Firma Lehm Ton Erde Baukunst GmbH liegt. Deshalb gründete er ein Tochterunternehmen in der Schweiz und mietete eine Werkhalle im nahe gelegenen Zwingen, wo die rund 600 Elemente in einem halbindustriellen Verfahren gefertigt wurden. Um den Lehmbau konkurrenzfähig zu machen, hat Rauch einen Teil der Produktion automatisiert, denn die Elemente werden mit viel Handarbeit erstellt. Eine selbst entworfene Maschine beschickt die Schalungen mit der Mischung, die dann mit pressluftbetriebenen Stampfern von Hand verdichtet wird. Seit Neuestem führt diese Arbeit ein automatisch geführter Hammer aus – auch er ist eine Eigenentwicklung von Martin Rauch. 

Dass sich dieser Aufwand für ein einzelnes ­Projekt nicht lohnen würde, war dem Unternehmer bewusst. Die Rechnung ging dennoch auf, denn in der Fabrik­halle entstanden ebenfalls die Elemente für das dreigeschossige Besucherzentrum der Vogelwarte Sempach von :mlzd, das im Mai 2015 eröffnet wird. Nun wird die Produktion in Zwingen aber eingestellt – weitere Projekte in dieser Grössenordnung sind nicht dazugekommen.

Kontrollierte Erosion

Stampflehm kann ohne Rückstände und Abfälle endlos wiederverwendet werden. Ist die Konstruktion nicht vor Niederschlägen geschützt, waschen diese die feinkörnigen Teile aus, und das Bauwerk zerfällt: Erde zu Erde, Stein zu Stein. Diese Erosion muss bei einem Haus natürlich eingeschränkt werden. Hier kommt wiederum die Erfahrung der Schlinser Lehmbauer zum Tragen, denn Martin Rauch verfeinert mit seinem Team laufend die Konstruktionsdetails. Zu Beginn entwickelte er diese an einer Testwand neben seinem Atelier, später kam noch sein Wohnhaus hinzu, das er zusammen mit Roger Boltshauser entwarf und an dem er Konstruk­tionen auf ihre Tauglichkeit hin prüfen konnte. Seither beobachtet Rauch am lebenden Objekt, ob er mit den Details eine «kontrollierte Erosion» erreicht, wie er den Prozess des langsamen Auswaschens nennt. Denn die Spuren des Wassers sind weit mehr als bloss unvermeidlicher Abbau: Erst durch sie findet die Gestaltung einer Lehmwand ihren Abschluss. Ein Prozess, der sich laut den Beobachtungen von Martin Rauch mit der Zeit stabilisiert. So sind in Laufen die Stösse der Elemente noch zu erahnen – selbst wenn diese sorgfältig von Hand mit Lehm retuschiert wurden. Nach einigen Schlag­regen wird die Rauheit der Oberflächen das ­Bauwerk vollenden und das aus Einzelteilen gefügte Gebäude als homogenen Quader erscheinen lassen. 

Damit die Erosion auch wirklich kontrolliert verläuft, wurden in die Wänden alle 60 cm horizontale Schichten aus wasserfestem Trasskalk mit eingestampft, die den Fluss des Regenwassers und damit den Abbau der löslichen Schichten bremsen. Sie sehen aus wie liegende Nadelstreifen auf der erdigen Oberfläche des Gebäudes. Dachrand und Sockel sind in Beton ausgeführt, da an diesen Stellen die ­Wirkung des Regens verheerend wäre. Doch selbst wenn Schauer dem Haus zu sehr zusetzen würden – mit einer Kelle voll Lehm wäre der Schaden schnell ausgebessert. Die Eigenschaften des Materials sind verblüffend.

Materialgerecht entwerfen

Die lehmbauspezifischen Details des Kräuterzentrums stammen aus der langjährigen Praxis von Martin Rauch. Doch wie reagiert die Architektur auf das Material? Herzog & de Meuron halten sich in der Gestaltung angenehm zurück und überlassen dem Stampflehm die grosse Bühne. Das prägnanteste Element bilden vier kreisrunde Fenster, die mit ihren 5.5 m Durchmesser die Dimensionen der Halle aufnehmen. Ihre Form scheint auf den ersten Blick dem Gestaltungswillen der Entwerfer entsprungen, doch sie ist den Eigenschaften des Materials geschuldet. Der Stampflehm ist nur auf Druck belastbar, der Bogen bildet somit die statisch sinnvollste Öffnung. Gegen unten gespiegelt ergibt sich aus dem Bogen ein Kreis. Neben den Fenstern unterbrechen lediglich einzelne Tore und Türen – ihre Stürze werden durch Stahlprofile gehalten – die Lehmwände. Sie sind mit rohen Tannenlatten verkleidet und zitieren die landwirtschaftlichen Gebäude der Region. Auch die kurzen Vordächer aus Wellblech orientieren sich an den vernakulären Bauten der Umgebung. Dies passt zu Material und Nutzung – und verleiht dem Kräuterzentrum eine dem Handwerk entwachsene Erhabenheit. 

Anmerkung
1 Gerhard Mack: Sieben Bauten 1983–2014, Ricola – Herzog & de Meuron, Hrsg. Ricola AG, Laufen 2014. Die Publikation ist im S AM Schweizerisches Architekturmuseum erhältlich.

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