«Tout est à in­ven­ter»

«Es gilt, alles zu erfinden.»¹ So lautete der Tenor in dem Buch über das Rolex Learning Center, das zu dessen Einweihung 2010 erschien. Die bauliche Entwicklung der Ecole Polytechnique Fédérale de Lausanne (EPFL) im Lauf der 45 Jahre ihres Bestehens zeugt von diesem Erfindergeist. Die aktuelle Strategie, deren Protagonist Dominique Perrault ist, versöhnt den anonymen Raster mit namhafter Architektursprache.

Data di pubblicazione
28-11-2013
Revision
30-10-2015

Die EPFL hat in den letzten Jahren auf ihrem Campus ein architektonisches Feuerwerk gezündet. Die Vielfalt an einzigartigen Gebäuden ist eng mit einem Namen verbunden: Patrick Aebischer leitet seit der Jahrtausendwende als Rektor die Geschicke der EPFL. Für ihn spielt die Architektur eine wichtige Rolle. In der Begleitpublikation zur Ausstellung im Sommer 2013 an der EPFL über Dominique Perrault, der einige der Bauten der jüngsten Generation auf dem Campus realisiert, schreibt der Rektor: «Im 21. Jahrhundert werden die Universitätsanlagen zu Orten des Architekturschaffens werden. Sie sind experimentelle Baustellen für neue Funktionen, Orte, die man besichtigt, genauso wie man in der Vergangenheit gebaute Kathedralen besuchte.»2

Aebischer betrachtet die Gebäude «seiner» EPFL als Aushängeschilder für die Kompetenzen der Institution, als Pilgerstätten für Architekturinteressierte und als Brennpunkte des architektonischen Experiments. Und sie sollen die besten Forscher nach Lausanne locken. Das Konzept ist bekannt: Vitra und Novartis gehen ähnliche Wege, um sich von ihren Konkurrenten abzuheben. 

Es erstaunt daher nicht, dass in der aktuellen Phase der Fokus auf Gebäuden liegt, die individuelle Lösungen anstreben und sich vom ursprünglichen Masterplan aus den 1970er-Jahren lösen. Was sind die Motive, die hinter dieser Entwicklung stehen? Es lässt sich nicht genau belegen, wann das Universitätsgelände zum «Campus» umgetauft wurde, aber die Bezeichnung passt hervorragend zur Strategie von Rektor Aebischer.

Die Wochenzeitschrift «L’Hebdo» aus Lausanne kommentierte in ihrer Ausgabe von 28. 9. 2006 diese Entwicklung. Der Ausdruck «Campus» sei lang mit den amerikanischen Hochschulen verknüpft gewesen. Erst in der letzten Zeit sei der Begriff auch in der Schweiz gefallen: eine Folge der globalen Ausrichtung der Hochschulen, die sich nicht mehr nur auf dem heimischen Markt behaupten, sondern im globalen Wettbewerb der Bildungsstätten mit den ganz Grossen mithalten müssten.3 Als mustergültiges Beispiel dieser Strategie kann das Learning Center des japanischen Büros Saana gelten, das von 2007 bis 2009 errichtet und 2010 eingeweiht wurde. In ihm bündeln sich alle Aspekte wie in einem Brennglas. 

Poesie und Pioniergeist

Das Learning Center hat das Potenzial, weltweite Strahlkraft zu entfalten. Dass Kazuyo Sejima und Ryue Nishizawa, die beiden Köpfe von Sanaa, im Jahr seiner Eröffnung den Pritzker-Preis entgegennehmen konnten, hat diesen Effekt sicher befördert und das Ansehen der Institution gestärkt. Neben seiner räumlichen Poesie bietet das Learning Center zudem ein gerüttelt Mass an ingeniösem Pioniergeist. Dieser belegt die Leistungsfähigkeit des Ingenieurwesens, der Bauindustrie und der Architektur. Es wurde enorm viel Aufwand betrieben, um dieses einzigartige Gebäude zu erstellen, an dem sich indes auch die Geister scheiden.4 

Der Angreifbarkeit des Projekts war sich die Wettbewerbsjury sicher bewusst, als sie im November 2004 Sanaa den ersten Preis verlieh. Doch das Gebäude leistet weit mehr, als eine Bibliothek zu beherbergen und im internationalen Wettstreit als Markenzeichen für die EPFL zu dienen. Es verkörpert die zweite Vision, die Patrick Aebischer im oben genannten Text skizziert: «Der Universitätscampus des 21. Jahrhunderts soll ein Ort zum Leben, ein Ort des Austauschs, ein allen zugänglicher Ort sein. Früher bestanden Universitätsgelände hauptsächlich aus der Lehre und der Forschung gewidmeten Bauten. […] Die Universitäten müssen sich neu erfinden, sie müssen Räume schaffen, die den Austausch und soziale Aktivitäten fördern, und dürfen dabei ihre Hauptaufgaben – Lehre und Forschung sowie Innovation und Technologietransfer – nicht vernachlässigen.»5

Der Rektor ist nicht bloss auf der Jagd nach Preziosen, er möchte die Funktionalität des Campus und das Wesen der neuen Universitäten revolutionieren. Sich diesen generösen Raum im Learning Center zu leisten war also wesentlicher Teil des Programms. Die alten Vorlesungssäle schrumpfen im Learning Center auf einen Bildschirm, der Kontakt zwischen Lehrenden und Lernenden auf ein Glasfaserkabel. Deshalb sind die neuen Räume von Universitäten keine Hörsäle mehr, sondern Orte der ungezwungenen Begegnung, an denen die kostbarste Ressource der Schweiz gefördert wird: die Idee. Unter diesem Blickwinkel erfüllt das Center ein Bedürfnis, das vital ist für den Campus. 

Neue Bezugspunkte

Kazuyo Sejima und Ryue Nishizawa kümmerten sich offensichtlich nicht um den ursprünglichen Masterplan von 1970. Das Learning Center liegt auf der Wiese im südlichen Teil des Geländes wie ein auf dem See treibendes Blatt Papier. Die Wege rund um das Gebäude wollen nirgends richtig am Bestand anschliessen. Weder Höhe, Materialisierung noch Ausdruck nehmen irgendeinen Bezug auf die umliegende Gebäude. Um es mit Rem Koolhaas zu sagen: «Fuck context.»6

Im Fall von Sanaa geschieht dies höflich und beflissen, doch das Learning Center bleibt ein Solist. Vielleicht ist der Kontext der neuen Bibliothek einfach auf einer anderen Ebene zu suchen. Sie misst sich an anderen emblematischen Gebäuden von global agierenden Hochschulen oder solchen mit ähnlicher Nutzung, etwa an der Mediathek im japanischen Sendai (1998–2000) von Toyo Ito.7 Doch der Bezug des Hauses ist in diesem Fall auch ein direkter: Es zitiert die Landschaft, die den Campus umgibt, den See und die Berge. Damit weist es über das Universitätsgelände hinaus, sprengt dessen Grenzen und hebt sich selbst über die Agglomeration und die Stadt hinweg. 

Gebäude wie das Learning Center haben Auswirkungen auf den Masterplan: Sanaa löst sich komplett von dessen Regeln und stellt das Gebäude mit seinen spezifischen Bedingungen in den Vordergrund. Demgegenüber leitet Dominique Perrault eine Kehrtwende ein oder wagt einen Blick zurück – aber nicht im Zorn, sondern mit Sensibilität für die Qualitäten des ursprünglichen Bebauungskonzepts von Zweifel und Stickler. In dessen Rigidität entdeckt Perrault die robuste Logik und Nutzbarkeit, die Flexibilität, die der 7.20-m-Raster für die unterschiedlichsten Nutzungen bietet.

Nach der in der zweiten Etappe initiierten Aufweichung des Masterplans und dessen völliger Negierung durch Sanaa schafft Perrault bis 2017 mit der «Learning Bridge» eine Synthese der beiden Welten. Sie verbindet die Logik der 1970er-Jahre mit den Bedürfnissen der Gegenwart. Perrault beweist, dass auch innerhalb dieser Grenzen ein innovatives und poetisches Projekt seinen Platz finden kann. Behutsam erweitert er die Möglichkeiten des dreidimensionalen Rasters und verbindet die auf zwei verschiedenen Niveaus angelegten Verkehrswege miteinander. Auch für die Fragmentierung durch die zweimalige Verschiebung des Haupteingangs zum Campus schafft Perrault Remedur: Er kreiert einen neuen Zusammenhang, anstatt einen weiteren Stein zum vielgestaltigen Mosaik hinzuzufügen. 

Anmerkungen

  1. Francesco Della Casa, Eugène Meiltz: Rolex Learning Center, Lausanne 2010, S. 111.
  2. «Vers le Campus du 21e siècle» in: Anna Hohler (Hrsg.): Dominique Perrault Architecture, Territoire et horizons, Lausanne 2013, S. 15, deutscher Text in der Beilage zum Buch.
  3. Mireille Descombes: La Suisse invente ses campus, Artikel online seit dem 28.09.2006 
  4. In der Deutschschweiz nahm die Kritik teilweise geharnischte Züge an: Der Landverbrauch sei enorm, der Nutzen fraglich. Erst die aquariumsähnlichen Büroeinbauten ermöglichten, dass in dem Gebäude überhaupt gearbeitet werden könne. Geländer, Treppen und regelrechte Bergbahnen konterkarierten die Idee einer sanft ondulierenden Landschaft.
  5. «Vers le Campus du 21e siècle» in: Anna Hohler (Hrsg.): Dominique Perrault Architecture, Territoire et horizons, Lausanne 2013, S. 15, deutscher Text in der Beilage zum Buch.
  6. «Bigness or the problem of Large» in: Rem Koolhaas: S, M, L, XL, The Monacelli Press, New York 1995, S. 495. Koolhaas postuliert in seinem Aufsatz, dass Gebäude ab einer gewissen Grösse, man mag auch ihre Bedeutung dazu zählen, ihren eigenen Kontext schaffen. Ihr «Impact» ist genügend gross, um sich nicht darum kümmern zu müssen, was sie umgibt. 
  7. Auch die Mediathek in Sendai ist ein ingenieurstechnisches Meisterwerk, an dem der Ingenieur Mutsuru Sasaki beteiligt war. Das achtgeschossige Gebäude besteht aus prägnanten Fachwerken in Form von durchgehenden Röhren.
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