«Die Ästhe­tik ha­be ich nie als Ziel mei­ner Ar­beit ge­se­hen»

Für die Innenarchitektin Verena Huber ist das Beobachten immer die Ausgangslage. Dabei stehen der Gebrauch der Dinge und der Mensch als Benutzer im Zentrum. Die Empathie für andere Kulturkreise führte sie in die Ferne und inspirierte ihre Arbeit in Zürich.

Data di pubblicazione
30-05-2023

TEC21: Verena Huber, aus Ihren Arbeiten spricht viel Neugierde. Sie pflegen Ihre internationalen Kontakte intensiv. Wann begann dieses Interesse am Ausland?

Verena Huber: Sehr früh schon, in der Kindheit: Ich bin während der Kriegsjahre aufgewachsen. Das Haus, in dem ich zusammen mit meiner Familie wohnte, steht nahe der deutschen Grenze. Noch heute weiss ich genau, wo der Stacheldraht um Riehen herumgezogen war. Mein Bruder hob mich einmal hoch über diesen Zaun und sagte: «So, jetzt bist du im Ausland gewesen.» Als der Krieg dann beendet war, es war im Mai 1947 am Geburtstag des alemannischen Dichters Johann Peter Hebel, wurden die Grenzen um Basel langsam geöffnet. Wir gingen nach den Menschen suchen, die wir vor dem Krieg gekannt hatten. Meine Schwester beispielsweise fand unsere Haushaltshilfe aus der Vorkriegszeit wieder. Ich war damals zu jung um mitzugehen.

Später gingen Sie dann oft ins Ausland.

Wir wollten alle wissen, wie dieses Europa aussieht. Als ich an der Kunstgewerbeschule studierte, bin ich nach Paris, London, Athen, Berlin, Rom gereist.

Wie viel an Ihrer Arbeit ist schweizerisch, wie viel sehen Sie als Teil internationaler Traditionen?

Die internationalen Beziehungen sind ein Teil von mir. Mein Urgrossvater war einer der ersten Missionare in Indien. Mein Grossvater wurde zwar in der Schweiz geboren, ging dann aber als Leiter der Druckerei der Basler Mission in Mangalore ebenfalls nach Indien. Mein Vater wurde in Indien geboren und kam vierjährig in die Schweiz. Auf diese Wurzeln war ich immer stolz.

Sehen Sie sich demnach gleichzeitig als Schweizerin und Weltbürgerin?

Ja, sicher. Ich habe mein Land im internatio­nalen Rahmen immer klar als Schweizerin vertreten. Andere Länder haben sich bürokratischer entwickelt, hier aber hatten wir immer viel Freiheit, auch beruflich. Seit 2007 bin ich als Schweizerin Mitglied im europäischen Kulturparlament. Der Austausch mit den Leuten ist toll, dies hat mir auch das viele Reisen ermöglicht. Ich habe Leute getroffen, eingeladen, miteinander vernetzt und wurde auch oft eingeladen.

Verena Huber

 

*1938 in Basel, lebt und arbeitet in Zürich.

  • 1961: Abschluss an der Fachklasse für Innen­ausbau an der Kunstgewerbeschule Zürich
  • 1967–2002: eigenes Innenarchitekturbüro
  • seit 1969: auch als Fachjournalistin tätig
  • 1969–1973: Präsidentin der Vereinigung Schweizer Innenarchitekten (VSI)
  • 1973–1975: redaktionelle Mitarbeit bei der Zeitschrift «Das Werk»
  • 1973–1980: Vorstand und Präsidentin der Internationalen Föderation der Innenarchitekten (IFI)
  • 1980–2003: Lehrauftrag an der Architekturabteilung der Zürcher Hochschule in Winterthur
  • 1993: Herausgabe «Innenarchitektur in der Schweiz 1942–1992» mit Alfred Hablützel
  • seit 2004: Fachjournalismus und freie Projekte, Studienreisen nach Osteuropa mit Ausstellungen und Publikationen
  • 2005: Projekt und Ausstellung «Türen auf – wie wohnen wir, wie wohnen andere?»
  • 2014: Projekt «dazwischen – von der Wohnungstüre zur Trottoirkante»
  • 2018: Projekt und Publikation «Türen auf – damals / heute»

Sie haben sich sehr für den Austausch mit Gestaltenden im Ausland eingesetzt, erst im Vorstand, dann vier Jahre lang als Präsidentin der Internationalen Föderation der Innenarchitekten (IFI). Was fasziniert Sie daran?

Ich möchte andere Kulturen verstehen und einordnen. Dies ist anders als bei meinen Vorfahren: Ich will keine Missionarin sein. Vielmehr möchte ich ver­stehen, ohne zu urteilen. Die Vereinsarbeit fasse ich in diesem Sinn als kreatives Handeln auf.

Sie haben an der Kunstgewerbeschule bei Willy Guhl studiert. Wie war das für Sie?

Willy Guhl, so sagte man ihm nach, hatte am liebsten «Hirtenbuben», die er von Grund auf formen konnte. Die haben dann bei ihm in der Schule die Welt der Moderne entdeckt. Das war bei mir nicht möglich, ich hatte bereits meine ganze Kindheit in einem modernen Umfeld verbracht. Mich interessierten unterschiedliche und erweiterte Sichtweisen. Für Guhl war klar: Man arbeitet aus dem Einfachen heraus. Ich konnte das nicht immer nachvollziehen. Ich musste weiterdenken.

Welche weiteren Persönlichkeiten sind Ihnen aus der Studienzeit in Erinnerung?

Mit Kurt Thut, den ich als Lehrer sehr schätzte, pflegte ich bis an sein Lebensende einen engen Kontakt. Aber ich hatte mich der Haltung der Schule nie ganz untergeordnet. Mein Ziel war die Verbindung von intellektuellem Interesse und praktischem Gestalten. Neben dem Studium an der Kunstgewerbeschule besuchte ich Vorlesungen an der Uni und der ETH, und während den Sommerferien habe ich in Berlin ein Praktikum absolviert. Trotzdem wollte Guhl mich am Ende als Assistentin behalten. Aber das wollte ich nicht. Ich ging nach dem Studium ins Ausland und arbeitete ein Jahr lang in einem Architekturbüro in Kopenhagen.

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Ent­de­cken, Ver­ste­hen, För­dern, Ver­knüp­fen»Verena Hubers Arbeitsauffassung schliesst den gesamten Lebensraum des Menschen mit ein. Weggefährtinnen unterschied­licher Generationen würdigen die Innenarchitektin mit weitem Horizont.

Sie haben oft geschrieben, Innenarchitektur sei «das Gesicht des Raums». In diesem Gesicht komme alles zusammen: Benutzerfreundlichkeit und die Ambiance, die Materialtauglichkeit und die Ästhetik. In Ihrem Erläuterungstext zu den Um- und Neugestaltungen der SBB-Schiffe schreiben Sie, das Naturerlebnis der Schiffsreise solle im Innern ebenfalls spürbar sein. Woher kam diese Idee?

Auf einem Schiff über einen See zu fahren war für mich ein Ferienerlebnis. Wenn ich mit meiner Mutter in die Ferien reiste – mein Vater war ja gestorben, als ich sechs Jahre alt war – hat sie den Weg stets als Erlebnisreise gestaltet. Ferien gab es damals nur in der Schweiz: Wir fuhren Teilstücke mit dem Zug und stiegen dann aufs Schiff oder aufs Postauto um. Dieses Muster habe ich dann auch auf meinen Reisen durch Europa angewendet. Die Gestaltung der SBB-Schiffe in den 1990er-Jahren, drei für die Bodenseeschifffahrt und später drei, die auf dem Zürichsee verkehren, waren grosse Projekte. Als ich die Aufträge erhielt, wollte ich diese Erfahrung, diese Erlebnis­fähigkeit zum Ausdruck bringen.

Auf den Bodenseeschiffen gelang uns das mit der Kunst von Rosmarie Vogt. Auf den Zürichseeschiffen setzten wir Zeichen mit der Materialisierung und mit Treppentürmen wie grosse Dampfkamine.

Erlebnisfähigkeit ist ein schönes Wort. Sie haben die Innenarchitektur auch als Schnittstelle und als Scharnier zwischen der Architektur und den Menschen beschrieben.

Ja, diese Definition war ein wichtiger Moment für mich, ich habe sie 1967 an der IFI-Tagung in Amsterdam kennengelernt. Genau das beschreibt unsere Tätigkeit. Immer wieder sagten die Leute, dass der Innenraum etwas anderes sei als das Äussere der Häuser. Aber das stimmt gar nicht! Es ist der Massstab, der anders ist. Die Innenarchitektur operiert auf dem Massstab, der dem Menschen am nächsten ist. So konnte ich mich immer für die Innenarchitektur einsetzen. Der Mensch ist der Benutzer, der Gebrauch die Ausgangslage, die Wahrnehmung zählt.

Hat diese Idee von Innenarchitektur als Vermitt­lerin zwischen Haus und Mensch Ihre Praxis bestätigt?

Die Praxis genauso wie das Unterrichten, alles.

Einer Ihrer frühen Möbelentwürfe ist 1967 für die Zeitschrift «Flair» entstanden. Darin ist der «Flair-Boy» abgebildet, einmal farbig als Servier-Bar auf Rollen, dann in Schwarz-Weiss als Nähtisch, Pult für eine Schreibmaschine und Kommode für Kinder­spielzeug.

Die Zeitschrift ist dann leider nie erschienen, von «Flair» gibt es nur diese Nullnummer. Der «Flair-Boy» ist typisch für ein Möbel, das vom Gebrauch her entwickelt ist (vgl. «Entdecken, Verstehen, Fördern, Verknüpfen»). Die Wohnhilfe produzierte dann ein paar Dutzend davon. Vor Kurzem habe ich den Prototyp an ein befreundetes Kind weitergegeben. Für die Wohnhilfe habe ich auch weitere anpassbare Möbel entwickelt, Regale und Korpusse mit verschiedenen Einsätzen.

In den Siebzigern entstanden Ihre ersten wichtigen Innenraumgestaltungen: der Wollenhof in Bern und dann die Hand-Art in der Zürcher Altstadt. Bei beiden haben Sie viel Eigeninitiative gezeigt.

Der Wollenhof in Bern war ein ziemlich normaler Auftrag für die Innenraumgestaltung eines Ladenlokals. Das Besondere an der Geschichte des Wollenhofs ist die Ordnung der Farben: Wir wollten, dass die gesamte Regalwand entsprechend dem Farbkreis geordnet ist, also die gelbe Wolle neben dem gelben Baumwoll- und Sockengarn liegt und so weiter, eben nicht wie üblich die gleichen Sorten nebeneinander.

Sie haben das System auf den Kopf gestellt.

Wir konnten das durchsetzen, weil ich angeboten habe, dass wir das Umräumen bezahlen, wenn es nicht funktioniert. Sie haben dann nie umgeräumt.

Ihre Wertschätzung für das Textile und das Handwerk überhaupt, der direkte Kontakt mit dem Material ist in Ihrer Arbeit und auch hier in Ihrer Wohnung gut spürbar.

Das kommt von meiner Mutter. Sie war Schneiderin, und wir haben zu Hause alles mit Textilien selbst gemacht, ich kann das heute noch und gebe das auch immer noch weiter. Meine Tante, die das Tessiner Heimatwerk aufgebaut hat, leistete auch ihren Beitrag. Sie hat eine Kultur in die Familie eingebracht, in der ich mich sehr wohlfühlte. Beim Feriendorf für die SBB-Angestellten in Scuol haben wir Tessinerstühle eingesetzt, wie ich sie aus meiner Kindheit kannte. Tessiner Stuhlmacher, die ich über meine Tante kannte, haben sie angefertigt.

1980 waren Sie zum ersten Mal in der damaligen Sowjetunion, wie kam das?

Ich war für einen interdisziplinären Workshop in Tiflis, Georgien, es war zu Breschnews Zeit. Damals musste man das Handwerk im Osten suchen gehen, es lag nichts offen auf der Strasse. Es war nur museal vorhanden, die Produktion war stark indus­trialisiert.

Sie haben sich auch dort, wie schon in der Schweiz, für die Spuren des Gebrauchs interessiert. War Ihr Interesse am Wohnen dort eine Fortsetzung der Wohnbauforschung in der Schweiz?

Die Wohnbauforschung geht weit zurück, ich habe im Rahmen des Schweizerischen Werkbunds (SWB) in einer Arbeitsgruppe für die Forschungs­kommission Wohnungsbau des Bundes mitgemacht. Daraus entstand 1977 meine Publikation «Grundlagen zur Auswahl und Benützung der Wohnung». Die Arbeit für die Forschungskommission ging noch etwas weiter, daneben haben sich neue Interessen und Dinge entwickelt, eben auch die Reisen. Und auch in meinen Unterricht am Technikum in Winterthur (heute ZHAW) sind diese Interessen eingeflossen: Ich habe die Studierenden immer dazu angehalten, die vorgefundene Situation genau anzuschauen. Wir haben viele Orte besucht und das Gespräch mit den Beteiligten gesucht.

Der Workshop in Tiflis war für Sie ein Höhepunkt. Ihre Zeichnungen bringen alte Holzbautechniken und Vorfertigung zusammen. Das Vermitteln zwischen den Massstäben, von dem Sie schon gesprochen haben, wird hier offensichtlich.

Wir haben traditionelle und moderne Bautechniken analysiert und miteinander verbunden. Ich glaube, das ist eines meiner spannendsten Projekte, es ist Entwurf und Dokumentation in einem. Juri ­Soloviev, der Leiter des sowjetischen Design-Instituts (VNIITE), machte es möglich, dass der Workshop 1980 interdisziplinär für Mitglieder anderer Vereinigungen geöffnet wurde. Für Lotchini, eine projek­tierte Satellitenstadt von 17000 Einwohnern, sollten wir ein Quartier­zentrum und Haltestellen für den ­öffentlichen Verkehr planen, einen Aussenraum und Grünzonen gestalten. Erwartet wurden Analysen, Konzepte und Entwürfe.

Warum ist das Projekt nicht umgesetzt worden?

Das waren politische Gründe. Es ist in eine Zeit gefallen, als von Moskau aus viel zentralisiert wurde.

In Ihrem Archiv liegen die eigenen Entwürfe, die Fotos Ihres Elternhauses und die Reisetagebücher gleichwertig nebeneinander. Wann unterscheiden Sie zwischen Beobachten und Entwerfen?

Es gehört zusammen, die Wahrnehmung ist mein Ausgangspunkt und meine Inspiration.

Interessieren Sie die Spuren des Gebrauchs mehr als die Form?

Der Gebrauch ist der Ausgangspunkt, die Spuren kommen erst nachher. Die formale Welt spielt da nur am Rand mit, mich hat der Inhalt interessiert. Wenn es nur um die Form ging, konnte ich meistens nicht mitmachen – in dieser Hinsicht sind mir meine osteuropäischen Freunde wohl näher als die Schweizer Kollegen. Mich interessieren die Menschen, ihre Traditionen, ihre Geschichte, wo sie herkommen und wie es weitergeht.

Hat es Sie wirklich so überrascht, dass Sie 2022 den Schweizer Grand Prix Design bekommen haben?

Es war wahrlich ein Schock. Ich habe nie eine solche Auszeichnung angestrebt und nie die Ästhetik als Ziel meiner Arbeit gesehen. Ich denke, man sollte mich nicht allein am ästhetischen Wert meiner Produkte messen, sondern auch am Werdegang eines Projekts. Es hat mich deshalb gefreut, dass ein anderes Denken prämiert wird.

Ein Denken in Prozessen also?

Ja, ein Denken, das nicht nur auf das Produkt fokussiert. Es geht immer darum, zu verstehen, was schon vorhanden ist. Und dann um das, was man als Eingriff wählt, um die Geschichte weiterzuschreiben.

Die ausführliche Version dieses Artikels ist erschienen in TEC21 17–18/2023 «Raumgestaltung nahe am Menschen».

Das vollständige Gespräch ist nachzulesen in der Publikation zum Schweizer Grand Prix Design 2022 nachzulesen. Bundesamt für Kultur BAK (Hg.), Schweizer Grand Prix Design 2022, Zürich: Scheidegger&Spiess 2022.

Archiv Innenarchitektur Schweiz ai-s

 

Noch häufiger und vor allem unbeachteter als Gebäudehüllen fallen Innenausstattungen der Zerstörung anheim. Vor wenigen Jahren wurde die Notwendigkeit für ein Archiv der Schweizer Innenarchitektur erkannt. Auf Anregung von Verena Huber, die während der Pandemie ihr eigenes Œuvre geordnet und sorgfältig dokumentiert hat, fand sich eine Gruppe ehrenamtlich tätiger Innenarchitektinnen und Architekten zusammen. Ihr Ziel ist es, die Dokumentation von Innenräumen als Gesamtkunstwerk sicherzustellen und für Ausstellungen und Forschungsarbeiten zugänglich zu machen.
Statements von Verena Huber zu den Aufgaben des Archivs an der Gründungs­versammlung am 18.5.2022: (Text: Hella Schindel)

  1. Innenarchitektur ist kurzlebig. Innenräume werden oft verändert. Wir können im Archiv Originalent­würfe festhalten.
  2. Jedes Archiv schreibt Geschichte. Bei der Innenarchitektur steht der Benutzer der Räume im Zentrum. ­Darum schreiben wir mit unserem Archiv lebendige Geschichten.
  3. Gestaltung ist einem stilistischen Wandel unterworfen. Dank unserem Archiv können wir diese Bewegungen erfahren und nachvollziehen.
  4. Der Beruf des Innenarchitekten hat einen breiten ­Horizont. Mit der Vielfalt der Berufsleute und ihrer Werke entwerfen wir ein farbenfrohes Berufsbild.
  5. Wir pflegen die Werte unseres Berufs und verhelfen ihnen durch die Vermittlung zu neuem Leben.
  6. Unser Archiv vernetzt Generationen durch gegenseitige Wertschätzung. Gespräche und Treffen von Jung und Alt sind unsere kulturelle Leistung.

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