Kli­ma­neu­tral, aber ni­cht au­tark

Die Akademien der Wissenschaften unterzogen die nationale Energiestrategie einem Stresstest für die Versorgungssicherheit. Der Befund: Ohne Import von Energieträgern geht es auch langfristig nicht. Die Zeit der «beliebig verfügbaren und günstigen Energie» sei jedoch vorbei.

Data di pubblicazione
13-09-2022

Energie ist wandelbar, verschwindet aber nie. Und genauso umtriebig dreht die Energiefrage in den jüngsten Gesellschaftsdebatten ihre Runde. Nach der Covid-19-Pandemie wundern sich viele, wie reibungslos das Arbeits- und Alltagsleben auch mit weniger Energie funktioniert. Und nun – seit Beginn des Ukrainekriegs – sorgt sich die Bevölkerung, ob genug Strom und Erdgas fliessen werden. Weil die inländische Versorgung sehr stark von ausländischen Energiequellen abhängt, muss die Politik für diesen Winter improvisieren. Demgegenüber konzentriert sich die Wissenschaft darauf, die langfristigen Varianten für eine sichere Energiezukunft zu studieren.

Die Energiekommission der Akademien der Wissenschaften Schweiz hat dazu erstmals einen Masterplan entworfen, um die künftige Energieversorgung sowohl klimaneutral als auch zuverlässig zu organisieren. Für Konstantin Boulouchos, emeritierter ETH-Professor und Sprecher der Kommission, ist die zentrale Erkenntnis: «Die Reduktion der CO2-Emissionen auf Netto-Null ist möglich; auch die Energieimporte lassen sich im Vergleich zu heute deutlich senken.» Allerdings müssten sich Politik, Wirtschaft und Gesellschaft dafür enorm anstrengen. Die Herausforderungen seien technischer, aber auch politischer Natur.

Auf 10 % problemlos verzichten?

Die Kommission veröffentlichte den fast 70-seitigen Report «Schweizer Energiesystem 2050: Wege zu netto null CO2 und Versorgungssicherheit» zum Abschluss der Sommerferien. Die Wissenschaftsakademie befragte dazu 40 Forscherinnen und Forscher aus Fachhochschulen, Universitäten und dem ETH-Bereich und erfasste deren Informationen und Inputs in dreijähriger Textarbeit. Insofern stellt der Abschlussbericht eine wissenschaftliche Synthese zum Stand der Forschung im Versorgungssektor dar.

Als Hauptergebnis wird ein «5-E-Konzept» präsentiert, das die Dekarbonisierung des Energiesektors ermöglichen soll. Demnach ist die Nachfrage nach Energiedienstleistungen verhandelbar. «10 % des aktuellen Verbrauchs könnten eingespart werden, ohne Komfortverlust für die Gesellschaft», präzisiert Urs Neu, stellvertretender Geschäftsleiter des Forums für Klima und globalen Wandel (ProClim).

Unerlässlich sei auch, die Effizienz beim Konsum zu verbessern. «Das bringt einen Zeitgewinn, bis erneuerbare Energieträger den Platz der fossilen vollständig einnehmen», erklärt Konstantin Boulouchos. Weil die neuen Quellen allein keine klimaneutrale Versorgung garantieren, braucht es weitere E-Massnahmen wie das Recycling von Energie (als Abwärme) und Material sowie eine aktive Entnahme von CO2 aus der Atmosphäre, etwa durch die noch in Entwicklung befindliche CCS-Technologie.

80 % mehr Strom

Konkrete Zahlen liefern die Forscher in ihrer Synthese zum absehbaren Mehrkonsum von Strom. Im Vergleich zu heute werde die Nachfrage um 50 bis 80 % steigen, weil verschiedene Verbrauchssektoren – wie der Individualverkehr und Gebäudeheizungen – elektrifiziert werden. Diese Prognosen bestätigen im Übrigen bereits veröffentlichte offizielle Abschätzungen. An der Medienkonferenz betonten die Akademievertreter, dass die nationale Energiebehörde eine Zunahme des gesamten Strombedarfs in ähnlicher Grössenordnung erwarte.

Aber wie lässt sich die wachsende Nachfrage ausschliesslich erneuerbar und ohne Kernkraft oder Erdgas decken? Neben der Wasserkraft bringt die Forschungsgemeinde vor allem die «vielversprechende» Photovoltaik (PV) ins Spiel: Solarstrom deckt knapp 5 % des aktuellen Inlandbedarfs. In den kommenden drei Jahrzehnten müssen 10- bis 30-mal mehr dazukommen, rechnet Konstantin Boulouchos vor. Die gegenwärtige Rate beim PV-Zubau sei folglich mindestens zu verdoppeln. Und ein Mehrfaches wird notwendig, um auch die Winterlücke solar zu schliessen. Die Energieexperten halten ein Vollversorgungsszenario jedoch für unrealistisch und schlagen stattdessen vor, den Restbedarf in der kalten Jahreszeit mit synthetischen, klimaneutral erzeugten Brennstoffen zu decken. Ein Beispiel dafür ist Wasserstoff, auf den künftig ebenso die Industrie, der Güterverkehr und der Flugverkehr angewiesen seien, bestätigt der emeritierte ETH-Professor.

Zu hohe Kosten für autarke Versorgung

Auch hierzu werden erstmals Zahlen präsentiert: Wird der benötigte Wasserstoff in der Schweiz hergestellt, müsste die heutige PV-Kapazität bis 2050 um das 60-Fache erhöht werden. Erst dann würde so viel Solarstrom im Schweizer Sommer erzeugt, dass die Überschüsse zur saisonalen Speicherung ausreichen würden. Dieser Anteil wäre dann exklusiv für die Produktion von synthetischen Brennstoffen reserviert.

Dass eine hundertprozentige Selbstversorgung erstrebenswert ist, bezweifelt die Energiekommission der Wissenschaftsakademie allerdings. «Die Kosten und der Flächenbedarf für weitere PV-Anlagen wären derart gross, dass ein solches Szenario unrealistisch erscheint», erklärt Urs Neu. Auf jeden Fall müsste ein Mehrfaches der in der Schweiz verfügbaren, solar nutzbaren Dachfläche von rund 200 km² zur Verfügung stehen.

Die Experten plädieren stattdessen für den Import von klimaneutralen Brennstoffen, zumal die Produktion in sonnenreicheren Ländern wesentlich günstiger ist. «20 bis 40 % des Inlandsbedarfs lassen sich langfristig über Importe decken», schlagen die Energieexperten vor. Im Vergleich zu heute ist das eine markante Verbesserung der Versorgungssicherheit: Der aktuelle Energiekonsum der Schweiz wird zu 75 % mit fossilen Brenn- und Treibstoffen gedeckt, die allesamt aus dem Ausland stammen.

Gemäss Urs Neu kommen weitere Änderungen auf die Energiekonsumenten zu: Importierte, klimaneutrale Brennstoffe werden für Industrie und Gesellschaft begehrter, aber auch rarer und kostspieliger. «Ein Ende der Zeiten mit beliebig verfügbarer, billiger Energie zeichnet sich ab.» Und dennoch: Ein autarkes Versorgungssystem ist für die Expertenkommission der Wissenschaftsakademien nicht erwünscht. «Ganz unabhängig vom Ausland funktioniert die klimaneutrale Schweiz auch 2050 nicht.»

Immerhin erscheint die Zeit fern genug, um sich darauf vorzubereiten. Die Energieforscher schlagen der Politik jedoch vor, möglichst schnell Ausschau nach verlässlichen Partnern für einen klimaneutralen Energiehandel zu halten. Auch für die kurzfristige Agenda haben die Energieforscher eine Empfehlung: Das hängige Stromabkommen mit der EU soll zwingend abgeschlossen werden, sagt das Akademiemitglied Urs Neu.

Links zum Synthesepapier «Schweizer Energiesystem 2050» der Akademien der Wissenschaften Schweiz
Kurzfassung

Grundlagenbericht
Medienkonferenz

Die Akademien der Wissenschaften Schweiz sind ein Verbund der vier wissenschaftlichen Akademien der Schweiz: der Akademie der Naturwissenschaften Schweiz SCNAT, der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften SAGW, der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften SAMW und der Schweizerischen Akademie der Technischen Wissenschaften SATW. Sie umfassen nebst den vier Akademien die Kompetenzzentren TA-SWISS und Science et Cité sowie weitere wissenschaftliche Netzwerke. Die Akademien der Wissenschaften Schweiz vernetzen die Wissenschaften regional, national und international.

 

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