«Ei­gen­tlich sind wir ein Stör­fak­tor»

Obwohl das nationale CO2-Gesetz nur den Betrieb von Gebäuden reglementieren will, wäre auch deren Erstellung ein wirksamer Klimahebel. Die Architektinnen Barbara Buser und Kerstin Müller plädieren dafür, auf neue Baustoffe möglichst ganz zu verzichten.

Data di pubblicazione
05-04-2021


TEC21: Frau Buser, Frau Müller, Sie sind mit Ihren Büros an der Aufstockung einer alten Industriehalle in Winterthur beteiligt, für die ein grosser Anteil an älteren Bauteilen wiederverwendet werden konnte. Beim Baustellenrundgang erzählte ein Handwerker stolz, wie sehr das Gebaute der anfänglichen Visualisierung gleicht. Hat Sie das Resultat selber auch positiv überrascht?

Barbara Buser: Wir sind überglücklich. Eine solche Übereinstimmung ist nicht selbstverständlich, wenn man zirkulär baut. Denn dafür lassen sich die Bauteile nicht wie sonst üblich aus einem Katalog auswählen. Wir mussten unterschiedliche Quellen sondieren; zudem wollten wir auf möglichst kurze Transportwege und eine zeitnahe Verfügbarkeit achten.


TEC21: Klappt die Materialbeschaffung also wie erhofft?

Barbara Buser: Bei den Fenstern hatten wir grosses Glück. Wir bekamen Fenster in hoher Qualität in Aussicht gestellt, mit Dreifachverglasung und Alurahmen. Doch als wir das Abbruchobjekt dafür erstmals besichtigten, war der Abbruch bereits im Gang. Deshalb mussten wir schnell reagieren, um die Fenster fein säuberlich und sorgfältig ausbauen zu können.

Kerstin Müller: Vor einer Demontage brauchen wir Zeit, um die bauphysikalischen Eigenschaften der wiederverwendbaren Bauteile zu messen. Diese Erfahrung machen wir regelmässig: Zwar finden viele das Wiederverwenden gut, aber eigentlich sind wir ein Störfaktor für gewohnte Abläufe beim Gebäuderückbau. Die zirkuläre Idee ist noch nicht überall angekommen; das System läuft automatisch so, dass vieles einfach im Abbruch landet.

Barbara Buser: Wir kämpfen fast immer gegen Unverständnis und Windmühlen, nicht nur auf Abbruchbaustellen. Die Bauwirtschaft ist nicht dafür eingerichtet, Abfälle zu reduzieren.


TEC21: Wie klimafreundlich ist das zirkuläre Bauwerk in Winterthur?

Kerstin Müller: Die städtische Baubehörde hat von uns das Einhalten des Effizienzpfads Energie verlangt. Der bilanzierte Befund für das neu sechsgeschossige Ateliergebäude ist: Die Aufstockung erzeugt deutlich weniger CO2 als ein Neubau und kostet das Klima nur so viel wie eine Gebäudesanierung. Oder anders formuliert: Mit der zirkulären Bauweise sparen wir mehr Emissionen, als für den Betrieb in den nächsten 60 Jahren an Treibhausgasen verursacht werden. Das ergibt eine Analyse des Amts für Hochbauten der Stadt Zürich, das dafür Vergleichswerte aus seinem eigenen Portfolio heranzog.

Barbara Buser: Mit dem Weiter- und Wiederverwenden von Bauteilen sparen wir viel mehr graue Energie als bei einem 2000-Watt-kompatiblen Neubau. Wenn man die populäre Ersatzneubaustrategie daran misst, wird deutlich: Dort wird nur auf die Ökobilanz im Betrieb geschaut.

Kerstin Müller: Auch unsere Aufstockung enthält graue Energie. Sie steckt vor allem im Recyclingbeton, der in geringem Umfang für das Fundament und die Wandscheiben zur Erdbebenaussteifung verwendet wurde. Recyclingbeton ist gut für die Kreislaufwirtschaft, weil kein neuer Kies ausgebaggert werden muss. Doch im Vergleich zu herkömmlichem Beton werden fast gleich viele Treibhausgase erzeugt. Zement ist ein CO2-Treiber in jeder Betonvariante. Die Bauindustrie steht da vor einem Riesenproblem.

Barbara Buser: Solang es keine neuen Materialien aus klimafreundlicher Produktion gibt, muss man Bestehendes weiterverwenden. Wenn wir ernsthaft CO2 sparen wollen, dürfen wir nicht bedenkenlos Neues verbauen.


TEC21: Bauteilbörsen gibt es schon länger. Frau Buser, Sie selbst haben bei der Gründung vor über 30 Jahren mitgewirkt. Warum lässt ein Erfolg auf sich warten?

Barbara Buser: Wir gründeten die erste Bauteilbörse der Schweiz in Basel. Inzwischen ist sie in 16 Städten vertreten. Doch immer noch muss man um jedes einzelne Bauteil kämpfen. Die Bauteiljagd ist sehr aufwendig, obwohl sich damit kein Geld verdienen lässt. Helfen würde eine schweizweite Koordination, sodass jedes Ge­bäude – wenn es denn tatsächlich abgerissen werden muss – zum grösstmöglichem Grad in seine Einzelteile zerlegt und wiederverwendet werden kann.

Kerstin Müller: Eine koordinierte Bauteiljagd heisst: Bauteile funk­tional zu klassieren und nach Stärken und Schwächen oder in Bezug auf den Einbaumassstab zu registrieren. Ein Materiallager muss so spezifiziert sein, dass Architekten für jegliche Projekte einfach darauf zugreifen können.

Barbara Buser: Ich zitiere den Bundesrat: «Baumaterial wieder- und weiterzuverwenden ist eine echt komplizierte Geschichte.» Mit diesem Argument wurde ein parlamentarischer Vorstoss für mehr Wiederverwendung vor vier Jahren abgelehnt. Das Bauwerk in Winterthur beweist nun, was sich dennoch errichten lässt. Das Resultat ist repräsentabel. Es ist Architektur und keine Baste­lei. Form follows availability.


TEC21: Braucht es also die Materialwende? Oder wie lang reicht das Angebot aus dem Urban Mining?

Barbara Buser: Die mit Abstand wirksamste Klimaschutzmass­nahme ist, nicht neu zu bauen – zumindest, bis klimafreundliche Baustoffe erhältlich sind. Aber solang man Gebäude abreisst, sind Abbruchobjekte selbst eine unglaublich reiche Materialquelle. Ansonsten bleibt der Bauwirtschaft nichts anderes übrig, als auf nachwachsende Rohstoffe aus lokaler Herkunft auszuweichen wie Holz, Stroh oder Lehm.  

Kerstin Müller: Es wird sich etwas ändern müssen. Der Katalog an Baustoffen, von dem die heutige Architektur lebt, verführt zu einem unglaublichen Luxus. Aber macht es Sinn, eine Natursteinfassade aus Südamerika zu importieren? Soll man hübsches Material bestellen, ohne zu wissen, unter welchen ökologischen und sozialen Bedingungen es hergestellt wird? Den Status quo möchten wir hinterfragen und mit einem Materialpool arbeiten, der schon im Bestand steckt. Als Architektin fordert mich ein beschränktes Angebot kreativ heraus.


TEC21: Das Schweizer Stimmvolk wird wohl diesen Sommer über die Totalrevision des CO2-Gesetzes befinden. Darin wird zwar ein Grenz­wert für den Betrieb von Gebäuden festgelegt; für die Er­stellung wird aber nichts verlangt…

Kerstin Müller: Gerade bei Neubauten müsste die Emission nicht nur im Betrieb, sondern auch für die Erstellung ein relevantes Kriterium sein. Das Erstellen eines Gebäudes erzeugt mindestens doppelt so viel CO2 wie ein 60 Jahre dauernder Betrieb. Dass gesetzlich nichts verankert ist, ist gleichwohl eine Chance. Wir dachten ursprünglich daran, das zirkuläre Bauen als Instrument für die Klimakompensa­tion zu nutzen. Gespräche über den Handel mit CO2-Zertifikaten haben wir geführt, sind aber mit Dienstleistern nicht einig geworden.

Barbara Buser: Die Idee dahinter ist: Mit dem Erlös von CO2-Zer­tifikaten können wir Mehrkosten bei zirkulären Projekten aus­gleichen. Bislang bleibt der Mehr­aufwand an uns hängen.


TEC21: In der Architekturszene wächst das ökologische Engagement, und die Gesellschaft anerkennt das. Frau Buser, Sie haben letztes Jahr den Prix Meret Oppenheim erhalten; die Bewegung «Countdown 2030» den Schweizer Kunstpreis. Ist Klimaschutz in Ihrem Berufsfeld angekommen?

Barbara Buser: Die Preise sind toll, auch weil sie das Augenmerk von aussen auf das aktuelle Architekturschaffen richten. Doch was die Publicity betrifft, sind wir Opfer der Pandemie. Eine Verleihung fand nicht statt, und die Präsenz in den Medien war bislang eher bescheiden. Dennoch erhöht sich die Aufmerksamkeit unter Forschern, Investoren und Architekten, weil sich etwas bewegt.


TEC21: Spricht die Kreislaufwirtschaft gestaltende Architekten direkter an als das nachhaltige Bauen mit seinen spezifischen Bilanzierungen und Nachweisverfahren?

Kerstin Müller: Ich würde das nicht auseinanderdividieren. Die Ursachen der Probleme sind die­selben: fossile Energie und die Materialfrage. Daran geknüpft sind auch Landnutzungsfragen oder
der Verlust von Biodiversität. Man kann sich nicht für ein Schonen von Ressourcen entscheiden und andere negative Aspekte ausblenden. Sonst ist es nur Marketing.

Barbara Buser: Es geht um eine neue Art der Kreativität in der Architektur. Und um ein Handeln aus der Not heraus.

Das Video einer Begehung der Aufstockung in Winterthur gibt es hier.

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