Von der Ver­sor­gung zur sor­gen­den Ge­mein­schaft

ETH Forum Wohnungsbau 2018

Im Mittelpunkt der Betrachtungen an der Tagung des diesjährigen Forums Wohnungsbau der ETH standen die Herausforderungen, die sich aus dem demografischen Wandel unserer Gesellschaft ergeben. Mithilfe technologischer Innovationen und neuer Märkte verändert sich das gewohnte Zuhause zu einem Ort, an dem Menschen auch im Alter selbstbestimmt leben können. Referenten verschiedenster Fachgebiete erläuterten ihre Forschungsergebnisse, die sich zu einem facettenreichen Bild zusammensetzen.

Data di pubblicazione
06-06-2018
Revision
06-06-2018

Seit dem Jahr 2000 sind in der Schweiz mehr Menschen über 65 als unter 15 Jahre alt – und dies ist nur ein Zwischenstand auf dem Weg in eine von Senioren dominierte Bevölkerung. Das Angebot an spezifischen Dienstleistungen, Forschungsinhalte aus dem Bereich der unterstützenden Technologien und deren Integration in das Wohnumfeld waren Inhalt der Vorträge. Entsprechend den vielen Aspekten, die dieses Thema berührt, kamen Referenten unterschiedlicher Gebiete zusammen: Neben Architekten und Stadtplanern sprachen Fachleute der Soziologie, der Mobilität, der Digitalisierung oder der Politik. Die enorme Spannweite des Themas macht es umso wichtiger, die Experten an einem Ort zu versammeln und den Austausch zu fördern.

Besonderes Interesse galt Denkansätzen, die den Verbleib älterer Menschen in ihrer vertrauten Umgebung erleichtern. Wobei die Phase des Alterns in dieser Hinsicht, also in Bezug auf die schwindende Bereitschaft zum Wohnortwechsel, bereits bei den 45-Jährigen beginnt. Digitalisierte Hilfsmittel und Robotik werden in absehbarer Zukunft nur einen kleinen Teil der Probleme lösen können. Wichtiger ist die Erschaffung eines vielfältigen Sicherheitsnetzes und der möglichst langfristige Erhalt der aktiven Kommunikation im direkten und familiären Umfeld. Immobilienwirtschaft und Immobilienbewirtschaftung müssen auf diese Fragestellungenreagieren und nach Lösungsansätzen suchen.

Ob die gleichberechtigte Einbindung der älteren Mitmenschen gelingt, hängt massgeblich von der gesellschaftlichen Anerkennung ihrer Bedürfnisse ab. Digitale Entwicklungen können diese Aufgabe erleichtern, aber nicht ersetzen. Als grosse Erkenntnis kristallisiert sich heraus, dass die Bemühungen um neue altersgerechte Wohnungen gegenwärtig und in naher Zukunft nur einen geringen Teil der Gesellschaft interessiert. Stattdessen lässt der Wunsch nach Geborgenheit, die die Älteren in der vertrauten Umgebung finden, sie viele Unbequemlichkeiten in Kauf nehmen. Die Entwicklungen müssen darauf zielen, die bestehenden Wohnungen mittels verbesserter Dienstleistungen an ihre Bewohner anzupassen, sei es baulich oder digital. Dies zu bewerkstelligen, ohne enorme Kosten zu verursachen, bleibt eine schwierige Aufgabe.

Alan Greenfield, amerikanischer Autor und Urbanist, eröffnete den Tag mit einer radikalen These: Nach seiner Auffassung steht uns ein «Unnecessariat» bevor – durch das Internet der Dinge, durch digitale Fabrikation und Blockchains, ein dezentrales Vernetzungssystem, mache der Mensch sich selbst überflüssig. Man könne sich bewusst für eine solche «posthuman society» entscheiden. Wichtig ist ihm die Aufklärung der Gesellschaft über ein solches Zukunftsmodell, verbunden mit dem Hinweis auf die Möglichkeit der Gestaltbarkeit.

Schwerpunkt I: Aging in place

Der Gesundheits- und Sozialpsychologe Carlo Fabian beschäftigt sich mit der Gestaltung von Stadträumen hinsichtlich der selbstständigen Benutzbarkeit durch eine ältere Mitbürgerschaft. Er stellt eine unbewusste Diskrimierung der Älteren fest, indem sie auf Stereotype reduziert werden. Dabei hat kaum eine Bevölkerungsgruppe diversere Bedürfnisse und Wünsche als die der Älteren. Ziel der Studien zur Quartiersentwicklung ist das Ermöglichen von sozialer Teilhabe in einem baulichen Umfeld, das in physischer, gesellschaftlicher und gedanklicher Dimension Orientierung und Sicherheit bietet. Das bedarf einer grundsätzlichen Anerkennung der Notwendigkeit von Partizipation.

Fabian Carlo: Planung und Stereotypen: Ageism in der Nachbarschaft

Corinna Heye, Geschäftführerin des Forschungs- und Beratungsunternehmens raumdaten, bot den verschiedenen Statements statistischen Halt. Ihre Analysen aufgrund von Zahlen verbildlichen den Ist-Zustand unserer Wohnumgebung: So ist es doch einigermassen bestürzend, dass ein Drittel der Schweizer Bevölkerung unabhängig vom Alter im Einfamilienhaus lebt. Dabei ist die Verteilung auf städtische und ländliche Regionen altersunabhängig gleichbleibend. Die beanspruchte Wohnfläche nimmt mit dem Alter zu, weil die Wohnung nicht gewechselt wird, wenn der Haushalt sich verkleinert. Preise für kleine Wohnungen, die diejenigen der bestehenden grossen Wohnung übersteigen, tragen natürlich zu einer gewissen Trägheit bei.

Je älter die Menschen sind, desto seltener leben sie im Neubau, obwohl ein guter Teil der Neubauten gerade für das Wohnen im Alter entwickelt wird: Nur 23 % wünschen sich eine barrierefreie Umgebung, deutlich reizvoller sind Attribute wie Balkon oder Terrasse. Alles das sind Indizien für die Bedeutung eines vertrauten Wohnumfelds, auch wenn es physisch nicht mehr zum eigenen Leben passt. Gewohnheit führt zu einer fehlenden Bewegung auf dem Wohnungsmarkt und macht die Bedürfnisse, nämlich das Anpassen der bestehenden Wohnungen zum Nutzen älterer Bewohner, prognostizierbar.

Corinna Heye: Alt werden nur die anderen

Zur praktischen Umsetzung dieser Gedanken sprach Gabriele Steffen, die als Bürgermeisterin die Entwicklung des Französischen Viertels in Tübingen begleitet hat. Mit Blick auf die Alterung der Gesellschaft hob sie die Bedeutung der innerstädtischen Lage, eine Struktur der kurzen Wege und die Durchmischung von Arbeitsplätzen und Wohnungen hervor. Eine Vorreiterrolle nahm das Tübinger Projekt auch hinsichtlich der Partizipation ein, bei der gerade Rentner willkommen sind. Aus den Initiativen sind vielfältige Gemeinschaften hervorgegangen, die das Quartier bis heute prägen. Gebrechlichere Mitmenschen werden in der Gesellschaft gehalten, ohne umsiedeln zu müssen. Die Einbindung erleichtert das Aufbrechen von Denkmustern und ermutigt den Einzelnen, seine Wünsche zu verwirklichen: Jeder darf auf einer Bank sitzen, jeder darf allein sein wollen, jeder darf Krach machen, solange die Rollen wechseln. Da der Bewegungsradius kleiner wird, sollten Gemeinschaftsräume im nahen Umfeld und die Wohnung selbst genügend Raum für die Entfaltung bieten. So spielen Gästezimmer beispielsweise eine wichtige Rolle für das Wohlbefinden, müssen aber nicht unbedingt innerhalb der Wohnung liegen. Ein gemeinsam bewirtschafteter Bereich fördert wiederum die Teilhabe.

Gabriele Steffen: Älterwerden inbegriffen – inklusive Quartiere, inklusive Orte

Schwerpunkt II: Unterstützung für ein selbstbestimmtes Wohnen zu Hause

Bei der Entwicklung neuer Technologien und Dienstleistungen geht es nicht nur um die Hilfsbedürftigen, sondern auch um die Versorgenden. Rolf Kistler vom iHomeLab Luzern stellte massentaugliche Lösungen für gutes Wohnen vor. Dabei betonte er die dienende Rolle der Technologien, die nur in Verbindung mit genügend sozialer Kommunikation zur Verbesserung der Lebensqualität aller Beteilgten beitragen könne.

Rolf Kistler: Alter. Technik. Los!

Der Sozialgerontologe Ulrich Otto erläuterte Formen der Caring Communities, die das selbstbestimmte Weiterleben von Bedürftigen unterstützen. Bei diesen innovativen Wohnpflegeformen bieten sich vielfältige Ansätze für Kooperationen zwischen Dienstleistern sozialer und technischer Assistenz und Immobilienentwicklern. Hier gelte es auch nach Wegen zu suchen, um im Gesundheitssystem finanzielle Schwerpunkte zu setzen, einen Wechsel von der reinen Versorgung zur sorgenden Gemeinschaft zu provozieren.

Prof. Dr. Ulrich Otto: Caring Communities – Räume, Technik und Dienste systematisch in ihren Dienst stellen

Gotlind Ulshöfer, die in der Schnittmenge von Theologie und Volkswirtschaft agiert, betrachtete die Ethik der Digitalisierung. Mit der Frage nach dem guten Leben führte sie die Überlegungen wieder auf einen zentralen Punkt zurück. Die Auswirkung technischer Entwicklungen zu Bereichen wie Fürsorge, Selbstbestimmung, Sicherheit, Gleichberechtigung, Privatheit und Teilhabe müssten im Hinblick auf den Schutz der Menschenwürde ständig überprüft werden. Darin liege eine grosse gesellschaftliche Herausforderung.

Schwerpunkt III: Zukunftsperspektiven für das Wohnen im Alter

Mit provokanter Rückbesinnung zeigte die Architektin Odile Decq einige Bilder von agilen Individualisten. Damit ermutigt sie uns, Vorlieben auszuleben und Fähigkeiten so lang wie möglich herauszufordern, damit Körper und Geist beweglich bleiben. Solange die Treppe im Haus irgendwie zu bewältigen ist, sei sie gut. Es sei die Aufgabe der Architekten, in verschiedenen Massstäben Gelegenheiten zum Trainieren und Orte zur sozialen Kommunikation, zum Training der geistigen Fähigkeiten zu schaffen.

Odile Decq: Is old the new young?

Als Entwickler von Applikationen für Immobilien beim Technologiekonzern allthings umriss Michael Benjamin die Möglichkeiten der unterstützenden Digitalisierung. Bauherren, Projektentwickler und Nutzer profitieren auf verschiedene Weise. In grossen Wohnkomplexen wie der Überbauung Erlenmatt, Basel, oder greencity, Zürich, kommen diese Tools bereits zum Einsatz und helfen mit, die Wohnungen an die Bedürfnisse ihrer Bewohner anzupassen. Durch Analysen können Schwachpunkte eines Gebäudes erkannt und behoben werden, beispielsweise beim Verbrauch von Ressourcen. Gleichzeitig können die Bewohner selbst über Apps Informationen zu ihren Geräten oder ihren Verbrauchsdaten abfragen. Die Datenbanken, sogenannte «service managing platforms», auf denen die Apps verankert sind, bilden einen Teil der Infrastruktur und können individuell ausgebaut werden.

Michael Benjamin: Digitale Serviceplattformen für das Wohnen im Alter

Auf die Projektentwicklung bezogen erläuterte Martin Diem, pom+ consulting, die Chance, solche Plattformen in den BIM-basierten Planungsprozess einzubinden, sozusagen einen digitalen Zwilling des Gebäudes anzulegen, der im Lauf der Zeit an Konturen gewinnt. Mit der Nutzung der daraus entspringenden Information, deren Auswertung ein interessantes neues Berufsfeld erschliesst, steht und fällt der Wert des Gebäudes.

Martin Diem: Aging in place dank Digital Real Estate?

Darauf aufbauend präsentierte Karin Frick, Leiterin Research des Gottlieb Duttweiler Instituts, Ideen zu Serviceabonnements, die wie ein Handyvertrag oder ein GA aufgebaut sind. Einzelne Bausteine lassen sich zubuchen oder abbestellen und können gegebenenfalls auch mit dem Nutzer umziehen. Immobilienbesitzer können daraus ein weiteres Arbeitsfeld entwickeln – allerdings wäre es zu Ungunsten der Bewohner, wenn sie die daraus resutlierenden Kosten tragen müssten.

Karin Frick: General-Abonnement für Wohnen

Weitere Informationen zu den Referenten und zu den Diskussionen: www.wohnforum.arch.ethz.ch

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