Rau­m­ge­schi­ch­ten

Renovation Wohnhaus, Kesswil

Beim Umbau eines ehemaligen Pfarrhauses im Thurgau beziehen sich Lukas Imhof Architekten auf dessen barocken Ursprung. Ihr Interesse richtet sich gleichzeitig auf nachfolgende Eingriffe, deren Spuren sie einbinden und über die Zeiten hinweg zu einer neuen Atmosphäre verknüpfen.

Data di pubblicazione
31-05-2018
Revision
31-05-2018

Lange Zeit war es ein Privileg der Kirche, sich als Erste an den schönsten Flecken niederzulassen, um die sich anschlies­send eine Gemeinde ausbreitet. In Kesswil TG liegt dieser Bereich nah am Ufer des Bodensees. Das ehemalige Pfarrhaus ist bereits seit einigen Jahrzehnten in privater Hand. Mit grosser Sorgfalt lassen die Bewohner es Raum für Raum umbauen. Der Fachwerkbau mit hohem Satteldach geht auf das 17. Jahrhundert zurück; im Innern sind noch einzelne Merkmale und Bauteile der Barockzeit erhalten, die einen qualitativen Massstab setzen. Sie bilden die älteste Kulturschicht.

Neben zahlreichen Umbauten und Ergänzungen haben vor allem Eingriffe aus den 1970er-Jahren ihre Spuren hinterlassen. Das Ideal der damaligen Gestaltungslinie lag nach Auffassung der Denkmalpflege in einer möglichst starken Annäherung an die ursprünglichen Formen und Farben, einer Art Mimikry. Auf die Integration von Bauteilen dieser Qualität wurde bei den jüngsten Sanierungen konsequent verzichtet. Im gleichen Zeitraum entstanden auf Veranlassung des damaligen Architekten aber auch bewusst nüchterne ­Bauteile, deren Ausdruck im Kontext des Hauses noch heute bestehen kann.

Als Vertreter der Analogen Architektur schätzen Lukas Imhof Architekten, die die Umbauten seit einigen Jahren betreuen, gerade diese Interferenzen. Mit der weiteren Verschränkung der Bauteile aus verschiedenen Zeiten fordern sie die Versuche des Betrachters heraus, die einzelnen ­Komponenten in alt, neu oder neu, aber alt aussehend zu klassifizieren. Scheitert der Betrachter daran, so ist dies Kalkül, denn genau darum geht es: Die architektonischen Zeugen einzelner Zeitschichten des Gebäudes verdichten sich zu einer Atmosphäre, die nicht mehr in ihre Bestandteile zu zerlegen, sondern als Ganzes erlebbar ist. Die Geschichte des Hauses bleibt erhalten und kann zukünftige Veränderungen aufnehmen.

Querbezüge durch Raum und Zeit

Dieser individuelle Blick auf das Vorhandene und dessen mögliche Qualitäten für den neuen Raum ist Grundlage eines analogen Vorgehens, durch das sich der räumliche Ausdruck schrittweise verwebt und verdichtet.
Bevor ein einzelner Raum eine neue Gestalt erhält, wird seine bisherige und zukünftige Bedeutung für die Bewohner aufgefächert und analysiert. Dieser inhaltlichen Positionierung folgt die Suche nach baulichen Besonderheiten. Die Neuformulierung nimmt Bezug auf prägende Elemente, die entweder erhalten und miteinbezogen oder durch eine Erfindung interpretiert werden.

So ist zum Beispiel das leitende Thema des sogenannten Blauen Zimmers, in dem die Bewohner zu besonderen Anlässen zusammenkommen, die intensive Wandfarbe. Spärliche Fragmente einer Malerei in diesem Farbton lagen jahrelang unter der Deckenverkleidung versteckt, gaben dem Zimmer aber in absentia seinen Namen. Die Färbung der Wände in diesem Raum ist zwar neu, erhält ihre Berechtigung aber über die früheren Funde und über Analogien zu Zimmern ähnlicher Gestaltung in barocken Bauten der Umgebung, die die Architekten als Referenzobjekte zugrunde legten.

Der neue Boden aus Eiche und Nussbaum teilt den Raum in vier Quadranten und unterstreicht durch seine strenge Gliederung, die zunächst an Versailler Tafelparkett erinnert, vielleicht aber auch an Loos’sche Maximen vom Beginn des 20. Jahrhunderts oder an die Rigorosität eines Oswald Mathias Ungers, die Sinnlichkeit der geschwungenen Holzeinbauten.

Kontinuum mit verschiedenen Gesichtern

An anderer Stelle waren die Wandtäfer mit einem wie vergrössert wirkenden barocken Ornament bemalt, das normalerweise als zierliche Girlande in Umrandungen zum Einsatz kommt. Die Architekten liessen es abnehmen und nochmals vergrös­sert auf eine Schablone übertragen, um es an anderer Stelle, in anderer Materialität wieder aufleben zu lassen.

Das Studio im Dachgeschoss, das jetzt als Rückzugsort dient, war ursprünglich nicht Teil der Wohnräume. Im Gegensatz zu den dunklen, intensiv gefärbten Räumen bestimmen hier feine Grauabstufungen die Atmosphäre. Auf die wie in überdimensionale Täfer unterteilten Wandflächen wurde die Girlande als glänzendes, aber gleichfarbiges Ornament aufgetragen, das sich nur aus bestimmten Blickwinkeln erkennen lässt.

Das Geländer ist der bestehenden einläufigen Treppe, die mitten im Raum ankommt, neu zugefügt und erinnert an ein Laufställchen: Runde Formen und sanfte Farben scheinen den 1950er-Jahren entsprungen und brechen die seriöse Aura mit ihrer Leichtigkeit. Zusammen mit der sichtbaren Balkenkonstruktion, den Sprossenfenstern und dem Klötzliparkett der 1970er-Jahre, die aufgrund ihrer sorgfältigen Ausführung überdauern, kommen die verschiedensten Architektursprachen zusammen. Die Authentizität der Materialien und das Wiederholen bestimmter Formelemente sind die verbindenden Glieder, mit denen die Architekten einen schlüssigen Raum herstellen. Die Freude an Farben, der Mut zu dunklen Räumen und die Lust an intelligenten Spielereien geben dem Haus ein überraschendes und individuelles Innenleben.

Zugang durch ein Schatzkästchen

Wie eine Essenz dieser Haltung ist der Umbau des ­Treppenhauses in eine offene geschossübergreifende Eingangshalle zu deuten. Auf kleinem Raum treffen hier die bezugnehmenden Ansätze aufeinander, die im ganzen Haus und über die Jahre verteilt vorgenommen worden waren, und fügen sich zu einem Bild. Anlass zur Neuordnung der Funktionen war der Wunsch nach einem repräsentativen, leeren Empfangsraum. Bisher war die Treppe, die in die Wohngeschosse führt, dreiläufig und raumfüllend, zudem offen zum Kellergeschoss. Durch die Bündelung der gewendelten Treppe auf zwei Wände ist sie nun steiler und kompakter. Der grünlich glänzende Anstrich der dynamisch kassettierten Wandflächen lässt diese optisch zurücktreten, sodass der Raum eine Betonung als luftige Hülle erfährt. Die in den oberen Ecken befindlichen Spiegelfelder erwecken den Eindruck von Durchblicken und erinnern an barocke Spiegelsäle.

Das Assembléezimmer des Schlosses Solitude bei Stuttgart, das einem entsprechend edleren Umfeld entspringt, wurde als Ausgangspunkt der Überlegungen gewählt. Dort ergänzen golden verzierter Stuck, raumerweiternde Spiegel und Parkettboden das Ensemble. Diese Elemente tauchen hier mutiert und in strengerer Form im ganzen Haus auf und binden das Entree mit Ausflügen in Zukunft und Vergangenheit in einen Kontext ein.

Das Treppengeländer und ein umlaufendes Band, in das Garderobenhaken eingehängt werden können, sind zwar nicht gerade golden, aber immerhin aus brüniertem Messing. Die Haken können ergänzt und verschoben oder auch als Bilderhaken verwendet werden. Ihre Beweglichkeit funktioniert als spielerische Komponente in dem streng organisierten Raum. Die Treppe aus lebhaft gemasertem Nussbaum erscheint als Möbelstück und findet ihre Entsprechung an der Decke, die mit dem gleichen Material ausge­kleidet ist. Das Verlegemuster und die Ornamentik der Terrazzofliesen am Boden hat den Planern Kopfzerbrechen bereitet. So, wie es jetzt realisiert wurde, wirkt es, als seien sie schon immer da gewesen. Es gibt nur schmale Fenster nach aussen, sodass die wertvollen Materialien in der dämmrigen, fast sakralen Atmosphäre eine besondere Ausstrahlung haben.

Das Spiel mit den Illusionen, das die Architekten hier weitertreiben, findet seine Referenz nicht nur im Barock, sondern auch in der Kärntner Bar von Adolf Loos in Wien (1903) oder in Installationen von Michel­angelo Pistoletto («Divisione e Moltiplicazione», 1976) bis hin zu den Pavillons von Dan Graham.

Über die letzten drei Jahrhunderte wurden immer wieder Räume ergänzt und entfernt, Nutzungen und Wege verändert, sodass genau dieser Umgang die Identität des Hauses prägt. Durch das zusammenführende Vorgehen der Architekten ist ein Kosmos entstanden, der das Haus jederzeit komplett erscheinen lässt. Anstelle einer kulissenhaften Ansammlung von Bruchstücken und Zitaten verschmelzen die Kulturschichten zu einer selbstverständlichen Gegenwärtigkeit. Dabei bleibt das Haus lebendig und offen für weitere Veränderungen in gleicher oder ganz neuer Handschrift.


Literatur
Lukas Imhof (Autor), Eva Willinger, Professur Miroslav Šik (Hrsg.): Analoge Altneue Architektur. Quart Verlag, Luzern 2018. 21 × 28 cm, Hardcover, 450 Seiten, ca. 618 Abbildungen; ca. 200 Pläne. ISBN 978-3-03761-153-1, Fr. 128.– / EUR 116.–  (in englischer Sprache: ISBN 978-3-03761-154-8)

Am Umbau Beteiligte
 

Architektur
Bis 2013: Imhof & Nyffeler Architekten, Zürich
Ab 2013: Lukas Imhof Architekten, Zürich
 

Holzbau
Krattiger Holzbau, Amriswil; Balmer Möbel, Oberhofen
 

Metallbau
Farei, Franz Reinthaler, Volketswil
 

Glasarbeiten
Glas Mäder, Zürich
 

Malerarbeiten
Maler Bilgeri, Romanshorn

 

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