Die Wun­de hei­len

Herzog & de Meuron zeigen mit dem Neubau für die Fondazione Feltrinelli in Mailand eine beispielhafte Lösung. Mit der grosszügigen architektonischen Geste und formalen Wiederholung der Tragstruktur schaffen sie Bezüge zur historischen Mailänder Architektur.

Data di pubblicazione
05-04-2018
Revision
06-04-2018

Nach dem kleinen Steinhaus im ligurischen Tavole (Stone House, 1985–1988) und dem hölzernen Pavillon an der Expo 2015 ist mit dem Sitz für die Fondazione Gian­giacomo Feltrinelli in Mailand das erste grössere Werk von Herzog & de Meuron in Italien entstanden. Der imposante Doppelbau steht im Norden des historischen Zentrums an der Porta Volta, wo einst die Mailänder Stadtmauer verlief. Gemeinsam mit einem bislang nicht realisierten Zwillingsbau am Viale Montenello soll die ehemalige Tor­situation ­wieder betont werden.

Weil der Standort archäologisch von Bedeutung ist, überwachte die Denkmalpflege die Aushubarbeiten, die volle zwei Jahre in Anspruch nahmen. Die eigentliche Bauzeit dauerte noch weitere zwei Jahre. Ende 2016 konnte die Fondazione Fel­tri­nelli ihren neuen Sitz beziehen.

Heimat für 250 000 Bücher

Giangiacomo Feltrinelli gründete 1949 eine Bibliothek. 1974 wurde diese per Gesetz zu einer Stiftung transformiert. Heute zählt Feltrinelli zu den renommiertesten Verlagshäusern Italiens. Ihren bisherigen Sitz hatte die Fondazione im Stadtzentrum in der Nähe der Scala. Von den beiden neuen Gebäuden an der ­Porta Volta belegt sie das kleinere mit einem Drittel der Gesamtfläche. In das grössere ist Microsoft Italien eingezogen. Der Softwarekonzern ­richtete hier seinen neuen Hauptsitz sowie ein Technology Center mit Büroplätzen und Arbeitsräumen für Start-ups und Freelancer ein.

Zum Archiv der Feltrinelli-Stiftung gehören neben dem grossen Archiv mit 250 000 Büchern und 16 000 Zeitschriften fast 1.5 Millionen Manuskripte. Der Fokus liegt seit jeher auf der Geschichte, Themen zur Gleichberechtigung oder auf der Analyse von Interaktionsmodellen zwischen den Bürgern, ihren Rechten und ihren organisatorischen Vertretern. In dem fast 200 m langen und 32 m hohen Doppelgebäude gehört ein heller Lesesaal unter den verglasten Dachschrägen ebenso zum Raumprogramm wie Büros und Arbeitsräume. Im Erdgeschoss befinden sich eine grosse Buchhandlung und ein Café, die direkt von der Strasse her zugänglich sind.

Herzog & de Meuron haben seit 2008 an dem Projekt gearbeitet. Sie betrachten ihren Entwurf als eine Interpretation der Schlichtheit und räumlichen Grosszügigkeit der historischen Mailänder Archi­tektur und nennen Beispiele wie das Ospedale Maggiore (1456–1499, heute Sitz der Humanistischen Fakultät der Universität Mailand), die Rotonda della Besana (1695–1732), das Lazzaretto (1497–1508) und das Castello Sforzesco (1360–1370). Ausserdem sei das neue Gebäude der Fondazione Feltrinelli von den langen und linearen lombardischen Bauernhäusern inspiriert, an denen sich schon Aldo Rossi bei seinem Wohnbauprojekt im Quartier Gallaratese orientiert habe, teilt das Basler Architektenduo mit.

Wiederbelebte Brache

Der Neubau der Fondazione Feltrinelli befindet sich am Viale Pasu­bio, am nördlichen Rand einer Parzelle, die seit dem Zweiten Weltkrieg unbebaut und für die Öffentlichkeit nicht zugänglich  gewesen war. Mit dem Bauwerk schlies­sen Herzog & de Meuron eine Lücke in der bestehenden Häuser­zeile, sodass nunmehr ­ von der Piazza XXV Aprile mit der histori­schen Porta Garibaldi bis zum Piazzale Baiamonti mit der historischen Stadtmauer und der Porta Volta eine durchgehende Raumkante entstanden ist.

Bisher hatte der Viale Pasubio eine Ausnahme innerhalb des Mailänder ­Ring­systems gebildet, da die Strasse nur auf einer ­Seite ­dicht bebaut war. Das neue Stiftungsgebäude ­auf der Süd­seite des Viale Pasubio ergänzt nun das ­kompakte Mailänder Stras­senbild und schafft neue ­Angebote ­für einen intensiven Publikumsverkehr. ­Auf der anderen Parzellenseite sorgt eine lang gezogene Grün­fläche für Abstand zwischen dem Gebäude und dem verkehrsreichen Viale Francesco Crispi, der zum Umfahrungsring Cerchia dei Bastioni gehört.

Wiederholung als Basis

Neben der räumlichen Grosszügigkeit bildeten Überlegungen zu Struktur und Wiederholung eine wichtige Grundlage des architektonischen Konzepts. Ein Beispiel dafür ist die Tragstruktur: Sie besteht aus regelmässig angeordneten Aussenstützen und aussteifenden Kernen, in denen Treppen, Aufzüge und Sanitärräume unter­gebracht sind. Das Bild der lang gestreckten Seiten­fassaden ist durch diese Stützen und die sich konsequent wiederholenden Gesimse geprägt. Die kurzen, vollständig verglasten Vorder- und Rückfronten nehmen die Rasterung der Seitenfassaden auf.

Mit diesen stilistisch einfachen Mitteln erzeugen die Architekten ein homogenes Bild. Die Giebelseiten stehen nicht im rechten Winkel zu den Längsfassaden, sondern schräg dazu – so entsteht im Grundriss ein Parallelogramm. Die Tragstruktur überträgt den Grundriss in die Vertikale, das spitz zulaufende Dach erhält eine neue, überraschende Geometrie und ist je nach Standort nicht mehr als solches zu erkennen.

Durch diese geradezu archetypische Form eines Giebeldachs und die parallel versetzte Tragstruktur entsteht eine besondere per­spektivische Wirkung. Im aktuellen Fall befreien die Architekten das Steildach, mit dem sie sich seit ihrem 1980 in Oberwil entstandenen «Blauen Haus» und auch beim viel beachteten VitraHaus (2009, vgl. «Spaziergang der Kräfte», TEC21 19/2010) in Weil am Rhein beschäftigen, von jeglichem Traditionsbezug.

Monotonie als Qualität

Der Rohbau wurde im Spätsommer 2016 fertiggestellt. Kaum waren die Baugerüste entfernt, regten sich die ersten kritischen Stimmen. Die Polemik entbrannte insbesondere um die Dimensionen des Neubaus. Das Gebäude sei zu lang, zu repetitiv, zu monoton, so die Kritiker. Das Thema der Monotonie stellt einen so häufig wiederkehrenden Streitpunkt dar, dass es einige grundsätzliche Überlegungen wert ist.

Die hohen Neubauten, die das Mailänder Stadtbild in jüngster Zeit verändert haben, zum Beispiel der Bosco verticale [«vertikaler Wald», 2014, vom Architekturbüro Boeri Studio), standen nicht in der Kritik, monoton zu sein, und kamen bei der breiten Bevölkerung gut an. Im Grunde genommen aber sind die Wolkenkratzer und die anderen Neubauten im Quartier Porta Nuova genau wie die drei CityLife-Hochhäuser (Ge­bäude von Arata Isozaki, Zaha Hadid und Daniel Libeskind im autofreien Stadtquartier des Messegeländes «Ex-Fiera») Ausdruck einer tief­ greifenden Verunsicherung bezüglich dem Charakter der Stadt und den Konstanten, die ihre «zivilisierte Schönheit» ausmachen, wie es der italienische Philosoph Giambattista Vico einst ausdrückte.

Diese zivilisierte, bürgerliche Schönheit blieb in der Vergangenheit über alle Erneuerungs- und Entwicklungsphasen der Stadt hinweg erkennbar. Der Basler Architekt und Theoretiker Hans Schmidt vertrat die Ansicht, dass Monotonie eine Qualität der rationalen Architektur ist. Die berühmten Häuserfronten an der Rue de Rivoli in Paris, am Bedford Square in London und am Markusplatz in Venedig waren für ihn Beispiele einer Uniformität, die zum künstlerischen Mittel wird. «Das Paris, das wir kennen und lieben», schrieb Schmidt, «regelte die Architektur seiner Boulevards durch ein einziges, einheitliches Gabarit. Warum sprechen wir hier nicht von Monotonie?» Das Resultat der Suche nach Vielfalt in der Architektur und der Anordnung der Gebäude, so Schmidt weiter, seien Wohnviertel, «in denen das einheitliche Gesicht der Stadt fehlt und bei denen das Streben nach grösstmöglicher Unterschiedlichkeit Gefahr läuft, eine neue Form der Monotonie, nämlich Unordnung und Anarchie zu erzeugen».

Stadt ohne Raum

Die Mailänder Wolkenkratzer sind ein Musterbeispiel für die grösstmögliche Verschiedenartigkeit der architektonischen Lösungen. Die breite Akzeptanz, auf die sie stossen, ist auf ihre wirkungsvolle Interpretation und Verkörperung einer diffusen antiurbanen Stimmung zurückzuführen. In diesen neuen Quartieren ­werden die einzelnen Gebäude lediglich aneinandergereiht – oder eben gerade nicht mehr aneinandergereiht –, ohne zuein­ander oder zu ihrer Umgebung in Beziehung zu treten.

Wie die Stadt gebaut und zu einem Geflecht geworden ist, das aus sichtbaren Beziehungen zwischen den Gebäuden und der Strasse sowie zwischen den Gebäuden untereinander besteht, ist hier nicht mehr zu erkennen. Das zwanghafte Streben nach Verschiedenheit führt zu einer verwirrenden Abwesenheit von Bezie­hungen, zum Verschwinden eines tragenden Elements der Stadtkultur. Und – was noch viel wichtiger ist – zu einer deutlichen Schwächung des Gemeinschafts­gefühls und des gesellschaftlichen Zusammenhalts.

Die Verantwortung der Architektur

Die Architektur von Herzog & de Meuron steht für einen entgegengesetzten Ansatz, der das Stadtgebilde und die ihm zugrunde liegenden Regeln bestätigt und festigt. Die Wiederholung des orthogonalen Rasters der Trag­struktur, die nicht hinter einer dekorativen Aussenhaut versteckt wird, sondern nach aussen hin sichtbar bleibt, ermöglicht ein Verständnis der architektonischen Grund­elemente. Es mag banal scheinen, aber wir leben in einer Zeit, in der Architekturprojekte mit regelmäs­si­ger Fassadengestaltung, einheitlichen Massen und line­arer Ausrichtung in Fachzeitschriften für gewöhnlich keine Beachtung finden.

Der neue Sitz der Fondazione Feltrinelli wurde im Dezember 2016 nach Abschluss der Umgebungsgestaltung eingeweiht. Es bleibt zu hoffen, dass das Werk nicht nur die Polemik befeuert, sondern im Gegenteil Anregung für einen Städtebau gibt, in dessen Zentrum der Gedanke und die Idee der Stadt stehen und nicht deren formale Zurschaustellung.

Übersetzung aus dem Italienischen: Nicole Wulf

Anmerkungen
Dieser Text erschien erstmals in Archi 6/2016.
Mehr Informationen zur Fondazione Feltrinelli auf http://fondazionefeltrinelli.it

Am Bau Beteiligte
 

Architektur
Herzog & de Meuron, Basel
 

Architektur Italien
SD Partners, Mailand
 

Tragwerksplanung
Zaring, Mailand
 

HLKS-Planung
Polistudio, Riccione (I)
 

Generalunternehmer
CMB, Carpi (I)
 

Fassade
AZA, Fiorenzuola D’Arda (I)
 

Betonfertigteile
Orobica, Bergamo (I)
 

Sonnenschutz
Resstende, Mailand

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