Die Stadt als Hin­ter­grund

Marseille

Die Wiederaufbauprojekte am Vieux Port in Marseille legten den Grundstein für den Erfolg Fernand Pouillons als Architekt im Wohnungsbau der Nachkriegsjahre. Im Gesamtwerk Pouillons stehen diese Entwürfe an einem frühen Zeitpunkt.

Data di pubblicazione
24-11-2016
Revision
24-11-2016

Alle Themen, die das Œuvre Fernand Pouillons zu einer eigenständigen ­Position im Kontext der Nachkriegs­architektur machen, sind im Vieux Port angelegt: sein Verständnis von Raumbildung, von Material und Handwerklichkeit, aber auch von der Entstehung von Architektur als einem kollektiven Prozess. Nicht zuletzt aber natürlich seine Haltung zum Verhältnis von Architektur und städtischem Raum. 

Der Vieux Port bildet stadträumlich wie auch ideell das Zentrum von Marseille. Bis heute stellt der Hafen mit seinen urban gefassten Rändern faktisch den grössten Platz der Stadt dar. Die Kriegszerstörungen am Nordufer des Vieux Port waren nicht die Folge einer Bombardierung, sondern einer grossflächigen kontrollierten Sprengung, durchgeführt von der Vichy-Regierung auf Druck der deutschen Wehrmacht. 

Die Geschichte der Stadtplanung im Marseille der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist vor allem der Versuch einer Neuordnung des Stadtzentrums, die durch den Ausbau des Handelshafens «La Joliette» sowie durch die neuen Verkehrsmittel notwendig geworden zu sein schien. Zugleich ist die Zwischenkriegszeit bis weit in die Phase des Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg aber auch eine Epoche des Ringens zwischen den Prinzipien der Ecole des Beaux Arts einerseits und den Methoden des funktionalistischen Städtebaus, wie sie sich in der Charta von Athen 1933 manifestieren, andererseits. Konkret wurden in Marseille in Folge mehrere urbanistische Masterpläne zur Entwicklung der Stadt erarbeitet und auch wieder verworfen, die dieses Ringen deutlich abbilden.

Die Sprengung des Hafennordrands im Kriegsjahr 1943 fiel in die Zeit, in der Eugène Beaudouin direkt durch die Vichy-Regierung als Stadtplaner für Marseille eingesetzt war. Beaudouin, zuvor Partner des Funktionalisten Marcel Lods, plante weitreichende Infrastruktur- und Sanierungsprojekte, die in ihrer Rigidität den autoritären Geist der Zeit widerspiegeln. In diesem Klima – die «Grands Travaux de Marseille» hatten bereits begonnen – scheint die Stadtregierung willfährig bereit gewesen zu sein, die Sprengungen durchzuführen. 

Eine gemässigtere Haltung

Mit der Befreiung Frankreichs 1944 beginnt die Kon­troverse um den Wiederaufbau des Hafennordrands. Nach einem Wettbewerb 1946 wird Roger Henri Expert «architecte en chef de la reconstruction» und entwickelt ein modernistisches Bebauungskonzept mit einer durchlaufenen Zeile und Turmhäusern. Bereits 1948 wird Expert durch André Leconte ersetzt, der das Projekt zunächst mit grösserer Rückendeckung weiterbearbeitet. Ein politischer Wechsel auf lokaler wie auch natio­naler Ebene lässt jedoch auch das Projekt Lecontes unter Beschuss geraten. Fernand Pouillon und André Devin – beide hatten gemeinsam am Wettbewerb 1946 teilgenommen – werden zunächst beauftragt, Varianten für die Fassaden zum Hafen zu entwickeln. Schliesslich übernehmen sie das gesamte Projekt unter der Oberleitung von Auguste Perret als «architecte en chef». 

Das Projekt von Pouillon und Devin baut auf der vorangegangenen Planungsarbeit auf, überformt diese jedoch in wesentlichen Punkten: Der ursprünglich durchgehend geplante Baukörper wird in Häuser zerlegt, drei platzartige Aufweitungen sollen die Anbindung des dahinter liegenden Quartiers verbessern. Hafenseitig wird die bewegte Silhouette des Vorgänger­projekts zugunsten einer durchgehenden Traufhöhe beruhigt.

Eine dem ursprünglich geplanten Gebäudeperimeter vorgestellte Fassadenschicht von 4 m Tiefe schafft Loggien für die Wohnungen sowie eine durchlaufende öffentliche Arkade im Erdgeschoss. Der Ausdruck der Gebäudefront zum Hafen wird vereinheitlicht. Die Gebäude wurden als Stahlbetonskelettbauten erstellt, deren Fassaden selbsttragend mit Kalkstein verkleidet wurden. Im Bereich der Loggienschicht experimentierten die Architekten mit einem Verfahren, das einen wesentlichen Beitrag zum Erfolg Fernand Pouillons als Architekt und später auch als Unternehmer im Wohnungsbau leisten sollte: Selbsttragend gemauerter Naturstein wurde als verlorene Schalung mit bewehrtem Beton hinterfüllt. Der disziplinierte Materialkanon aus Kalkstein, Beton und Keramikelementen prägt die ruhige Erscheinung der Häuser. 

Insgesamt kann Pouillon am Vieux Port rund 500 Wohnungen realisieren, dazu nochmals 200 im benachbarten Projekt «La Tourette».

Diese Marseiller Projekte legten den Grundstein für den anschliessenden Erfolg Pouillons im Wohnungsbau. Die Neubebauung am Quai du Port wurde in der Öffentlichkeit stark diskutiert und begründete so den grossen Bekanntheitsgrad von Fernand Pouillon. Die Ablösung Lecontes fand keineswegs nur Zustimmung. Seine Rückendeckung erhielt das Duo Pouillon/Dévin vor allem durch die Verbindung mit Auguste Perret als nominellen Chef­architekten des Projekts. Galt Perret bereits in der ­Zwischenkriegszeit weithin als Lichtgestalt, die der französischen Architektur zu einer neuen Klassik verholfen hatte, so nahm er spätestens in der Phase des Wiederaufbaus die Rolle einer zentralen Autorität ein, die das Vertrauen höchster Regierungsvertreter genoss. 

Architektur als kollektive Leistung

Pouillon pflegte wie Perret ein Selbstbild als «architecte-constructeur». Ganz im Sinn seines vormaligen Professors verfolgte er einen ganzheit­lichen Anspruch des Bauens auf den unterschiedlichen Massstabsebenen: Städtebau, Architektur und Kon­struktion.

Dank den technischen Optimierungen am Quai du Port und bei «La Tourette» erreichte Pouillon eine signifikante Kosteneinsparung im Vergleich zu konventionellen Geschosswohnungsbauten. Auf der Welle die­ses Erfolgs gründete er die «SET» (Société d’Etudes techniques), eine  Dachorganisation, die verschiedene Gewerke unter seiner Leitung zusammenfasste. Als eine Art Generalunternehmer konnte er so seine Bauten mit Kosten- und Terminsicherheit anbieten.

Es folgte eine rege Bautätigkeit: erst in Aix-en-Provence, später in Algier und in Paris, wo er qualitativ hochstehende Überbauungen mit schwindelerregenden Wohnungszahlen realisieren konnte. Bei seinen Grossprojekten an der Peripherie von Paris trat Pouillon schliesslich auch als Mitinvestor auf, wodurch er zu Beginn der 1960er-­Jahre in Schwierigkeiten geriet, die für ihn mit einem Konkursverfahren und einer Haftstrafe endeten. Die spektakuläre Geschichte seines Gefängnisausbruchs, seines Untertauchens, Sich-Stellens und seines durch die ­Boulevardpresse intensiv dokumentierten Gerichts­verfahrens sei hier nur am Rand erwähnt. 

Erwähnt sei jedoch, dass er seine Haftzeit dazu nutzte, das Buch «Les Pierres sauvages» zu verfassen, das viel über seine Haltung zur Architektur aussagt. Geschrieben aus der Sicht eines Zisterziensermönchs und Baumeisters des 12. Jahrhunderts, dokumentiert es die Begeisterung Pouillons für die konstruktive ­Präzision und die typologische Strenge der zisterzien­sischen Klosterbauten. Aber auch ein Verständnis von Architektur als kultureller Kollektivleistung spiegeln die Bauten dieses strengen Ablegers des Benediktinerordens wider: Ihr Modul ist nicht der Backstein, dessen Format darauf angelegt ist, dass ihn ein Handwerker allein vermauern kann, sondern der gewaltige Steinblock, der nur im Kollektiv bewegt werden kann. Dieses Verständnis ist prägend für die Haltung Pouillons: Die Architektur bildet Rahmen und Hintergrund eines kultivierten Zusammenlebens. Das architektonische Objekt wird nie nur als Solitär verstanden. 

Gefasster Raum

Die Quaibebauung am Vieux Port zielt stark darauf ab, den Alten Hafen als zusammenhängende urbane Raumfigur erlebbar zu machen, gerade wenn man sie mit den Vorläuferprojekten vergleicht, die als modernistische Kompositionen durch unterschiedliche Bauhöhen eine markante Silhouette bilden wollten. Pouillon sucht mit durchgehender Traufe und repetitiven Fassaden im Gegenteil dazu den Zusammenschluss der Bebauung inklusive der gegenüberliegenden Seite zu einer Fassung des riesigen Freiraums. Dies ist das Kernthema seiner Architektur: Bei der Frage nach dem Verhältnis von Figur und Grund kommt dem gefassten Raum das grös­sere Gewicht zu als dem architektonischen Objekt.

Auch hier wieder bietet seine Begeisterung für die Bauten der Zisterzienser einen Schlüssel zum Verständnis: Prägendes Motiv dieser Klöster ist die scharf umrissene Raumfigur des Kreuzgangs im Zentrum der Anlage. Besonders deutlich lassen sich diese architektonischen Anliegen am Projekt «La Tourette» ablesen, dem zweiten Bau­ensemble, das Pouillon zusammen mit René Egger in der Nähe des Vieux Port realisieren konnte. Das Projekt umfasst rund 200 Wohnungen, die in mehreren Baukörpern unterschiedlicher Geschossigkeit um einen rechteckigen Platz gruppiert sind. Die Frage nach dem Zusammenhalt des städtischen Raums über Propor­tion und Materialisierung ist bei «La Tourette» besonders differenziert beantwortet. 

Auch hier kommt durchwegs Kalkstein zum Einsatz, auch wieder die ökonomische Verwendung des Natursteins als verlorene Schalung einer Stahlbetonkonstruktion. Anders als bei der repetitiven Bebauung am Quai du Port ist das Verhältnis von Einheitlichkeit und Diversität besonders differenziert ausbalanciert. Vielleicht spürt man, dass auf diesem Projekt weniger der Druck des öffentlichen Diskurses lastete als auf der Bebauung direkt am Vieux Port. Die souveräne Nonchalance, mit der Pouillon die Erfahrungen der Moderne mit Aspekten traditioneller Architektur verbindet, erreicht bei «La Tourette» ein Niveau, das seinesgleichen sucht. Diese Souveränität spiegelt sich in der Behandlung des Gesamtvolumens und in der Detaillierung wider, wo die unaufgeregte Disziplin der Bauten es nicht ausschliesst, zugleich moderne Skulptur zu integrieren wie auch handwerkliche Details von verspielt-rustikaler Anmutung. 

Um nochmals auf Pouillons Verständnis vom Aussenraum, vom Figur-Grund-Verhältnis zurück­zukommen, möchte ich an dieser Stelle einen vergleichenden Blick auf ein späteres Projekt ausserhalb von Marseille werfen: auf das Projekt «Deux Cents Colonnes» innerhalb der Gesamtüberbauung «Climat de France» in Algier. Hier wurden von Pouillon über 400 Sozial­wohnungen in einer Platzfigur zusammengefasst, die sich explizit am Maidan der persischen Stadt Isfahan orientiert. Dieses Projekt kann als Schlüssel zum Verständnis des räumlichen Ideals bei Pouillon gesehen werden: In radikalerer Form finden wir hier die städtebauliche Figur von «La Tourette» wieder, aber auch das Motiv des Kreuzgangs sowie nicht zuletzt seine Lesart des Alten Hafens von Marseille als gefasstem städtischem Platz. 

Der umbaute Aussenraum als urbaner Hintergrund von kultivierter Selbstverständlichkeit – das ist die spezifische Qualität der Bauten Fernand Pouillons.

Weiterführende Literatur

Jean-Lucien Bonillo: «Fernand Pouillon, architecte méditerranéen», Edition Ibernon, Marseille 2001.
Stadtbauwelt 1998/24, René Bourruey: «Geschichten vom Städtebau in Marseille 1931–1949».
Vittorio Magnano Lampugnani: «Die Stadt im 20. Jahrhundert: Rationalistischer Klassizismus – A. Perret und F. Pouillon als Stadtbauer», Wagenbach, Berlin 2010.
Bernard Félix Dubor: «Fernand Pouillon», Electa, Paris 1986.

 

Articoli correlati