Zu­frie­de­ne Be­woh­ner im MCS-Haus

Interdisziplinäre Begleitforschung

In einer sozialwissenschaftlichen Studie der Universität Bern wird das Pilotprojekt für MCS-Erkrankte als Erfolgsmodell bezeichnet. Dies ist der ­rigiden Baustoffauswahl und der Beteiligung Betroffener zu verdanken.

Publikationsdatum
05-11-2015
Revision
15-11-2015

In der Stadt Zürich wird viel und Spektakuläres gebaut. Aber kaum ein Gebäude hat in den letzten Jahren eine derart hohe mediale Aufmerksamkeit erhalten wie das bescheidene, beige Wohnhaus am Waldrand von Mittelleimbach. Zeitungs- und Fernsehreporter aus Europa und USA reisten an, um über das gesundheitlich unbedenkliche Vorzeigewerk zu berichten. 

Auf die Absenz von Gerüchen, flüchtigen Lösemitteln, Lärm und Elektrosmog wurde dabei besonders geachtet. Wohngifte und andere Emissionen können in geringsten Spuren eine Multiple Chemical Sensitivity (MCS) auslösen. Die Schulmedizin zweifelt die Diagnose an, die Suva anerkennt eine Erkrankung bislang nicht. Doch für MCS-Betroffene ist die Absenz der Abgase und Strahlen eine Wohltat. 

Seit fast zwei Jahren bewohnen 15 Personen das von einer ­Genossenschaft betriebene Mehrfamilienhaus: Sie lebten zuvor zurückgezogen, bisweilen auf einem Campingplatz in der freien Natur. Nun fühlen sie sich trotz ihren Sensitivitäten im neuen Zuhause ausreichend vor dem Multichemikalienmix sowie vor nicht ionisierender Strahlung geschützt. «Das Umfeld ist ein tiefgreifender Gewinn; vor allem weil die Menschen zuvor meistens isolierte Lebens- und Wohnsituationen bevorzugten», fasst Beatrice Metry, Sozialforscherin an der Universität Bern, die Erkenntnisse der umfangreichen Bewohnerbefragung zu­sammen.

Die Evaluation wurde im Auftrag des Bundesamts für Wohnungswesen und zusammen mit der Stadt Zürich durchgeführt.1 Das Besondere daran ist der interdis­ziplinäre Forschungsansatz: Die bauökologischen Messdaten sind in parallel organisierten Erhebungen mit der sozial-psychologischen Auswertung verknüpft worden.

Soziale Integration

Auch die bauchemischen und -physikalischen Abschlussmessungen ergaben ein positives Bild: Die bauliche Umsetzung und die Auswahl der Baustoffe halten die Innenluft weitgehend frei von Geruch, Strahlung und anderen Emissionen. «Die strengsten Standards werden weit unterboten», bestätigt Michael Pöll, Bauökologe von der Fachstelle Nachhaltiges Bauen Stadt Zürich.

Trotzdem leben nicht alle Bewohnerinnen und Bewohner beschwerdefrei, ­haben die Forscher der Uni Bern erfahren. Doch die funktionierende Hausgemeinschaft gleicht diese Nachteile aus. Die Mieterschaft sieht ihre Erwartungen an das Zusammenleben erfüllt, so der Tenor der Umfrage. Die soziale Begleitstudie befragte auch eine Kontrollgruppe von MCS-Betroffenen, die nicht nach Zürich Leimbach zogen.

Die abschliessende Beurteilung ergab weitere wertvolle Zusatzhinweise: Dass potenziell interessierte Personen bei der Auswahl der Baustoffe mitmachen durften, sei sehr begrüsst worden. Dennoch hatte diese Partizipation auch einen irritierenden Effekt. Wider Erwarten leben nämlich nur wenige der an der Planung Beteiligten im MCS-Wohnhaus. Fast die Hälfte der Erstbezüger, die aus allen Teilen der Schweiz stammen, ist vorzeitig wieder ausgezogen. «Die meisten Absagen erfolgten aus gesundheitlichen Gründen. Einzelne konnten sich nicht überwinden, das bestehende Wohnumfeld gegen ein neues einzutauschen», bestätigt Metry.

Aktuell sind jedoch alle zwölf 2.5- und 3.5-Zimmer-Wohnungen vermietet; neben MCS-Betroffenen wohnen darin Personen mit anderen Sensibilitäten. Heinz Bolliger-Salzmann, Projektleiter und Sozialwissenschaftler am Institut für Sozial- und Präventivmedizin ISPM der Universität Bern, wertet das Ergebnis als Beweis für eine «mustergültig realisierte Erfolgsgeschichte». 

Genau definierte Rollen

Der Entwicklungsprozess begann 2002 mit einer direkten Anfrage von MCS-Betroffenen an die Stadtbehörde. Die Stadt Zürich nahm dies zum Anlass, das nachhaltige Bauen mit gesundheitsschonenden Innovationen zu ergänzen. Daraus entstand eine länger dauernde Zusammenarbeit unter Fachleuten und Betroffenen sowie zwischen Experten und Laien: Architekten, Bauökologen, Mediziner und MCS-Betroffene nahmen jeweils genau definierte Rollen bei Planung und Ausführung des mehrgeschossigen Wohnungsbaus ein und tauschten sich regelmässig aus.

Mithilfe von unabhängigen ­Geruchstests wählten Direktbetrof­fene unproblematische Baumate­rialien aus. Plastik, Metalle und mineralische Baustoffe erhielten den Vorzug vor organischen Baustoffen wie Holz oder Lehm. Dass «nachwachsende, baubiologisch oft als unbedenklich beurteilte Materialien bei den Geruchstests durchgefallen sind», hat den Bauökologen Pöll ebenso wie die übrigen Fachplaner überrascht. Das MCS-Haus besteht nun vornehmlich aus rohem Beton; die Fenster sind aus Kunststoff. Und in der Küchenkombination dominiert jeweils Stahl.

Entscheidend für die Planung waren aber nicht nur das Auswahlprozedere für die Materialien, sondern auch ein grosszügiger Terminplan und strenge Verhaltens­regeln auf der Baustelle: Jede potenziell interessante Ware, von der Innenausstattung über das Balkongeländer bis zum Oberflächenma­terial, war frühzeitig für die chemische und olfaktorische Analyse anzufordern. Bei der strengen Kontrolle fiel sogar auf, dass die Baustoffzutaten nicht immer mit den Her­stellerangaben übereinstimmten.

Grosse Anfangshürde

Fast lückenlos geglückt ist dagegen das Abschirmen und Reduzieren der nicht ionisierenden Strahlung. Elektrosmog, die Magnetfelder der haustechnischen Installationen und Wasseradern wurden als Quellen erfasst. «Das subjektive Wohlbefinden stimmt auch mit den nachgewiesenen Schlussmessungen überein», ergab die Bewohnerbefragung durch die Universität Bern. Eine grosse Anfangshürde hatte das MCS-Projekt bereits mit der Wahl des abgelegenen Standorts genommen. 

Die immissionsarme Wohnlage oder die passende Materialwahl garantieren aber nicht allein den Erfolg des MCS-Pilotprojekts. Dank der interdisziplinären Begleitforschung ist bekannt, dass die Bewohner für ihr Wohlbefinden auf ein funktionierendes Zusammenleben angewiesen sind. Insofern sei der Bau des MCS-gerechten Wohnhauses vorbildlich durchgeführt worden. Eine Nachahmung wird daher empfohlen.

 

Anmerkung

1 «Evaluation des MCS-Pilotprojekts der Wohnbaugenossenschaft Gesundes Wohnen MCS». Eine explorative Studie, Schlussbericht. BWO, Stadt Zürich 2015.

Verwandte Beiträge