Ver­lo­re­nes Pa­ra­dies

Eine Gartenstadt für den Massentourismus

Die expressive Ferienanlage La Grande Motte in der Nähe von Montpellier fasziniert bis heute viele Architekten: Nach einer fulminanten Gründungszeit zu Beginn der 1960er-Jahre befand sich die Stadt während 20 Jahren im Aufbau. Noch immer ist ihr Wandel nicht abgeschlossen.

Publikationsdatum
09-11-2017
Revision
09-11-2017

Wie aufgeblähte Segel, die gerade zur Fahrt übers Meer ansetzen, liegen die Hotel- und Appartementgebäu­de von La Grande Motte am Strand. Die filigranen Veranden und Balkone verleihen den riesigen Betonbauten Leichtigkeit. Von der anderen Seite des Hafenbeckens aus gesehen, am Point Zéro, stehen sie mit diesem Ausdruck sym­bolisch für den Schwung, den Enthusias­mus und die Zuversicht ihrer Erbauer.

Ihr Planungsbeginn ab 1963 fiel in die Blütezeit der «Trente Glorieuses»1 und des damit verbundenen Wirtschaftswachstums. Es war auch die Zeit der Unabhängigkeit vieler Kolonien Frankreichs und der moralischen, künstlerischen, wissenschaftlichen Revolutionen und Umwälzungen – die politische stand un­mit­telbar bevor. Nicht jede Befreiungsbewegung triumphierte, aber insgesamt kündigten sie eine neue Zeit an, für die La Grande Motte formal, funktional und bezüglich der Geschwindigkeit seiner Entstehung in der erste Etappe repräsentativ erscheint.

Mission für die Massen

Die Mission Racine2, die der architektonischen Vision von La Grande Motte vorausging, war ein Plan, das Gebiet zwischen Petit Rhône und Albères in der Camargue entlang von 180 km Meeresküste zu einer Tourismusdestination zu machen. Nachdem die französischen Arbeiter ab 1956 jährlich immer mehr Ferien erhielten, sah sich der Staat vor die Aufgabe gestellt, Feriendesti­nationen für den Mittelstand zu schaffen. Verglichen mit anderen europäischen Staaten gab es in Frankreich kaum Orte für den Massentourismus. Die Franzosen, die bis anhin oft nach Spanien oder Deutschland in die Ferien fuhren, sollten ihre Freizeit künftig in ihrer eige­nen Heimat verbringen. Georges Pompidou3 als Premierminister und Präsident Charles de Gaulle lancierten die Mission Racine also aus wirtschaftlichen Gründen.

Erstmals betrachteten Planer die Camargue als Ganzes und nicht als eine Reihe isolierter Fischerdörfer. Ein Strassennetz sollte abwechselnd Natur- und bebaute Zonen verbinden. In der ersten Phase wurde die Re­gion auf 700 ha von Moskitos befreit. Für die «Demoustica­tion» musste der Staat Flugzeuge, Tanks für die Insektizide und anderes Material anschaffen. Anschlies­send erfolgte die Trockenlegung des Sumpfs. 1962 bestimmte das Ministerium für Planung und Konstruktion die Architekten Jean Balladur für La Grande Motte, ­Georges Candi­lis für Barcarès-Leucate, Jean Lecouteur für Cap d’Agde und Raymond Gleize und Edouard Hartané für Gruissan. Zuständiger Planer zwischen den Zonen war Elie Mauret, und die Grünraumplanung von La Grande Motte übernahm Pierre Pillet. So erstellte man zwischen 1963 und 1983 in den Départements Pyrénées-Orientales, Aude, Hérault und Gard Unterkünfte für 650 000 Touristen.4

Die Kunst aus dem Sumpf

Auf dem 400 ha umfassenden Gelände von La Grande Motte entstanden ab 1963 während rund 20 Jahren Bauten. 1964 wurde die erste Pyramide auf dem Hafengelände errichtet. Dahinter liegen gegeneinander versetzte Bauvolumen, die im Schnitt eine Wellenbewegung mit Zwischenräumen zum Meer hin bilden. Bagger hoben den 17 ha grossen Hafen aus, Strassen wurden gebaut und Leitungen für Wasser und Elektrizität verlegt.

In seinen Schriften betonte Balladur wiederholt, wie wichtig der menschliche Massstab bei Architektur und Grünraum sei, um uniforme Gestaltung zu vermeiden. Überhaupt leitete und lenkte der Architekt alles. So bestimmte er Position und Höhe der Bauten, die die Um­gebung vom starken Mistral abschirmen. Er kümmerte sich aber nicht nur um den Massenplan, sondern kontrollierte auch die Höhe der Gehsteige, die Entwürfe für Strassenampeln sowie Trafohäuschen und beauftragte junge Künstler mit der Anfertigung von Skulptu­ren. Die Kunstobjekte sollten als Sitzgelegenheiten oder Duschen genutzt werden können und die Gäste im Alltag umgeben. Der Architekt strebte so eine Art Demo­kratisierung der Kunst an.

Auch ökonomisch war die Mission Racine erfolg­reich: Schon bald war der Tourismus – nach Stahl- und Autoindustrie – der grösste Wirtschaftszweig Frankreichs. Bereits wenige Jahre später kamen jährlich 20 Mio. Touristen nach Südfrankreich, unter ihnen 7 Mio. ausländische, und die günstigen Ferienwohnungen waren auch für die Arbeiterklasse erschwinglich.

«Si j’étais Dieu …»

Viele der am Bau von La Grande Motte beteiligten Architekten und Handwerker waren im Zweiten Weltkrieg in der Résistance tätig gewesen und hatten danach am Wiederaufbau der zerstörten Städte mitgewirkt. Nachdem diese Basisarbeit bis Ende der 1950er-Jahre grundlegend vollzogen war, sahen sie der Herausfor­derung, an einer urbanen Vision für eine bessere, freiere Gesellschaft mitzuarbeiten, mit Freude entgegen. Man sehnte sich nach einer neuen, unbeschwerten Lebensform.

Für diesen Traum fand Jean Balladur die architektonischen Symbole: Die grosse Pyramide ist eine Referenz an den Pic Saint-Loup, das Palais Maya eine an die präkolumbianischen Bauten Mexikos, und der Village du Soleil sowie die Place de Cosmos beziehen sich auf die Gestirne. Balladur war der Ansicht, dass die Grossformen der Mayabauten in Teo­ti­huacan mit ihren archaischen Volumen die Kraft besassen, in der fast menschenleeren Ebene der Camargue ohne lokale historische Bezüge eine eigen­ständige ­Anlage zu bilden.

Später erinnert er sich in einem Interview, dass die Leute der Architektur anfangs skeptisch gegenüber- standen, sie später aber akzeptierten und sogar stolz auf sie waren. Balladur entwarf seiner eigenen Ansicht nach auch nichts Geringeres als das verlorene Paradies. «Si j’etais Dieu, je me mefierais des architectes! Ils sont les instruments subversifs du projet secret de l’espèce humaine: reconstruire le Paradis perdu …».

Lokalkolorit oder neues Florida?

Die Gegend verband jedoch nicht ein 180 km langer, leerer Strand, sondern es gab einige alte Fischerdörfer. Das Ministeriums betonte immer wieder, dass man sie in die Planung mit einbeziehen wolle. Tatsächlich aber erhielten die neuen Ferienorte riesige Kredite, während die kleinen Gemeinden leer ausgingen.

La Grand Motte liess kaum jemanden gleichgültig und weckte widersprüchliche Gefühle. Balladur sagte: «Die Leute denken, dass sie ihre Ferien allein verbringen wollen, aber sie sind Herdentiere.»5 Kritiker wie der Architekt François Spoerry6 entgegnen, dass Städter lieber in einem Dorf als in einer Massentourismusanlage Ferien machen. Bereits vor der Planung sprachen Kritiker sowie Bewunderer vom «Neuen Florida». Das kann zweideutig interpretiert werden: als Befürchtung, das Lokalkolorit werde verschwinden und die Gegend die Seele verlieren, oder als Stolz, einen zukunftsweisenden Ferienort geschaffen zu haben.

Noch nach 50 Jahren Platz für Wandel

Was von beidem trifft nun aus zeitlicher Distanz zu? Und was zeichnet La Grande Motte heute aus? Neben dem Meer und dem Klima sicher die einheitliche Architektursprache und die prächtig entwickelte Grünanlage auf rund 283 ha. Zusammen mit 20 km Baumalleen entlang der Strassen ist der Ferienort heute eine der grünsten Städte Frankreichs. Die expressiven architektonischen Gesten, die aufgrund des damaligen freiheitlichen politischen und kulturellen Umfelds entstanden, faszinieren Architekten wie Gäste. Die markanten Bauten und die öffentlichen Räume mit den Parks bilden ein Gesamtkunstwerk, an dem der Aufbruchsgeist seiner Gründerzeit bis heute ablesbar ist. Unter anderem dafür wurde der Ort 2010 mit dem Label «Patrimoine du XXe siècle» ausgezeichnet. Zurzeit werden die Bauten etappenweise renoviert – 2016 war die Instandstellung der Centre Ville abgeschlossen.

Doch der Alltag hat sich gewandelt. Neben den jährlich zwei Millionen Touristen wohnen fast 10 000 Menschen das ganze Jahr über in La Grande Motte. Die 30 km nach Montpellier sind für französische Pendler ein Katzensprung. Infolge dieser Entwicklung entstanden neben den Ferienunterkünften auch Schulen, Sportanlagen und Einkaufsläden – viele noch bis Ende der 1990er-Jahre unter Aufsicht Balladurs. Die grosszügige Anlage lässt diesen Funktionswandel zu. Ausserdem war von Anfang an mit Kirche, Post, Theater und Palais de Congrès eine weiterführende Infrastruktur – damals für die vielen Angestellten – mit eingeplant worden.

Anders als in alpinen Schweizer Ferienorten, wo Einheimische sich in Randzonen der Dörfer zurückziehen und im Zentrum ein «Loch» mit meist leer stehenden Zweitwohnungen zurückbleibt, findet hier das umgekehrte Phänomen statt. Aber die Bewohner von La Grande Motte beklagen sich über dieselben Dinge wie die Ortsansässigen in alpinen Touristendörfern: zu teure Lebensmittel in den Läden, schlechte Restaurants, zu wenig Parkplätze und zu viele Fremde während der Hochsaison. Zudem, so sagen kritische Stimmen, sei La Grande Motte überaltert: Jüngere Touristen und die ständigen Bewohner des Orts verbringen ihre Sommerferien wohl lieber anderswo.

Anmerkungen
1 Die 30 Jahre des Aufschwungs nach dem Zweiten Weltkrieg in den OECD-Ländern von 1948 bis 1978.
2 Pierre Racine war von 1959 bis 1962 Direktor des ­Kabi­netts unter Premierminister Michel Debré. Ab 1963 setzte er den Bau der Ferienorte im Languedoc um.
3 Georges Pompidou war ehemaliger Direktor der Bank Rothschild und schuf die Voraussetzungen für den Kauf der Bank von Hunderten von Hektaren Land.
4 «Tous à la Plage», Lienart Editions, Paris 2016, Bernard Toulier, S. 24.
5 Filmzitate: www.ina.fr/video/I00013789
6 François Spoerry baute Port Grimaud, das als grosses Fischerdorf die Antithese zu La Grande Motte darstellt.


Jean Balladur

wurde am 11. Mai 1924 in Smyrna (heute Izmir) geboren und starb 2002 in Paris. Zuerst studierte er Philosophie. Während seines Studiums machte er erstmals mit Jean-Paul Sartre Bekanntschaft, für dessen Zeitschrift «Les Temps Modernes» er arbeitete. Später wendete sich Balladur der Architektur zu; er ­­studierte an der Pariser Ecole des ­Beaux-Arts und arbeitete für Le Corbusier. Im Jahre 1962 wurde er mit der Planung von La Grande Motte und mit der Port de Camargue beauftragt. In der Folgezeit baute er im Ausland viele weitere grosse Feriensiedlungen. Rund 30 Jahre seines Lebens widmete er aber dem Bau und der Planung von La Grande Motte.

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