Un­be­dacht ver­wan­delt

Feriendorf am Strand

Die Qualitäten der schlichten Architektur von Fernand Pouillons Feriensiedlung Les Sablettes bei Toulon haben Bewohner und Architekten lang verkannt. Erst seit der Jahrtausendwende widmen sich staatliche und private Stellen der Restauration und dem Erhalt des Dorfs.

Publikationsdatum
09-11-2017
Revision
09-11-2017

Das Quartier Les Sablettes liegt auf der Halbinsel Saint-Mandrier-sur-Mer, die die Bucht von Toulon vom Mittelmeer trennt. Während Les Sablettes bis ins 19. Jahrhundert bis zum Strand hauptsächlich aus Agrarland bestand, erfuhr die angrenzend auf dem Festland liegende Stadt La Seyne-sur-Mer nach dem Bau mehrerer Werften einen Aufschwung. Doch als das Bürgertum das Land entdeckte und immer mehr Städter aus der Region im ­Sommer Abkühlung am Meer suchten, entstanden auf den Landwirtschaftsflächen Unterkünfte für Sommerfrischler – je nach Zahlungskraft der Eigentümer Hütten oder Villen. Nach dem Anschluss von Toulon und La Seyne-sur-Mer ans Eisenbahnnetz kamen zunehmend Gäste aus ganz Frankreich und dem Ausland in die Gegend.

Blütezeit und Kriegsnarben

Der im benachbarten Sanary geborene Marineoffizier und Händler Michel Pacha erkannte 1873 die Zeichen der Zeit. Er begann in Les Sablettes, im heutigen Stadtteil Tamaris, eine Anlage mit eleganten Villen und üppi­ger Vegetation für Winteraufenthalter zu bauen. Schon bald stellte Pacha fest, dass Aufenthalte auch im Sommer immer beliebter wurden. So errichtete er ab 1887 die Casinos Sablettes-les-Bains und Tamaris und ein Jahr später das Grandhotel. Da mit den vielen Gästehäusern die Nachfrage nach Dienstleistungen stieg, nahm auch die ständige Bevölkerung des Seebads zu. In der Folge entstand eine Schule für die Kinder der Zugezogenen und der Fischer. Les Sablettes verfügte auch früh über Annehmlichkeiten wie ein Casino, eine Kapelle, ein Strandhotel, Läden, Restaurants und war durch Zug, Tram und Passagierschiffe gut ­er­schlossen.

Michel Pacha starb 1907, doch Les Sablettes wuchs in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kräftig weiter. Auch der Erste Weltkrieg tat dem Touristenstrom keinen Abbruch. Die Einführung bezahlter Ferien ­steigerte die Besucherzahl zusätzlich. Les Sablettes entwickelte sich zu einem Wohnquartier von La Seyne-sur-Mer mit Touristenandrang im Sommer. Die traditionell provenzalischen Bauten wandelten sich ab der Zwischenkriegszeit hin zu einem eklektisch und orientalistisch geprägten Stil mit neoregionalistischem ­Einschlag.

Im Zweiten Weltkrieg besetzten deutsche und dann italienische Truppen die Region. Sie befürchteten eine Landung der Alliierten und sicherten den Strand mit Stacheldraht und Bunkern. Anfang 1944 ordnete Rommel die Zerstörung des an den Strand grenzenden Stadtteils an. Nur die als Beobachtungspunkt und als Truppenunterkünfte genutzten Villen Jacqueline, Les Fauvettes und das Grandhotel blieben verschont. Bereits im August 1944 wurde die Region Toulon aber befreit.

Mit der Wiederherstellung von Les Sablettes beauftragte das französische Ministerium für Wiederaufbau und Stadtplanung ab 1950 den Architekten ­Fernand Pouillon. Die Nachkriegsarchitektur war geprägt von den Werken und der Lehre Le Corbusiers und dem damit verbundenen grosszügigen Einsatz von Beton. Dass der Wiederaufbau von Les Sablettes zwischen 1950 und 1953 Fernand Pouillon übertragen wurde, kam deshalb einer Provokation gleich.

Der Architekt entwarf einen Lebensraum, der sich städtebaulich bis heute bewährt. Die Schönheit der Umgebung und die Werke seiner Künstlerfreunde ergänzten die schlichte Architektur. Das Programm umfasste unter anderem die Hotels Provence-Plage und Rives d’Or, das Kurhotel Miramar, einen Marktplatz, Arkaden, Brunnen, eine Apotheke, eine Metzgerei, einen Nachtclub, Treppen zum Strand und eine Tankstelle. Viele Badeorte am Mittelmeer nahmen sich Pouillons Modell später zum Vorbild.

Von der Zerstörung zum Schutz

Mit der Zeit nahmen Plakatwände, zugestellte Passagen und wilde Abbruch- und Bauprojekte im begehrten Touristenort überhand. Erst in den 1980er-Jahren begann sich die regionale Kulturbehörde Directions régionales des affaires culturelles (DRAC) um die Abwertung des «Pouillon-Dorfs» zu sorgen. Deshalb beauftragte die Stadt La Seyne-sur-Mer 1991 und 1996 den Architekten Rudy Ricciotti, Sanierungsmassnahmen zu planen.

Im Jahr 2000 zeichnete die DRAC den Badeort mit dem Label «Kulturgut des 20. Jahrhunderts» aus. 2005 wurde Ricciottis Projekt in die Architektur-, Ortsbild- und Landschaftsschutzzone (ZPPAUP) Balaguier –Tamaris – Les Sablettes aufgenommen. Es bildete die Grundlage für die Bauauflagen, die die Stadt im Rahmen der 2016 bestätigten Architektur- und Landschaftsentwicklungszone AVAP für das Pouillon-Dorf festlegte.

Ende der 1970er-Jahre wurde ein riesiges Immobilienprojekt gestartet. Die Landbrücke von Les Sablettes  wurde verbreitert und die Familienpension «Les Portes du Soleil» samt ihren charakteristischen Arkaden abgebrochen. Die Instabilität der Landaufschüttung beendete das Vorhaben. Bis zu dem Zeitpunkt waren jedoch mehrere Bäume gefällt, anstelle der alten Pension ein viergeschossiges Renditeobjekt erstellt und vor dem Amado-Brunnen ein Kebapstand und eine gedeckte Terrasse installiert worden. Über dem Durchgang zur Metzgerei befindet sich bis heute eine Buchhandlung, und in den Arkaden machen sich Geschäfte der Ladenpassage «Boutiques Nord» mit Schaufenstern bis zum ­Trottoirrand breit. Das ehemalige Miramar ist ein fensterloser Nachtclub, der Innenhof dient als Warenlager, und im Durchgang befindet sich eine Restaurantküche. Das zuerst mehrere Jahre als Seniorenresidenz genutzte Grandhotel Le Golfe stand 15 Jahre lang leer. Zurzeit wird es wieder in ein Hotel verwandelt.

Von Anfang an haben die Bewohner versucht, ihren Lebensraum zu vergrössern, indem sie Loggias schlossen, Arkaden in Beschlag nahmen und verstellten oder provisorische Verkaufsstände anbauten. Die Gewerbeflächen sind in der Regel klein, vor allem für Res­taurants und Bars, die strenge Hygienevorschriften erfüllen müssen. Oft werden die Terrassen gedeckt, um darauf die Küchen unterzubringen.

In einigen langjährig bestehenden oder einst sogar bewilligten Fällen ist eine Rückkehr zum Ursprungszustand unwahrscheinlich. Die Stadt hat aber mit der Beratungsstelle für Architektur, Stadtplanung und Umwelt (Conseil Architecture Urbanisme Environnement) des Départements Var einen Gestaltungsplan für die Aussenterrassen beim ehemaligen Hotel Pro­vence-Plage am Meer erstellt. Ein Architekt koordiniert den Aufbau rückbaubarer, temporärer und bei Erstellung gebührenpflichtiger Metall- und PVC-Elemente. Eine geschlossene und überdachte Terrasse kann ganzjährig stehen bleiben. Die Tische beim Strand dürfen jedoch nur von April bis November mit einer Sonnenschutzpergola versehen werden. So ist im Winter der Blick auf die Landschaft, das Cap Sicié und die legendenumwobenen Felsen Les Deux Frères wieder frei.

Das Pouillon-Dorf erfüllt noch heute, 65 Jahre nach seiner Entstehung, seine städtebauliche Funktion erstaunlich gut. Da das ganze Gebiet denkmalgeschützt ist, besteht auch keine Gefahr mehr, dass überrissene Immobilienprojekte das Ortsbild zerstören. In den letzten 15 Jahren haben Ausstellungen und Führungen mit Aufnahmen aus der Entstehungszeit der Bauten die Situation verbessert. Viele Bewohner haben verstanden, dass sie an einem besonderen Ort, in einem geschützten Kultur- und Naturraum leben. Einige Bauherren haben die Tipps für vorbildliche Renovationen umgesetzt, so etwa die Bank Crédit Lyonnais für ihre Ladenpassage «Boutiques Sud», das Hotel Miramar oder das Restaurant La Piazza auf der Place Lalo.

Die Stadt La Seyne-sur-Mer unterstützt Bauherren punktuell bei der Finanzierung von Zusatzkosten, die durch die Bauauflagen entstehen. Ein Beispiel war die Instandsetzung der Holzbrüstung am Hotel Miramar nach den Originalentwürfen von Fernand Pouillon. Für Bauarbeiten, die von der staatlichen Denkmalpflege (Architecte des Bâtiments de France) bewilligt wurden, wird in Zusammenarbeit mit der Stiftung Fondation du Patrimoine das gleichnamige Label vergeben – es berechtigt zu einer teilweisen oder vollständigen steuerlichen Absetzung der Baukosten.

Veränderungen in neuerer Zeit

Das grosse Verkehrsaufkommen in der Sommersaison lässt sich nur durch den Ausbau des öffentlichen Verkehrs bewältigen, etwa durch Buslinien und vor allem Pendelboote zwischen Les Sablettes und Toulon sowie durch die geplante Linie zwischen Les Sablettes und La Seyne. Das Parkplatzangebot ist im Sommer unzureichend. Ausserdem muss ein in der AVAP vorgesehener Veloweg entlang der Küste und der Avenue Général de Gaulle, die ins Stadtzentrum führt, geschaffen werden. Zurzeit arbeitet die Stadt an der Beschriftung derWerke, die mit Fernand Pouillon befreundete Künstler geschaffen haben  – darunter Jean Amado, Louis Arnaud, Philippe Sourdive, Carlos Gonzalez und Gilbert Mouret.

Die Renovation des Grandhotels in ein 5-Sterne-Hotel der Hilton-Kette weckt den Wettbewerbsgeist einiger Bars, die von dieser touristischen und kulturellen Aufwertung profitieren wollen. Die Hilton-Gruppe hat sich wegen des aussergewöhnlichen Potenzials für Les Sablettes entschieden: ein Sandstrand zu Füssen und harmonische Architektur im Blick. Da nimmt man sogar architektonische Auflagen und jahrelange Sanierungs- und Restaurierungsarbeiten in Kauf.

Übersetzungen: Wulf Übersetzungen

Bibliografie
Jean-Lucien Bonillo: Fernand Pouillon, Librairie de l’Architecture et de la Ville, 2001.
Bernard Félix Dubor: Fernand Pouillon, Electra Moniteur, 1986.
Julien Gomez-Estienne et Pascal Monforte: Sablettes-les-Bains, édition de la Nerthe, 2004.
François Goven: Fernand Pouillon, éditions Archives de France, 2011.


Fernand Pouillon

wurde 1912 in Cancon geboren. Er studierte ab 1929 an der Ecole des Beaux-Arts in Marseille und dann in Paris, machte jedoch sein Diplom erst 1943. 1944–1953 war er mit seinem Partner René Egger am Wiederaufbau des Hafenviertels in Marseille beteiligt. Acht Jahre danach erhielt er den Auftrag, einen Komplex von Billigwohnungen im Aussenbereich von Paris zu errichten. Dabei trat er als Unternehmer und Architekt auf, was nach damaligem Gesetz illegal war. Er wurde verurteilt und verbrachte acht Monate im Gefängnis, ehe er nach Algerien flüchtete. Nach einer kurzen Rückkehr nach Frankreich sprach ihn ein Gericht von der Anklage frei, verurteilte ihn jedoch für die Flucht aus dem Gefängnis. Nach Absitzen der neuen Haft kehrte er nach Algerien zurück und baute zahlreiche Hotels, Verwaltungsgebäude und Universitäten. Erst 1971 begnadigte ihn Präsident Pompidou, und 1984 kehrte er nach Frankreich zurück. Pouillon starb im Alter von 74 Jahren in Château de Belcastel.


Ein Spaziergang

In seinem Roman «Les Pierres Sauvages», den Pouillon während seiner zweiten Haft verfasste, gibt er einen Einblick in seine poetischen Gedanken hinter der Komposition des Stadtteils Les Sablettes. Einmal eingetaucht in die Landschaft, die er entwarf und die er in Gedanken viele Male durchschritt, bevor er sich festlegte, lässt er den Besucher nicht mehr los, sondern lenkt seinen Blick und führt ihn durch die Strassen. Der Spaziergang hat einen Anfang und ein Ende, die sich aus der Geschichte des Orts ergeben haben: Ausgangspunkt ist die heute nicht mehr vorhandene Schiffsanlegestelle. Weshalb? Weil man dort früher mit dem Fährschiff aus Toulon ankam. Vom Holzsteg aus folgt der Weg einer durchdachten rhythmischen Abfolge.

Schon bei den Bauten der Anlegestelle treten unmittelbar die Formen und wichtigsten Baumaterialien in Erscheinung: ockerfarbener Stein wie beim Pont du Gard (wiederverwendet von der Baustelle des alten Hafens in Marseille) im klein- und mittelforma­tigen Verbund mit Kalkmörtelfugen, Trennelemente aus Backsteinen und schmale Gewölbe aus hohen Mauer­steinen auf Steinsäulen oder feinen Stahlportikus.

Der an die Achse zur An­legestelle anschliessende zentrale Kreisel ist Dreh- und Angelpunkt des Stadtteils. Hier entdecken die Besucher die Details, die den Reichtum dieses kostengünstigen Projekts ausmachen: Galerien und Arkaden aus Natur- und Backstein, Brüstungen und Loggias aus gedrechselten oder geraden Holzstäben, Dachüberstän­de aus massiven Sparren, Fensterstürze und -gitter aus Holz, Kamine, die aus den Aussenmauern zu wachsen scheinen, Kugel­glas­leuchten, die auf den Strahlen von schmiedeeisernen Sonnen stecken, das Spiel von Licht und Schatten, die Kompostion der in die nackten Fassaden eingelassenen Steine und die langen zweireihigen Ziegelkränze an den Dachüberständen.

Das Ensemble hat sich mit der Zeit verändert. Doch das malerische Stadtbild mit kleinen Plätzen, Galerien, Passagen und Wegen unter einem Kranz aus Mauergewölben ist noch da und zeugt von Pouillons entwerferischem Geschick, das das Ensemble bis heute erfolgreich macht. (Catherine Sayen, Stadtplanerin)

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