Sta­peln und ver­bin­den

Aussichtsturm und Museum

Mit zwei Bauten der Architekten AWP und HHF sowie der Ingenieure EVP und Schnetzer Puskas hat die Ausgestaltung des Parc du Peuple de l’Herbe in Carrières-sous-Poissy westlich von Paris begonnen. Das Motiv der Urhütte ist der leitende Gedanke, vertikal gestapelt und horizontal verbunden.

Publikationsdatum
20-04-2018
Revision
20-04-2018

Nähert man sich dem Parc du Peuple de l’Herbe, so fällt schon von Weitem in­mitten der Vegetation eine rätselhafte weisse Struktur ins Auge; vor Ort erkennt man, dass es sich gleichsam um vier gestapelte Urhütten handelt: abstrakte Hausformen mit Sattel­dach, zusammengeschraubt und -geschweisst aus weiss lackierten Doppel-T-Trägern. Die Hütten sind gegeneinander versetzt und wirken aus mancher Perspektive atemberaubend instabil, als würde die Konstruktion gleich auseinanderfallen.

Die unterste und die zweit­oberste der Hütten bestehen lediglich aus den offenen Gerüststrukturen, bei den beiden anderen sind einzelne Flächen mit hellen Holzlatten verkleidet. Der bis zur Spitze 15 m hohe «Observatoire» bietet eine Aussicht über den Park; eine Treppen- und Galeriestruktur führt hinauf zur obersten Ebene. Es ist ein veritables «folly» oder, um in der französischen Terminologie zu bleiben, eine «fabrique», eine kleine Parkarchitektur, konstruktiv gelöst und architektonisch formuliert mit den Mitteln der heutigen Zeit.

Dabei spielen die Architekten AWP aus Paris und HHF aus Basel souverän mit der Tradition von Parkbauten und Aussichtsarchitektur. Der Observa­toire wirkt wie eine künstliche Ruine, und wenn man hinaufsteigt, merkt man, dass die Struktur sich leicht bewegt und durch die Schritte in Schwingung versetzt wird. Seit Goethe 1770 in die filigrane Turmspitze des Strassburger Münsters kletterte, um mit einer ­Brachialkur seine Höhenangst zu überwinden, gehört der Schwindeleffekt bei der architektonischen Inszenierung von Aussicht dazu. Da das Gelände recht flach ist, reicht die Höhe von 12 m aus, um einen guten Überblick über den Park und seine Umgebung zu bekommen, die «Boucle de Chanteloup». Man gelangt nach kurzer Wegstrecke zum Park, wenn man vom Endbahnhof des RER in Poissy, 25 km westlich von Paris, nicht den Weg zur Villa Savoye einschlägt, sondern die Seine überquert.

Park auf belastetem Boden

Die von der dritten Seineschleife flussabwärts von Paris umschlossenen Gebiete dienten über Jahrhunderte als Gemüsegarten der Hauptstadt, und als diese wuchs, wurden die Abwässer der sich ausdehnenden Metro­pole hier als Dünger verwendet. Im Zuge der fortschreitenden Industrialisierung gelangten aber immer mehr Schadstoffe auf die Rieselfelder. Die Belastung mit Blei, Cadmium und Zink führte schliesslich dazu, dass der Gemüseanbau in der Chanteloup-Ebene 1999 verboten wurde.

Heute sieht man eine ausgezehrte und ver­sehrte Landschaft, zum Teil sich selbst überlassen, zum Teil industriell überformt. Altlasten mischen sich mit Spontanvegetation und neuen Biotopen. Die Be­hörden versuchen nun schrittweise, die Probleme der Vergangenheit in den Griff zu bekommen, und in Carrières-sous-Poissy, begünstigt durch die Nähe zur RER-Station, sind inzwischen neue Wohngebiete entstanden. Im Süden und Westen stossen sie an den Parc du Peuple de l’Herbe.

Der vom Landschaftsarchitekturbüro Agence Ter geplante Park umfasst 113 ha und erstreckt sich im Seinebogen über eine Länge von 2.8 km. Auch hier wurde früher Gemüse angebaut, auch hier verseuchten Abwässer den Boden, und schliesslich kam der Kiesabbau, der zwei grosse Seen hinterlassen hat. Kein arkadisches Idyll also, sondern eine raue Landschaft, hybrid geprägt von den Kräften der Natur und den Interven­tionen des Menschen.

Das Parkprojekt verfolgt zwei Ziele: Zum einen geht es um ökologische Aspekte, um die Verstärkung von Biodiversität und um Phytosanierung, also die ­Sanierung des Bodens mit biologischen Mitteln; zum anderen um die Anlage eines Naherholungsgebiets für die lokale Bevölkerung, das aber durchaus auch die Bewohnerinnen und Bewohner der nahen Hauptstadt anlocken soll. Das Konzept der Pariser Landschafts­architekten teilt die Gesamtfläche in drei unterschiedlich intensiv genutzte Bereiche: die «bande active» mit diversen Freizeitangeboten entlang der Siedlungskante, eine mittlere Zone, in der die Natur weitgehend ungestört bleibt, und schliesslich die Bereiche am Seine­ufer, die durch teilweise Auslichtung sowie Stege und Terrassen für die Besucher zugänglich gemacht wurden.

Für die Parkbauten wurde ein separater Wettbewerb ausgeschrieben, den HHF und AWP gewinnen konnten; seit ihrem erstmaligen Zusammentreffen auf der Architekturbiennale São Paulo 2007 haben die Büros aus Basel und Paris immer wieder gemeinsam an Projekten gearbeitet. Für Carrières-sous-Poissy konzipierten sie eine Familie von kleinen Parkbauten mit ganz unterschiedlichen Funktionen. Die ursprünglichen Pläne umfassten neben dem Observatoire ein Besucherzentrum und ein Restaurant sowie eine ganze Reihe weiterer Kleinbauten zum Skaten, Klettern und für diverse andere Betätigungen, darunter auch ein Minitheater und einen Kiosk. Das ab­strakte Satteldachhaus war das verbindende Motiv; es erlaubte eine unterschiedliche Materialisierung und gewährte zugleich genügend Flexibilität bei zukünftiger Nut­zungs­­änderung. Eine wichtige Inspirationsquelle waren die kleinen Fischerhütten und die Hausboote in der Um­gebung, aber natürlich kann man die Urhütten auch als Referenz an die für Suburbia typische gene­rische Bebauung verstehen.

Insekten in der Urhütte

Der zweite Bau von HHF und AWP steht denn auch in unmittelbarer Nachbarschaft zur Wohnsiedlung. Er markiert den Hauptzugang zum Park und ist aus dem Konzept eines ursprünglich hier geplanten Besucherzentrums hervorgegangen. Dieses wurde im Lauf der Planung vergrössert und zu einem Insektenmuseum umprogrammiert. Auch das Insektenmuseum besteht aus mehreren Urhütten – nur sind diese hier nicht aus Stahl, sondern aus Holz gefertigt und nicht vertikal übereinander, sondern horizontal nebeneinander an­geordnet. Fünf Körper unterschiedlicher Grösse und Proportion wurden über einem Betonsockel zu einem Volumen zusammengeschoben, das über unregelmäs­sigem Grundriss in die Landschaft ausgreift.

Die Konstruktion besteht aus biegesteifen Holzrahmen aus Douglasien-Brettschichtholz, die zum Teil an den Schnittstellen als Spider Legs im Raum auftreten. Grosse Fenster öffnen gezielt Blickachsen in die Umgebung, transluzente Polycarbonatplatten lassen Licht ins Innere strömen. Vertikale Latten aus sibirischer Lärche bilden die äussere Haut des Gebäudes und sind auch als Lamellenstruktur über einige Bereiche der Verglasung geführt. In zwei Ausstellungsbereichen werden die ­Geschichte des Orts und das Thema der Insekten präsentiert. Daneben umfasst das Museum ein Auditorium samt Gruppenraum, Büros und schliesslich ein Labor mit Bruteinrichtungen für Insekten. Als Haus im Haus steht ein Glashaus mit lebenden Schmetterlingen und Insekten, es bildet sozusagen den Nukleus des Museums, in formaler wie in inhaltlicher Hinsicht. Und inzwischen hat das «Peuple de l’Herbe» dem Park ja auch seinen Namen gegeben.

Klamme Kassen lassen vermuten, dass der Park wohl nicht den im Wettbewerb von 2011 imaginierten Ausbauzustand erreichen wird. Aber zumindest die geplante Guinguette wäre eine wünschenswerte und angesichts des Besucherstroms seit der Eröffnung auch realistische Ergänzung. Guinguettes, das waren die Ausflugsgaststätten, die seit dem 19. Jahrhundert an den Ufern von Seine und Marne im Pariser Umland entstanden – einfache Gartenlokale mit Tanz und Musik. Man kennt sie eigentlich nur noch von den Bildern der Impressionisten. HHF und AWP haben eine zeitgenössische Guinguette entworfen. Sie könnte eine zusätzliche Attraktion des Parks darstellen.

Am Bau Beteiligte
 

Bauherrschaft: Maîtrise d’ouvrage Communauté d’agglomération Deux Rives de Seine (F)

Architektur: AWP (Armengaud, Armen­gaud, Cianchetta), Paris, mit HHF (Herlach, Hartmann, Frommenwiler), Basel

Ingenieurwesen: Grontmij, De Bilt (NL)

Konstruktion: EVP, Paris

Konstruktions­consulting: Tivadar Puskas, Schnetzer Puskas Ingenieure, Basel

Innenausbau Holz: Lignotrend, Wauwil

Innenausbau Glas: Saint Gobain, Paris

Landschaftsarchitektur: Agence Ter, Paris

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