Schwei­zer Bot­schaft in Mos­kau: Wenn der Raum spricht

Jenseits von Zeichen, Symbolen und Analogien verkörpert die Architektur der neuen Schweizer Botschaft in Moskau von Brauen Wälchli Architectes einen Wert.

Publikationsdatum
06-11-2019

Auch die architektonische Gestaltung eines Botschafts­gebäudes ist eine diploma­tische Kommunikationsaufgabe. Architektur kommt hier auf unterschiedlichen Ebenen und Stufen zur Geltung – sowohl durch die konkrete Raumgestaltung vor Ort als auch durch virtuelle Räume, sprich: den Medienauftritt. Ein wichtiges Thema für Schweizer Botschafterinnen und Botschafter ist es, Schweizer Präzision im Ausland zu vermitteln; diese kommt zum Beispiel in sorgfältig ausgewählten (möglichst ortstypischen) Baumaterialien zum Ausdruck. Und die Medien finden rasch heraus, ob sich damit bestimmte Analogien verknüpfen lassen. «Botschaft» ist im Deutschen bekanntlich synonym mit «Nachricht» – ein Sinngehalt, der in dem französischen Begriff «ambassade» leider nicht mitschwingt.

Räume mit Bedeutung

Den eindrücklichsten Blick auf den neuen diplomatischen Gebäude­komplex in Moskau hätte man aus der Vogelperspektive: Der Innenhof weist ähnliche Umrisse wie die Landesgrenzen der Schweiz auf. Als die Architekten und der Landschafts­architekt sich dessen bewusst wurden, zogen sie auf dieser geometrisch abstrahierten Landesfläche überall dort, wo sich die wichtigsten Schweizer Städte befinden, Kreise ein und pflanzten an der Stelle, die die Landeshauptstadt markiert, einen Apfelbaum. Die Sorte: Berner Rosenapfel. Die Botschaft wurde so zu dem, was sie repräsentiert: zu einer Abbildung ihres Landes.

Im Rahmen des künstlerischen Wettbewerbs setzte sich diese Übertragung mit der Performance von Anne-Julie Raccoursier fort: Die Künstlerin züchtete durch Pfropfun­gen «Brüderbäume» des Moskauer Apfelbaums und liess sie in allen Schweizer Kantonshauptstädten pflanzen – jeweils an Orten, wo bekannte Russinnen und Russen leben und wo die Schweizer Wohnbevölkerung eine besondere Beziehung zu Russland pflegt. Wie ein «Echo» schmücken die Fotos dieser Bäume seitdem den Eingangsbereich der Botschaft in Moskau.

Die Architekten erklärten es ganz unmissverständlich¹: Ein Botschaftsgebäude zu bauen bedeutet zunächst, einen kulturellen Transfer zu bewerkstelligen. Das ist nicht einfach, da sich dieser Transfer auf verschiedenen Kommunikations­ebenen abspielt. Während der Vorplanung für die Pekinger Botschaft, deren Bau kürzlich an das Architekturbüro Brauen Wälchli Architectes vergeben wurde, entstand zum Beispiel die Idee, das Gebäude auf Steinblöcken zu errichten, die von Schweizer Alpengletschern stammen, also auf einem kleinen, symbolischen Stück Schweiz.

Sprache besteht aus Symbolen, auch in der Architektur. Wer die Charakteristika eines Landes am besten «übersetzen» will, geht planmässig vor. Die Anordnung der Moskauer Botschaftsgebäude auf dem Lageplan gibt sehr genau Aufschluss über gewisse Verhaltensweisen und Eigenschaften, die «typisch schweizerisch» sind. Einerseits verschlossen, zurückhaltend, beinahe ab­gekapselt von der Aussenwelt, andererseits absolut offen und transparent für die Menschen, die es von innen kennenlernen: Der neue Gebäudekomplex wirkt wie eine Miniatur-Schweiz.

Annäherung an Moskau

Wenn es eine typisch schweizerische Herangehensweise gibt, dann ist es die, mit einem Wettbewerb zu beginnen – eine Politik, von der das Bundesamt für Bauten und Logistik (BBL) hier profitiert. 2007 schrieb es einen Architekturwettbewerb für einen Erweiterungsbau aus, der verschiedene diplomatische und konsularische Dienste, die Residenz des Botschafters und repräsentative Räume für die Bereiche Wirtschaft und Kultur umfassen sollte.

Die Schweizer Botschaft in Moskau war bisher in einem 1892 errichteten, zweistöckigen Herrenhaus unter­gebracht, das nicht so sehr wegen der aussergewöhnlichen Architektur, sondern aufgrund seines Modell­charakters für den Moskauer Neoklassizismus und seines guten Zustands denkmalgeschützt war. Es liegt in Zemlianoi Gorod, zwischen dem «Boulevardring » und dem ­«Gartenring», am Standort einer ehemaligen Obst- und Gemüseplantage, die einst den Zarenhof belieferte. Es handelt sich um ein dezentrales Viertel mit durchlässigen Flächen. Die Urbanisierung, die sich dort langsam vollzieht, ist von einseitig offenen, hofartigen Parzellen mit grossen Hinterhöfen geprägt. So kann die Luft in den Höfen, die sich hinter den steineren Strassenfassaden ausdehnen, frei zirkulieren.

Zwar verwandelt sich Moskau heutzutage eher in ein Potemkinsches Dorf und setzt hinsichtlich seiner öffentlichen Flächen und Räume dieselben standardisierten Kriterien an wie die meisten globalisierten Städte. Doch der Reiz für den Besucher liegt nach wie vor in der Wertschätzung dieser morphologischen Besonderheiten, die ihn zwischen grossen Prachtstrassen und in sich gekehrten Grünflächen umherspazieren lässt.

Während die meisten anderen Teilnehmer des Wettbewerbs das Moskauer Herrenhaus ins Zent­rum ihres Entwurfs gestellt und einen respektvollen Abstand zu diesem kleinen Stück Kulturgut2 ein­gehalten hätten, unterbreitete das Büro Brauen Wälchli Architectes der Bauherrschaft den Vorschlag, das gesamte Gebäude in den lokalen Urbanisierungsprozess mit einzubinden. Sein Entwurf basiert auf der Idee, die Parzelle durch zwei Gebäude im rechten Winkel einzufassen. Zusammen mit dem Herrenhaus als drittem Baukörper entsteht ein Häuserkomplex, der sich um den Innenhof herum erstreckt. Mit dieser Anordnung unterstreichen die Architekten, dass die Fortführung des bestehenden Bebauungsprinzips im Quartier ein prioritäres Ziel für sie war.

Der Gebäudeplan widerspiegelt überall die klaren Organisa­tions­­strukturen und strahlt Transparenz aus, verdeutlicht aber gleichzeitig auch ein kollektives, hierarchieloses Selbstverständnis. Der helle Gang, der im Zickzack um den Innenhof herumführt, verbindet auf interaktive und dabei effiziente Weise die verschiedenen Dienstleistungsbereiche, deren Mitarbeitende im täglichen Austausch miteinander stehen (Diplomatie, Kanzlei, Wirtschaft, Tourismus, Kultur). Der steinerne Innenhof lässt die Blicke in alle Richtungen schweifen und vereint die Besuchenden in einem Raum aus Licht, das den Hof gleichmässig, ja demokratisch ausleuchtet.

Zwei Nutzungsziele – zwei Fassaden

Um zwei verschiedenen Nutzungsansprüchen gerecht zu werden, bedarf es eines «doppelten Gebäudes». Nach gründlicher Recherche wählten die Planenden hierfür jedoch keinen additiven Ansatz, sondern entwarfen einen Bauplan, der gleich mehrere Parameter berücksichtigt: Alle Räume mit privater Nutzung – Büros, Diensträume, Neben­er­schlies­sun­gen – sind aussen an­ge­ordnet und folgen dem Strassen­­verlauf. Die Wände stehen senkrecht zu den Aussenmauern. Die Fenster sind in einem Rhythmus angeordnet, der sich in den angrenzenden Nachbargebäuden fortsetzt. Gliedernde Elemente wie Sockel, Fensterrahmen und abstrakte Gesimse, die das Strassenbild ­beleben, werden nur durch minimalistische grafische Bearbeitungen des Aussenputzes angedeutet.

Alle Räume mit kollektivem Nutzungsziel – Konferenzräume, Gemeinschaftsbüros, offene Arbeits- und Meetingbereiche – sind zum Innenhof hin orientiert und erstrecken sich entlang der Glasfassade. Die Anordnung reagiert auf die klimatischen Gegebenheiten vor Ort: Das im Winter knappe Licht wird optimal eingefangen. Die Südfassade des Herrenhauses dient, ebenso wie der Schnee, der im Winter den Innenhof bedeckt, als Reflektor. Die geschwungene Geometrie des kleinen Platzes lässt das Licht in die Tiefe des Gebäudes vordringen.

Um Kältebrücken zu vermeiden, ohne Kragplattenanschlüsse einsetzen zu müssen, wurden die Bodenplatten mit einer Dämmung umgeben. Die dadurch stark wirkenden Stirnseiten der Geschossdecken lassen die gesamte Aussenfassade massiv erscheinen. Und so ist es wohl kein Zufall, dass Säulen dem Neubau ein klassizistisches Profil verleihen und seine Proportionen mit denen des angrenzenden Herrenhauses harmonieren.

Jenseits der Semiotik der Baupläne stellt die Architektur eines Botschaftsgebäudes Architektinnen und Architekten auch vor weitere komplexe theoretische Herausforderungen: Sie zwingt dazu, sich mit dem bikulturellen Kontext des Gebäudes auseinanderzusetzen. Brauen Wälchli Architectes haben inzwischen Erfahrung mit dieser Aufgabe, nachdem sie die Erweiterung der Prager Botschaft (1997 – 2005) durchgeführt und die Botschaft in La Paz, Bolivien (2000 – 2003), entworfen haben. Man kann weder die lokale Architektur imitieren noch die schweizerische aufdrängen, sagen die Architekten. Es ist die Herangehensweise, die schweizerisch sein muss. Eine Schweizer Botschaft möchte langfristig am jeweiligen Standort verankert sein und bleiben.

Kein bisschen gealtert

Seit einiger Zeit orientiert sich die Moskauer Architektur vornehmlich an zwei Epochen: Einmal gibt sie der künstlichen Wiederherstellung einer idealisierten Vergangenheit den Vorzug, ein anderes Mal der Veran­kerung in einer durch und durch globalisierten Gegenwart ohne historische Tiefe. In beiden Fällen nutzt sie Effekte mit einem raschen Verfallsdatum. Die Architektursprache der Schweizer Botschaft hingegen knüpft an das Vorhandene an.

Das Projekt trägt nicht nur dem bestehenden Strassenbild, dem Herrenhaus und den klimatischen Bedingungen vor Ort Rechnung, sondern wurde auch durch ein weiteres Element beeinflusst: Ein paar Strassenzüge weiter steht das Centrosoyuz, eines jener emblematischen Gebäude, die Le Corbusier zwischen 1928 und 1936 errichtet hat. Mit seinem klar definierten Volumen und den Fensterbändern ist das Centrosoyuz ein «echter Corbu», jedoch in einer roten Variante: Die Fassade ist mit Tuffstein verkleidet, der seinerzeit trotz kostenbedingtem Protest der Bauherrschaft aus Artik, einer Stadt im Kaukasus, importiert wurde.3

Vielleicht war es dieses zusätzliche Element, das den Planenden der Schweizer Botschaft trotz der jahrelangen Planungs- und Bauphase ein gewisses Selbstvertrauen gab: Kurz vor der öffentlichen Auflage blockierte nämlich der neue Bürgermeister der Stadt, erst seit Kurzem im Amt, sämtliche bereits laufenden Abrissverfahren und zwang die Architekten, ihr Dossier komplett zu überarbeiten. Wohl weil der Entwurf keiner der sonst üblichen Tendenzen folgte, konnte er sich zum Schluss gegen alle Schwierigkeiten durchsetzen. Zwölf Jahre nach dem Projektwettbewerb wurden die Bauarbeiten wieder aufgenommen und sind nun abgeschlossen. In dieser langen Zeit ist das Projekt kein bisschen gealtert: Die Baupläne orientieren sich an den Vorgaben des Orts, nicht an denen der Zeit – dies ist die Botschaft, die die Architekten nach Moskau übermittelt haben.

Architektur und Generalplanung
Brauen Wälchli Architectes, Lausanne


Bauherrschaft
Eidgenössisches Finanzdepartement (EFD), Bundesamt für Bauten und Logistik (BBL)


Tragwerksplanung
CSD Ingénieurs, Lausanne


HLKS-Planung
Weinmann Energien, Échallens VD


Elektroplanung
Perrottet Ingénieurs, Lausanne


Fassadenplanung
Arup, Berlin


Akustik
Architecture & acoustique, Genf


Landschaftsarchitektur
L’Atelier du Paysage, Lausanne


Wettbewerb
2007


Bauzeit
2015–2018


Kosten
42 Mio. Fr.

Anmerkungen

1 Siehe Martin Tschanz, Ulrich Brauen, Doris Wälchli, «Botschaften bauen: ein Gespräch mit Doris Wälchli und Ueli Brauen», werk, bauen + 
wohnen 93/2006.

2 Christoph Elsener, «Die Insel Schweiz: Projektwettbewerb für die neue Schweizer Botschaft in Moskau», werk, bauen + wohnen 95/2008.

3 Zum Centrosoyuz siehe Jean-­Louis Cohen, Le Corbusier et la mystique de l’URSS: théories et projets pour Moscou 1928–1936, Lüttich, Pierre Mardaga Éditeur, 1987.

Übersetzung: Zieltext, Zollikofen Der Artikel erschien zuerst auf Französisch in Tracés 18/2019

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