Haut, Fleisch, Knochen
Nach Behebung erheblicher Baumängel und einem technischen Upgrade ist Mies van der Rohes Neue Nationalgalerie in Berlin ab August wieder zugänglich. Fünf Jahre währte die akribische Sanierung des Hauses durch David Chipperfield Architects. Der Tempel der Moderne bleibt auch weiterhin nur einfach verglast.
Der Betrag von 140 Mio. Euro ist ein stattliches Sümmchen für die Erneuerung eines knapp 50 Jahre alten Gebäudes. Erfährt man schliesslich, dass diese Instandsetzung von Anfang 2016 bis jetzt dauerte, steht ausser Zweifel, dass dies kein alltäglicher Sanierungskandidat sein kann.
Mies van der Rohes Neue Nationalgalerie in Berlin, vom Architekten 1968 wie ein antiker Tempel effektvoll auf ein steinernes Podium gestellt, gilt als Meisterwerk. Die Bedeutung der gläsernen Ausstellungshalle mit dem monumentalen, schwarzen Rasterdach liegt nicht nur im Formalen; sie war Mies‘ einziges in Europa realisiertes Gebäude nach seiner Übersiedlung in die USA 1938 und sein letztes Bauwerk überhaupt.
Zudem ist es gleichermassen ein Schlusspunkt der klassischen Moderne. Anfang 1977, keine neun Jahre nach seiner Einweihung, eröffnete in Paris das von Richard Rogers und Renzo Piano entworfene Centre Pompidou mit seinem provokanten technizistischen Raster- und Röhren-Look. Zu dieser Zeit hätte niemand mehr Sinn für Mies‘ Pathos-Gesten gehabt. Die «erste Moderne» war mausetot.
Viel neues Fleisch
2012 hatte die Berliner Niederlassung von David Chipperfield Architects im Rahmen eines VOF-Verfahrens (Vergabeordnung für freiberufliche Leistungen) den Zuschlag für die Erneuerung des Baus erhalten.
Aber wie saniert man ein so hochrangiges Denkmal? Indem man es mit grösstmöglicher Sorgfalt Stück für Stück in seine Einzelteile zerlegt, diese nötigenfalls repariert oder ersetzt, und am Ende alle Bauteile wieder am alten Platz einfügt. Von Beginn an einte alle Beteiligten – Denkmalpflege, Bauherrschaft, Architekten und Nutzer – das Ziel, so viel wie möglich von der originalen Substanz zu bewahren. Die umfassende Dekonstruktion des Gebäudes auf seinen Rohbauzustand war neben den Bauschadstoffen (Asbest u.a.) nötig, weil der Beton von Tragkonstruktion und Decken ebenfalls saniert werden musste.
Martin Reichert, projektverantwortlicher Partner im Büro Chipperfield, spricht von Haut, Fleisch und Knochen: Während die «Haut», also die bauzeitlichen Oberflächen, ebenso wie die «Knochen» – der Rohbau – weitgehend bewahrt werden konnte, kam es beim «Fleisch», also bei Estrichen, Putzen, Rabitzdecken, Wärmedämmungen und Porenbetonelementen, zu den vergleichsweise grössten Verluste; sie waren jedoch kaum zu vermeiden.
Rückbau auf den Rohbauzustand
Doch wo möglich, wurde repariert, nicht ausgetauscht – von den Türklinken bis zu den ebenfalls von Mies entworfenen Schreibtischen im Direktorenzimmer. Dabei wurden die Gebrauchspuren von fünf Jahrzehnten sichtbar belassen. Anderseits liess man die zwischenzeitlich ausgetauschten, bauzeitlichen Waschbecken der Besucher-WCs eigens in Kleinserie nachfertigen. Der ursprüngliche Teppichboden in den Ausstellungssälen war ebenfalls verschwunden; die Architekten liessen ihn anhand von Fotografien sowie mutmasslichen Originalmustern neu weben.
Eine Totalerneuerung erfolgte lediglich bei der nichtsichtbaren Gebäudetechnik. Sie war nicht nur veraltet; weil Museen heute ein Vielfaches an Besuchern zu bewältigen haben als um 1970, mussten die Klimatechnik, aber auch die Infrastruktur des Hauses leistungsfähiger werden. So gibt es auch endlich einen echten Personenaufzug: Vor der Sanierung mussten Rollstuhlfahrer mit dem für Kunstwerke gedachten Lastenaufzug vom Aufsichtspersonal ins Untergeschoss begleitet werden.
Man neigt zu dem Eindruck, dass sich die Bauherrschaft – die Stiftung Preussischer Kulturbesitz – für ihren Mies eine aufwendige Luxussanierung geleistet hat. Auf der anderen Seite hatte das Gebäude nach knapp 50 Jahren Nutzung erhebliche baukonstruktive Schäden. Diese waren teils «entwurfsimmanen» wie es Martin Reichert diplomatisch ausdrückt: Mies habe Anmutung und Proportion «mehr Beachtung geschenkt als der Gebrauchstauglichkeit».
Heikle Scheiben
Ein gutes Beispiel dafür sind die riesigen Glasscheiben der Fassade: Um grösstmögliche Transparenz zu erreichen, hatte Mies lediglich 12 mm dicke Scheiben verwendet – bei Formaten von 5.40 auf 3.43 Metern in der oberen Halle. Zu Beginn der Sanierung existierten nur noch vier originale Gussglasscheiben. Alle anderen waren infolge von Dehnungen der Fassade gebrochen und durch geteilte Scheiben ersetzt worden.
Nach intensiver Abwägung entschieden sich die Projektpartner gegen die Option einer Isolierverglasung. Sie hätte unter anderem zu Konsequenz gehabt, dass die bestehenden Scheibenfassungen der Vertikalpfosten nicht mehr hätten genutzt werden können. Man wählte stattdessen ein gegenüber den ursprünglichen Scheiben doppelt so dickes Verbundsicherheitsglas, bestehend aus zwei miteinander verklebten Scheiben (2 x 12 mm).
Eine 3 mm dicke zwischen die Scheiben gebettete Folie «verschweisst» die beiden teilvorgespannten Glasscheiben miteinander. Es handelt sich um Ionoplast, das sich gegenüber Polyvinylbutyral (PVB) fester, steifer und temperaturbeständiger verhält. Nur in China fand sich ein Hersteller, der Scheiben dieser Formate anbietet.
Bei Aussentemperaturen unter 5 Grad Celsius kam es an der Einfachverglasung stets zu Kondensatbildung. An einigen Rahmen hatte das zu erheblicher Korrosion geführt. An der Innenseite der erneuerten Fassade wird künftig ein Luftschleier, gespeist aus Schlitzauslässen im Fussboden, das Beschlagen bremsen. Ausserdem wird das verbleibende Schwitzwasser künftig über Kondensatrinnen geregelt abgeführt.
Auf eine erhöhte Reduktion der UV-Transmission wurde aus ästhetischen Gründen verzichtet; denn sie hätte eine UV-Beschichtung des Glas-Zwischenraums erfordert, mit dem Effekt einer bläulich-violetten Farbreflektion. Der Wunsch nach natürlicher, möglichst ungeschmälerter Transparenz gab auch den Ausschlag, einen niedrigen energetischen Standard der Gebäudehaut in Kauf zu nehmen.
Eine Ursache des häufigen Glasbruchs lag darin, das die Fassade konstruktiv unzureichend auf z.B. temperaturbedingte Verformungen reagieren konnte. Um dem abzuhelfen, entwickelten die Stuttgarter Fassadeningenieure von Drees & Sommer so genannte Dehnpfosten, die künftig die Bewegungen in der Fassade flexibel aufnehmen können. Die Ingenieure führten die Konstruktion luft- und dampfdicht aus, um Korrosion innerhalb der Profilfügungen und Hohlräume zu vermeiden.
Ähnlich wie die Erneuerung des Zürcher Corbusier-Pavillons (TEC21 22/2015) bot die akribische, von fast archäologischer Sorgfalt geleitete Vorgehensweise an der Nationalgalerie die Gelegenheit, aktuelle denkmalpflegerische Standards zu reflektieren und die Bandbreite der Optionen auszuloten. «Die Ernsthaftigkeit, mit der selbst scheinbar marginale denkmalpflegerische Fragen von allen Beteiligten diskutiert wurde», sei spezifisch für dieses Projekt gewesen, sagt Architekt Martin Reichert. Erfreulicherweise standen den Planern u.a. Mies‘ Enkel Dirk Lohan als Berater zur Seite, der seinerzeit koordinierend an der Verwirklichung des Baus mitgewirkt hatte.
Reverenz statt Abgrenzung
Nur an zwei Punkten im Untergeschoss nahmen die Architekten sichtbare Veränderungen vor: Um heutige Besucherströme bewältigen zu können, richtete man auf der Fläche zweier ehemaliger Depots eine neue Besuchergarderobe sowie einen Museumsshop ein. Ein Blickfang dieser Räume sind die freigelegte Betondecke und die mächtigen Stützen, die überall anders im Haus hinter Verkleidungen verborgen sind.
Bei den zugehörigen Einbauten – Schränke und Tresen – orientierte man sich an der Möblierung des Erbauers; kurzum: man ahmte ihn schöpferisch nach, inklusive «Mies-Ecken» an den Aussenkanten der Garderobenschränke. Das ist bemerkenswert: Noch vor 15 Jahren hätten Berliner Denkmalpfleger, zumal bei einem so prominenten Bau, auf Einbauten bestanden, die sich deutlich vom bauzeitlichen Bestand abheben.
Die Staatlichen Museen Berlin sind überzeugt, dass das Haus nach dieser sehr diskreten Erneuerung fit ist für weitere 50 Jahre intensiver Nutzung. Mies hatte es ja seinen Chicagoer Studenten ans Herz gelegt: «Man kann nicht jeden Montag eine neue Architektur erfinden.» An der Potsdamer Strasse gilt das auch für deren physische Substanz. Am 22. August 2021 wird die Neue Nationalgalerie wiedereröffnet.
Weitere Informationen
Informative Web-Dokumentation der Staatlichen Museen Berlin zur Sanierung des Hauses.
Link zum Bauwelt-Interview mit Ludwig Mies van der Rohe, 1964 geführt anlässlich der Vorplanungen für die Nationalgalerie.
Am Bau Beteiligte
Bauherrschaft
Stiftung Preussischer Kulturbesitz, vertreten durch das Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (BBR)
Architektur
David Chipperfield Architects Berlin mit BAL Bauplanungs- u. Steuerungs GmbH
Projektsteuerung
KVL Bauconsult GmbH, Berlin
Landschaftsarchitektur
TOPOS Stadtplanung, Landschaftsarchitektur und Stadtforschung, Berlin
Facts
Vergabeverfahren
VOF-Verfahren 2012
Bruttogrundfläche
ca. 14'000 m2
Nutzfläche
9'200 m2
Gesamtkosten
140 Mio. Euro
Literatur
Bauwelt Einblick: «Neue Nationalgalerie», 50 Seiten, Mai 2021, engl., ca. 12 Euro/15 Fr.