Die Kunst des Schie­bens

Mit dem Einbau der Eisenbahnüberführung über die A13 ist das Ensemble der Hinterrheinbrücken bei Reichenau komplett. Der zweifach gekrümmte Brückenabschnitt glitt nachts reibungslos über die gesperrte Nationalstrasse. Ein intelligentes Spiel mit Form und Gewicht.

Publikationsdatum
04-05-2019
Thomas Ekwall
MSc. EPFL Bau-Ing., MAS ETHZ Arch., Korrespondent TEC21

Zahlreich trafen sich die Protagonisten des Baus in der Nacht vom 29. zum 30. März 2019 bei der Ausfahrt Bonaduz-Rhäzüns in der Region Imboden. Um 20.30 Uhr gaben Vertreter des Bundesamts für Strassen Astra die Nationalstrasse für den Verschub frei, die Stahlbauer montierten die Hilfs­türme, und die Verschubspezia­listen justierten ihre Vorrichtung an der Überführung.

Im Hintergrund verschaffte sich die Bauherrschaft den Überblick, und die Ingenieure tauschten sich über die Bauhilfsmassnahmen aus. Den Beteiligten war bewusst, dass hier der Schlussstein einer eindrucksvollen Baustelle gesetzt wird, die mit einem Ingenieurwettbewerb 2015 begann.

Damals gewann das interdisziplinäre Team um die Ingenieurgemeinschaft von WaltGalmarini und Cowi den offenen Wettbewerb mit einer schwungvollen Geste: Die «junge Schwester» sollte neben der straff geführten «alte Schwester» – einer Fachwerkbrücke Jahrgang 1895 – über den Hinterrhein gebaut werden, beides einspurige Eisenbahnbrücken der Rhätischen Bahn.

Um die Nationalstrasse zu überqueren, war geplant, dass beide Gleise über eine gemeinsame Platte getragen werden. Eine Lösung, die sich bald als betrieblich und bautechnisch unbefriedigend erwies. Die Bahn liess deshalb eine leichte Exzentrizität zwischen Brücken- und Gleis­achse zu, um beide Überführungen konstruktiv getrennt aus­bilden zu können.

Phasen des Translozierens

Die A13-Überführung besteht aus einer quergespannten orthotropen Stahlplatte und zwei 52 m langen seitlichen Längsträgern. Sie wurde im Werk des Stahlbauers in drei ­Elementen gefertigt und vor Ort zu ­einem 210 t schweren Bauteil ­zusammengeschweisst. Einer der grössten Raupenkrane der Schweiz, ein LR 1750-2, hob den Träger über die 2018 in Betrieb genommene ­«junge Schwester» und setzte ihn mit 37 m Ausladung auf die mit ­Verschubbahnträgern ­versehenen Fachwerk­obergurte der alten Brücke auf.

Da das ehrwürdige Bauwerk wegen Instandsetzungsarbeiten ausser ­Betrieb war und die Überführung so viel wog wie eine Zugkomposition, übernahm das etwa 120 Jahre alte Bauwerk seine temporäre Aufgabe gelassen. Der Kran hob den 15 t schweren und 10 m langen Vorbauschnabel ein, der stirnseitig an den Längs­trägern der Überführung aufgeschraubt wurde. Dadurch konnte die massgebende Auskragung der Brücke im Bauzustand von 25.7 m um 7.6 m reduziert werden.

Die stählernen Hilfstürme ruhten auf Splittbetten, die als Nivellierschicht fungierten. Sie leiteten die bis zu 100 t starken Punktlasten während des Bauzustands in den empfindlichen Strassenbelag ein. Zwei Litzen, die das im Widerlager auf Seite Bonaduz verankerte Hilfsgerüst mit dem hinteren Ende der Überführung verbanden, schoben die Überführung nach vorn.

Die Längsträger der Brücke glitten im hinteren Bereich auf den Verschubbahnträgern und im vorderen Teil auf das Hilfsgerüst vor der Autobahn mit einer Geschwindigkeit von bis zu 1 cm/s. Als die Spitze des Vorbauschnabels die Hilfstürme ­erreichten, übernahmen die mit ­hydraulischen Pressen versehenen Gleitelemente die vertikalen Kräfte, womit die Auskragung entfiel. Die Brücke wurde über eine widerlagernahe Hilfsabstützung in ihre definitive Lage verschoben.

Mit der Krümmung umgehen

Dieser Vorgang entspräche einem klassischen Verschubverfahren, hätte nicht die zweifach gekrümmte Form des verschobenen Bauteils noch berücksichtigt werden müssen. Aufgrund von Krümmungsradien im Grundriss bis ca. 420 m musste der Verschub mittels seitlich an den Stegen der Längsträger angeordneten Führungsleisten horizontal geführt werden.

Die daraus resultierenden horizontalen Ablenkkräfte wurden beim Widerlager Bonaduz durch das Stahlbetonbauwerk selber getragen, während im Bereich der Hilfstürme die benachbarte «junge Schwester» als Abstützung diente. Die Überhöhung von 200 mm im Längsschnitt wurde durch hydraulisch verstellbare Gleitschuhe ausgeglichen.

Als das Astra um 7.15 Uhr die Nationalstrasse wieder für den ­Verkehr freigab, waren Hilfstürme und Vorbauschnabel demontiert. Das letzte Stück des Längsverschubs der Über­führung samt Demontage der widerlagernahen Hilfsabstützung fand unter laufendem Verkehr statt.

Ende April 2019 werden die Brückenlager versetzt und die Überführung in die definitive Lage abgesenkt sein. Bis zur Wiedereröffnung der «alten Schwester» im November 2019 geben nun die Korrosionsschutzarbeiten an der Fachwerk­brücke den Takt vor.

Ausführliche Berichterstattung zum Wettbewerb: espazium.ch/bruecken-am-­vereinigten-fluss


Bilderstrecke zur Baustelle Hinter­rheinbrücke: espazium.ch/das-nadeloehr-im-rhb-netz

Bauherrschaft
Rhätische Bahn, Chur
 

Bauingenieure
INGE WaltGalmarini, Zürich;
Cowi UK, London


Architektur
Dissing + Weitling architecture,
Kopenhagen


Landschaftsarchitektur
Hager Partner, Zürich


Örtliche Bauleitung
Casutt Wyrsch Zwicky, Chur


Bauunternehmer Stahlbau
ARGE Schneider Stahlbau, Jona; Jörimann Stahl, Bonaduz; ­Toscano Stahlbau, Cazis GR


Bauunternehmung Tiefbau
Erni Bauunternehmung, Flims GR

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