Nach in­nen ge­rich­tet, von aus­sen be­stimmt

Als Insel und Hafenstadt konzentriert sich Sète auf sich selbst und reagiert über die Hafenaktivitäten zugleich empfindlich auf äussere Veränderungen. In der aktuellen Wirtschaftskrise schreibt der öffentliche Diskurs dem «Anderen» deshalb eine zentrale Rolle zu. 

Publikationsdatum
24-11-2016
Revision
28-11-2016

Die Mittelmeerstadt Sète entstand Ende des 17. Jahrhunderts infolge einer Hafengründung. Den Ort kennzeichnet eine besondere Lage: Während der Küstenbereich des Golfe du Lion aus einer flachen, sumpfigen Lagunenlandschaft besteht, liegt die Stadt am Fuss des knapp 200 m hohen Mont Saint-Clair, der im Norden an den Etang de Thau grenzt und im Süden ans Meer. Verbindungen zum Festland beschränken sich auf zwei entfernte Stellen: Seit jeher versteht sich die Hafenstadt als Insel.

Stolz erzählen sich ihre Bewohner den Gründungsmythos: Ruhmreich sind Hafen und Stadt dem Willen des Sonnenkönigs geschuldet, da Ludwig XIV. – auf der Suche nach einem Standort für einen Mittelmeerhafen zum Schutz der königlichen Flotte und zur Ankurbelung des Aussenhandels im darbenden Frankreich – 1666 den Bau eines Hafens am Kap von Sète beschloss. Diese erste auswärts getroffene Entscheidung wird als glückliche Fügung begriffen: Der Kanal, der durchs Stadtzentrum führt, den Etang de Thau mit dem Meer verbindet und den Canal du Midi ins Meer münden lässt, heisst noch heute Canal Royal.

Tatsächlich ist die gesamte Entwicklung der Stadt von äusseren Kräften geprägt. Mehrere Festungsbauten entstanden als Reaktion auf eine Hafenein­nahme durch die Engländer 1710, und nachdem die deutschen Besatzer während des Zweiten Weltkriegs Hafeninfrastruktur und Teile der Stadt zerstört hatten, wurden im Norden der Insel neue Wohngebiete erschlossen. Diese Entwicklung setzte sich in der ­Nachkriegszeit fort mit dem wirtschaftlichen Aufschwung, dem Geburtenzuwachs sowie der Zuwan­derung aus dem unabhängig gewordenen Algerien. Die jüngsten Stadterweiterungen im Westen der Stadt schliesslich hängen mit der Zunahme touristischer Zweitwohnsitze und dem Zuzug von Rentnern aus dem Norden zusammen.

Die Abhängigkeiten des Hafens

Äusseren Einflüssen ausgesetzt und von ihnen geprägt ist die Stadt auch wegen ihres Hafens. Einen ersten grossen Aufschwung verdankte er in den 1860er-Jahren dem Handel mit Wein: Ein Fünftel des französischen Weinexports wurde über Sète abgewickelt, und der Handelshafen zählte zu den grössten Frankreichs. ­ Zudem förderte der Weinhandel den Holzimport zur Produktion von Holzfässern; die weiten Flächen, auf denen Fässer am Quai umgeladen wurden, prägten das Stadtbild jahrzehntelang. Die zu­nehmende Konkurrenz «von aussen» – ausländische Weine und die Reblauskrise seit den 1870er-Jahren – hatten jedoch dazu geführt, dass sich Sète innert kürzester Zeit von einem Export- zu einem Importhafen umdefinieren musste; mit dem Aufkommen von Tankschiffen in den 1930er-Jahren wurde die Fassherstellung obsolet. 

Die unmittelbare Abhängigkeit der Hafenstadt von Wirtschaftslagen, technischen Neuerungen oder ökologischen Veränderungen prägt die Befindlichkeit der Bevölkerung stark. Im Zusammenhang mit der Schweiz zeigt dies auch folgende Anekdote: Als während des Ersten Weltkriegs kurzzeitig ein Teil des Schweizer Aussenhandels über Sète erfolgte, hoffte man in Sète, dass die Schweiz der Hafenstadt auch nach dem Krieg dauerhaft zu wirtschaftlichem Aufschwung verhelfen würde. Obwohl sich dieser Wunsch nicht erfüllte (ein lokaler Beobachter führte dies auf die selbstgefällige Einstellung und fehlende Bereitschaft der Hafenleitung zurück), berichten die Stadtbewohner noch hundert Jahre später stolz, ihre Stadt sei als «der Hafen der Schweiz» berühmt.

Einen zweiten Boom erlebte Sète in der Nachkriegszeit, als es zu einem bedeutenden Petrolhafen anwuchs und sich – bis zu ihrer Schliessung im Zug der europäischen Desindustrialisierung – Raffinerien und chemische Industrien niederliessen. Die damalige Zeit ist von Visionen und selbstbewussten Entscheidungen geprägt.

Als Anfang der 1960er-Jahre der frisch gewählte Präsident Charles de Gaulle mit der «Mission Racine» die touristische Erschliessung des Languedoc in Angriff nahm, verweigerte der Bürgermeister von Sète die Teilnahme am grossräumigen Entwicklungsprogramm (aus dem als prominentestes Beispiel der Ferienort La Grande Motte hervorging). Sète mit seinem florierenden Handels- und Industriehafen definierte sich nicht als Badeort, sondern entwickelte sich damals von innen: Brücken und Markthallen wurden erneuert, und 1968–1973 entstand auf einer künstlich im Etang de Thau geschaffenen Insel die Grosswohnsiedlung Ile de Thau für 6000 Bewohnerinnen und Bewohner. 1979 war Sète der neuntgrösste Hafen Europas. 

Inselmentalität als Konstante

Inzwischen sind die damaligen Neubauten sanierungsbedürftig und einstige Zukunftsvisionen bitter enttäuscht. Besucht man die Hafenstadt heute, so fallen bei den Hafenanlagen im Stadtzentrum zwei entgegengesetzte Gestaltungs- und Nutzungskonzepte auf, die sich zugleich aufeinander beziehen wie gegenseitig ausschliessen. Sie lassen sich mit dem Antagonismus «alt/neu» respektive «Bewahrung/Erneuerung» beschreiben und bemühen beidseitig verführerische Bilder.  Der erste der beiden Diskurse ist nach innen und zurück gerichtet; er konzentriert sich auf die Fischerstadt. Tatsächlich hat der Fischfang in Sète lange Tradition; seit den 1960er-Jahren entwickelte er sich zudem zu einem wichtigen Industriezweig.

Ein drastischer Rückgang der Fangmengen in den letzten zehn, fünfzehn Jahren hat den einst grössten Fischereihafen der französischen Mittelmeerküste empfindlich getroffen. Umso vehementer verteidigen die verbleibenden Fischer ihre Präsenz im Stadtbild: Grosse, teils jahrzehntealte Boote legen im Canal Royal an; auf den gepflasterten Quais sind Fischernetze und Ölfässer deponiert. Vor der zentral gelegenen Fischversteigerungshalle ist der Asphalt seit Jahren stark beschädigt; die Händler, die dort täglich mit ihren Gabelstaplern Paletten von Fisch umladen, scheinen sich daran aber nicht zu stören – im Gegenteil. Wenn im Gespräch viel geschimpft wird, so vorab über jene, die die Fischerei, so der Grundtenor, aus dem Hafen verdrängen: Gemeint sind die Anhänger der «plaisance», des Jachthafens.

Von ihm geht der zweite Diskurs aus. Er ist nach aussen und nach vorn gerichtet und hat den Freizeithafen im Blick. Viel Geld ist in den letzten Jahren in seine Erweiterung geflossen, von der man sich neue Einkommensquellen verspricht. Erneut sind es «die Anderen», Fremden, Reichen, die man sich herbeiwünscht, um die lokale Wirtschaft anzukurbeln. Dabei grenzen sich die neu gestalteten Räume des Jachthafens ästhetisch von den «alten» ab: Breite, leere Quais mit glatten Bodenbelägen und Palmen zeichnen das Bild eines luxuriös geprägten Südens und sollen zum Flanieren und visuellen Konsumieren einladen – sofern nicht hohe Zäune und Überwachungskameras Öffentlichkeit von vornherein ausschliessen. 

Beide Diskurse sind bezeichnend für die geschwächte Position einer Insel in wirtschaftlich schwierigen Zeiten und ohne klare Zukunftsvisionen. Während die einen aus Angst vor Identitätsverlust mit einer Rückbesinnung auf «gute alte Zeiten» reagieren und Fremdem mit Argwohn begegnen, erbitten sich die anderen äus­sere Hilfe. Wahrscheinlicher ist, dass die Hafenstadt einen dritten Weg einschlagen muss, um an Selbstbewusstsein und Stärke zu gewinnen: sich nach aussen öffnen und den Inselstatus mental aufgeben.

Weiterführende Literatur

«La Suisse en Languedoc. Cette port Suisse». Konferenzschrift, Sète/Montpellier 1919.
Mario Comby, «Le port de Cette», in: Annales de Géographie Bd. 30, Nr. 168, 1921, S. 416–427.
Max Daumas, «L’essor du port de Sète», in: L’infor­mation géographique Bd. 24, Nr. 4, 1960, S. 148–156.
Jean Sagnes (Hrsg.), Histoire de Sète, Pays et villes de France. Editions Privat, Toulouse 1987.
Bernadette Fülscher, Yacine Meghzili, «Séduction et exclusion. Le double (en)jeu des espaces publics de la ville portuaire Sète», unveröffentlichtes Vortrags­manuskript, 2014. Der Vortrag an einer Tagung der Ecole Nationale d’Architecture et d’Urbanisme de Tunis und des Netzwerks International Ambiances gründet auf einer Studie der beiden Autoren. Ihr ist auch dieser Beitrag zu verdanken.

 

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