Von heiss zu kalt

Auskernen von Reaktoren

In der Schweiz sind bereits mehrere Forschungsreaktoren stillgelegt, teilweise demontiert und für die Endlagerung vorbereitet worden. Das Paul-Scherrer-Institut hat beim Entkernen und Dekontaminieren der Versuchsanlagen besonderes Geschick gezeigt.

Data di pubblicazione
04-12-2014
Revision
18-10-2015

Der Traum vom eigenen Reaktor­ begann auf einer grünen Wiese im unteren Aargauer Aaretal. Ab Mitte der 1950er-Jahre lotete ein Konsortium der damaligen Grossfirmen Brown Boveri & Cie, Gebrüder Sulzer sowie Escher, Wyss und Cie das industrielle Potenzial der zivilen Atomtechnologie aus.1 Walter Boveri persönlich schloss den Kaufvertrag für die abgelegene Parzelle zwischen Aare und Wald ab; in der Folge entstand darauf das Reaktorzentrum Würenlingen, und heute ist dies das östliche Gelände des Paul Scherrer Instituts (PSI). Hier erforschen Physiker und Chemiker der ETH nun Materialien, Supraleiter und Photovoltaikzellen; vor 57 Jahren trat die Schweiz an diesem beschaulichen Standort aber ins Atomzeitalter ein: Am 30. April 1957 wurde der erste Versuchsreaktor hochgefahren und die Uranspaltung in Gang gesetzt. 

Die Testanlage war ein Swimmingpool-Reaktor mit Leichtwasser im Kühlbecken, dessen bläulicher Schimmer dem Reaktor den Namen Saphir verlieh. Die Anlage war eine US-amerikanische Entwicklung und zwei Jahre zuvor als Demonstrationsobjekt für die erste UNO-Atomkonferenz aus Übersee nach Genf gebracht worden. Die inländische Reaktor AG konnte den funktionstüchtigen Kleinreaktor erwerben und erhielt als Gastgeschenk noch 6 kg hoch angereichertes Uran dazu.

Über drei Jahrzehnte dienten Saphir und die Brenn­stäbe der inländischen Reaktorforschung. Ende 1993 war Schluss: Anstandslos nahmen die Amerikaner die Uran-Isotope zurück; die Leute vor Ort kümmerten sich um den grösseren Aufwand für Ausserbetriebnahme, Dekontamination und Rückbau der Saphir-Anlage. 

1998 reichte die PSI-Direktion das offizielle ­Stilllegungsgesuch ein, zwei Jahre später genehmigte der Bundesrat die Demontage. Die Rückbauarbeiten begannen 2002, und bis 2008 waren die Reaktorbe­standteile, insbesondere die Unterwasserinstallationen und der Pool, mithilfe fernbedienter Werkzeuge zerlegt. Die Aufsichtsbehörde, die Hauptabteilung für die ­Sicherheit der Kernanlagen (HSK, heute: Eidgenössisches Nuklearsicherheitsinspektorat Ensi), erlaubte, das Reaktor­wasser ohne Kontaminationsgefahr für die Umwelt in die Aare einzuleiten.

Vollständig aus der Welt sind die zerlegten oder eingeschmolzenen Rückbau­materialien der Saphir-Testanlage trotzdem nicht: Die 500 t schwere Masse wurde möglichst klein verpackt und in 200-l-Fässer und Kleincontainer für die Zwischenlagerung einbetoniert (konditioniert).2 Weil sich im Untergeschoss des Saphir-Gebäudes ein temporäres Kernbrennstofflager befindet, bleibt die Aufsichtspflicht bestehen, und eine anderweitige ­Nutzung ist ausgeschlossen.3

Einmaliger Entlassungsentscheid

Auf dem östlichen PSI-Areal steht ein weiteres Gebäude, das seine kerntechnische Vergangenheit bereits überwunden hat. Über Jahrzehnte wurde darin ein zweiter Forschungsreaktor, Diorit, betrieben. Die schmucklose Halle mit Hochkamin verrät kaum, dass in ihr zwei Pionierleistungen für das Atomland Schweiz statt­gefunden haben: 1960, drei Jahre nach Saphir, wurde der erste Forschungsreaktor «made in Switzerland» in Betrieb genommen; ein Team unter Leitung des ETH-Physikers Paul Scherrer hatte den Schwerwasser-Natururan-Typ mit 20 MW Leistung entwickelt.

53 Jahre später ist erstmals der vollständige Rückbau inklusive Entlassungsbescheid an einer kerntechnischen Forschungsanlage umgesetzt worden. Aber auch deren Bestandteile sind nur teilweise verschwunden: In der Zwilag-Spezialhalle für hochaktive Ab­fälle steht ein Castor-Transportbehälter mit einbetonierten Diorit-Brennelementen; 26 dickwandige Sicherheits­container mit 4.5 m3 Volumen stapeln sich in der Halle für schwach- und mittelaktive Abfälle. Hier warten sie auf die Eröffnung eines Tiefenlagers.

Stilllegung und Rückbau des Diorit-Forschungsreaktors nahmen fast zwei Jahrzehnte in Anspruch; eine solche Zeitspanne reicht inzwischen für das Abräumen ganzer Kernkraftwerke aus. Zwar lassen sich weder Dimension, Struktur noch Geometrie der Versuchsanlagen mit einem KKW vergleichen, doch bei der Vorgehensweise und dem Umgang mit radioaktiven Materialien sind Parallelen unverkennbar.

Bei der Wahl der Rückbaustrategie und mit teilweise selbst ent­wickelten Dekontaminations- und Konditionierungsverfahren haben die Verantwortlichen am PSI sogar gut verwertbare Pionierarbeit geleistet. Einerseits war Mitte der 1980er-Jahre die Umsetzung eines Rückbauentscheids für die Schweiz technisches, organisatorisches und regulatorisches Neuland. Konzeption und Planung übernahmen die mit den Kleinreaktoren vertrauten PSI-Forscher.

Für zusätzlichen Wissenstransfer sorgten Kontakte nach Süddeutschland: In Bayern begann 1987 der Rückbau des mittelgrossen Kernkraftwerks Niederaichbach; ebenso waren in Karlsruhe Stilllegungsarbeiten an Testanlagen im Gang. Ande­rerseits gelang es den PSI-Verantwortlichen, mehr als die Hälfte des über 7 m hohen Zylinders aus Baryt- und Colemanit-Beton, Stahlblech, Gusseisen und Aluminium in strahlungsfreie und daher konventionelle Abbruchmaterialien aufzutrennen. 

1994 bewilligte der Bundesrat den Rückbau des Diorit-Reaktorblocks. Definiert waren vier De­mon­tagephasen und ein Dutzend Auskern- und Zerlegungs­schritte, verteilt auf neun Jahre. Leicht verstrahlte Rückbauteile wurden anfänglich in ein geschütztes Abklinglager gebracht. Der Einsatz von Diamantkreissägen und Bohrmaschinen wurde aus dem Kommandoraum fernbedient gesteuert und überwacht; solche Trennverfahren (vgl. Kasten unten «Bewährte Verfahren für das Dekontaminieren und Zerlegen») werden bei Leistungsreaktoren inzwischen standardmässig eingesetzt.

Neuartige Techniken waren am 1 : 1-Modell («Mock-up») hinsichtlich des Störfallrisikos zu erproben. Und eine zusätzliche Erkenntnis war, dass das Zerlegen und Konditionieren der Abfälle den Aufbau einer Infrastruktur vor Ort bedingt: Im Kellergeschoss des Diorit-Gebäudes steht ein Induktionsofen, in dem der zerteilte Alumi­niumtank eingeschmolzen wurde. Eine Betonieranlage diente dem Verfüllen der Entsorgungscontainer. Diese Dekontaminierungs- und Konditionierungsinfrastruktur kann für künftige Rückbauarbeiten verfügbar sein. Ausserdem war ein Mess- und Überwachungs­system in- und ausserhalb des Diorit-Forschungsgebäudes einzurichten. Eigens dazu wurden Grundwasserbrunnen ausgehoben, um den allfälligen Austritt von Radio­aktivität nicht zu verpassen. 

Premiere bei der Abfallkonditionierung

Die Rückbauformel in aktuellen Stilllegungskonzepten lautet: von heiss zu kalt. Bereits der Diorit-Reaktor­zylinder ist von innen nach aussen und von oben nach unten ausgeräumt worden.4 Standard damals und ­heute ist ebenso, das Reaktor-Containment – die bio­logische und die thermische Schutzhülle – sowie die Lüftungsanlage so lange nicht anzutasten, bis das hochaktive Kernmate­rial  und weitere radioaktive Reaktorteile entfernt sind.

Die grösste Innovation ist den Forschern der PSI-Sektion Rückbau und Entsorgung allerdings bei der Konditionierung der verstrahlten Diorit-Abfälle gelungen. Um das Volumen von rund 40 t radioaktivem Grafit zu reduzieren, entwickelten sie ein Verfahren, von dem die Kraftwerksbranche bis heute profitiert. Statt das Grafit, ein Puffermaterial im Kernreaktor, separat in Endlagerbehälter einzubetonieren, wird es vermahlen als Sandersatz dem Füllmörtel beigemischt.5 Die Konditionierungstechnik mit PSI-Patent verringert die Zahl der Abfallgebinde, zudem festigt grobkörniger Grafit die Füllmasse.

Aktuell wartet auf dem PSI-Gelände eine dritte Forschungsanlage auf die kerntechnische Demontage; Proteus, ein wandelbarer Reaktortyp, wurde 2011 nach 43 Jahren ausser Betrieb genommen. Der Rückbau ist bereits geplant; er wird von den positiven Erfahrungen und den unvorhersehbaren Ereignissen bei den Demontagearbeiten an Saphir und Diorit profitieren.

Zweimal musste die Aufsichtsbehörde damals intervenieren: So war die Strahlendosis für das Rückbaupersonal ­kurze Zeit leicht erhöht, wurde aber als «tolerierbar» ein­gestuft.6 Und als beim Auftrennen einer Rohrleitung Asbest auf­tauchte, wurden die Abbrucharbeiten mehrere Monate unterbrochen. Mehraufwand ohne erhöhtes Sicherheitsrisiko verursachte zudem die Demontage des Diorit-Zylindermantels. Radiologische Messungen in der 2.5 m dicken Betonwand zeigten eine stärkere Verstrahlung als ursprünglich gedacht. 25 cm tief war die radioaktive Schicht mit einem Hohlrohrbohrer zu entkernen. Der äussere Mantel blieb unverschmutzt, sodass rund 60 % der Diorit-Reaktormasse, vor allem Beton und Stahl, nach dem Freimessen Abbruchmaterial von unbedenklicher Entsorgungsqualität sind. 

Störfall in Lucens VD: teilweise einbetoniert

Nur wenige Stunden war der erste Leistungsreaktor der Schweiz in Betrieb. Am 21. Januar 1969 legte eine Teilkernschmelze das Versuchsatomkraftwerk Lucens (VAKL) wieder still. Die Verstrahlung breitete sich jedoch nicht in die Umgebung aus. Dennoch dauerte es bis 1995, die Anlage zu dekontaminieren und zu demontieren sowie Teile der Kaverne einzubetonieren. 
Im zentralen Zwischenlager der Schweiz, im Zwilag Würenlingen, lagern die restlichen radioaktiven VAKL-Abfälle: 200 Fässer mit schwach und mittel radio­aktivem Rückbauabfall inklusive sechs je knapp 100 t schwerer Grossbehälter mit den geschmolzenen hochaktiven Brennelementen. Vor zehn Jahren hat der Bundesrat die Aufsichtspflicht für die ehemalige Kern­anlage aufgehoben; seither nutzt sie der Kanton Waadt als unterirdisches Kulturgüterdepot. Mindestens bis 2025 hat jedoch das Bundesamt für Gesundheit vor Ort die Entwässerungsanlage und das Grundwasser auf erhöhte Radioisotopgehalte zu überwachen.

Bewährte Verfahren für das Dekontaminieren und Zerlegen

An mehreren deutschen Hochschulen werden Forschungs- und Entwicklungsvorhaben zur Verbesserung von D­e­kontaminations- und Zerlegetechniken durchgeführt. Ziele der Forschungsprojekte sind effizientere Verfahren mit ­geringerem Zeitbedarf sowie die Reduk­tion von Sekundärabfällen und der Strahlenbelastung für das Rückbau­personal. Bereits bewährt haben sich Dekontaminationsverfahren, bei denen Oberflächen mechanisch mit Bürste, Sandstrahler oder Hochdruckreiniger oder chemisch mit schwacher und starker Säure, Schaum oder Gel gereinigt werden. Die Reinigung vor Beginn der Abbauarbeiten schützt insbesondere das Personal; ebenso dient sie danach zur Freigabe abgebauter Teile. Sind ­Radionuklide in Wandrisse eingedrungen, lassen sich die oberen Schichten durch Abraspeln, Schaben, Nadeln, ­Abschälen oder ein Strahlverfahren mit festen abrasiven Medien abtragen. Unter anderem können Roboter oder Manipulatorsysteme eingesetzt werden, um die manuelle Reinigungsarbeit im Schutzanzug zu ersetzen. 
Zum Zerlegen metallischer Anlagenteile wie dünner Rohrleitungen, dickwandiger Reaktorkomponenten oder von Betonstrukturen mit starker Armierung sind thermische und mechanische Verfahren erprobt. Zum Schutz vor radioaktiver Strahlung finden diese Arbeiten teilweise fernbedient oder unter Wasser statt. Wichtige thermische Trennverfahren für Druckbehälter (aus rostfreiem Chrom- oder Nickel-Edelstahl) sind autogenes Brennschneiden, Plasmaschmelzschneiden, Lichtbogenschneiden, Funkenerosion und Laserstrahlschneiden. Zu den mechanischen Verfahren zählen Sägen, Seilsägen, Fräsen, Trennschleifen, Scheren und Wasser-Abrasivschneiden. Alternativ zur Demontage vor Ort können grosse Anlagenteile extern zerlegt und danach eingeschmolzen werden.
Die Auswahlkriterien für die jeweilige Zerlegetechnik sind Sicherheit, Schneidgeschwindigkeit, Geometrie und Materialdicke sowie die Freisetzung von Stäuben (Aerosolen). Beim thermischen Schneiden in Luft und unter Wasser entstehen Aerosol- oder Hydrosolemissionen, die mit handelsüblichen Absaug- und Filteranlagen ­beherrschbar sind. Die beim mechanischen Trennen verursachten Späne und Stäube sind vergleichsweise grob und durch Filter leicht aufzufangen.
Quellen: Deutsches Atomforum e. V. 2013; Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS) mbH 2012

Anmerkungen

  1. Tobias Wildi, Die schweizerische Atomtechnologie-Entwicklung 1945–1969, Zürich 2003
  2. Hans-Frieder Beer, Radioactive waste management at the Paul Scherrer Institute, Nuclear technology & radiation protection 2009
  3. Ensi-Gutachten zum Stilllegungsprojekt der PSI-Versuchsverbrennungsanlage, Brugg 2012
  4. Fritz Leibundgut, Decommissioning and dismantling of the diorit research reactor, PSI 1998
  5. Hans-Frieder Beer, Complete Conditioning of Activated Reactor Graphite, Strahlenschutzpraxis 4/2009
  6. Aufsichtsbericht zur nuklearen Sicherheit und zum Strahlenschutz in den schweizerischen Kernanlagen, Hauptabteilung für die Sicherheit der Kernanlagen (HSK) 2004

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