Die Land­schaft im Ko­pf

Landschaft und Identität müssen bei der Raumentwicklung berücksichtigt werden.

Wahrgenommene und reale Landschaft sind oft nicht identisch. Aber nur dort, wo sie übereinstimmen, kann Landschaft Identität stiften. Eine Untersuchung in Glarus Süd bestätigt diese Annahme: Die Landschaft «im Kopf» der Glarner besteht aus unberührter Natur- und traditioneller Kulturlandschaft; ihr fühlen sie sich emotional verbunden, während sie die moderne Alltagslandschaft weitgehend ignorieren. Eine landschaftsorientierte Raum­entwicklung muss bei diesem blinden Fleck ansetzen.

Data di pubblicazione
31-01-2012
Revision
01-09-2015
Christine Meier
Biologin, Dozentin und Leiterin der Fachstelle Landschafts- und Regionalentwicklung, ZHAW Wädenswil

Landschaft und Identität werden in der Planung und der Forschung zunehmend miteinander in Verbindung gebracht. In Entwicklungskonzepten der Raum- und Regionalentwicklung wird die Bedeutung der Landschaft für die Identität einer Region respektive die Identifikation gerne in Leitsätzen angeführt. Doch wie lassen sich diese Grundgedanken konkret in Planungsprozesse einbeziehen und für eine landschaftsorientierte Raumentwicklung nutzen? Und lässt sich die identitätsstiftende Funktion der Landschaft wissenschaftlich nachweisen 
Diese Fragen standen im Zentrum einer dreijährigen Studie1, die sich mit Landschaft, Landschaftsbewusstsein und landschaftlicher Identität befasste und dies am Beispiel der Region Glarus Süd empirisch untersuchte. Diese periphere Bergregion eignete sich als Modellregion sehr gut, weil die Frage nach der Identität im Zuge der Fusion zur Einheitsgemeinde besonders interessant ist und weil sie auf engem Raum grundsätzliche Probleme der Kulturlandschaftsentwicklung aufweist: Einerseits Zersiedelungsphänomene und gefährdetes kulturelles Erbe in den gut erschlossenen Talgebieten, andererseits Tendenzen der Nutzungsaufgabe in den ausgedehnten Alpgebieten der höheren Lagen. Diese gegenläufigen Trends reduzieren die Vielfalt der Kulturlandschaften. 

Emotionale Qualität berücksichtigen

Landschaft wird heute nicht mehr als rein geografischer Raum verstanden, der das dynamische Ergebnis natürlicher und kultureller Prozesse ist. Vielmehr beinhaltet der Begriff auch innere Vorstellungsbilder der Menschen. Die Europäische Landschaftskonvention (ELC)2 definiert: «Landscape means an area, as perspectived by people, whose character is the result of the action and interaction of natural and/or human factors», und räumt den gesellschaftlichen Leistungen der Landschaft, die sie als Kultur-, Lebens- und Identifikationsraum erbringt, einen hohen Stellenwert ein. Ihre Forderung nach einer nachhaltigen Landschaftsentwicklung bedeutet daher in der planerischen Umsetzung, auch die ästhetischen und emotionalen Qualitäten von Landschaften zu berücksichtigen. 
Ausgehend von diesem transdisziplinären Landschaftsverständnis kommt die «Landschaft im Kopf» ins Spiel. Diese ist von kulturellen Idealen, Werten, Gefühlen und Erfahrungen geprägt und wird durch unsere sinnliche Wahrnehmung vermittelt. Was wir an inneren Bildern von Landschaft produzieren, stimmt daher oft kaum mit unserer realen Landschaft überein. Idealisierte Alpenblüemli-Berge-Heidi-Postkarten können als ein Ausdruck dieses «Bruchs» im Landschaftsverständnis verstanden werden.
Die Studie ging von der Hypothese aus, dass sich landschaftliche Identität3 respektive Identifikation mit der Landschaft dort entwickeln kann, wo sich reale und vorgestellte Landschaft überlagern. Im ersten Teil der Studie wurden die theoretischen Grundlagen für die Arbeit mit einem umfassenden Landschaftsverständnis geschaffen – ein etabliertes Theoriekonzept gab es dafür bisher nicht. Der zweite Teil umfasst die Fallstudie in Glarus Süd, mit der die Zusammenhänge zwischen Landschaft, Landschaftsbewusstsein und Identität empirisch untersucht wurden. Dafür wurde die physische Gestalt der Landschaft analysiert und beschrieben und das Landschaftsbewusstsein der Bevölkerung mit einer quantitativ-qualitativen Telefonbefragung ermittelt. Geografische Landschaft und innere Bilder der Bevölkerung wurden so sichtbar gemacht, miteinander in Bezug gesetzt und auf ihr Identifikationspotenzial untersucht. Daraus wurden im dritten Teil Ansätze für die landschaftsorientierte Raumentwicklung formuliert und die Übertragbarkeit auf ähnliche Anwendungsfelder diskutiert. Im Folgenden werden einige dieser Ansätze sowie Auszüge aus den Ergebnissen der Fallstudie vorgestellt. 

Romantisiertes Idealbild 

Um Landschaftsvorstellungen und -bindungen der Bevölkerung zu ermitteln, wurden in Glarus Süd 324 zufällig ausgewählte, in der Region wohnhafte Personen telefonisch befragt.6 Dies ergab ein gutes Gesamtbild im Sinne der Repräsentation. Die Befragung war primär quantitativ ausgerichtet und die meisten Fragen standardisiert. Sie bezogen sich auf die vier Themenfelder: Wohlbefinden und Raumbezug / Landschaftsverständnis / Wirkung der Landschaft / Wahrnehmung und Beurteilung von Landschaftsveränderungen. Für die Befragung wurde ein Fragebogen entwickelt, der auf die spezifischen Landschaftstexturen7 von Glarus Süd Bezug nahm, um das Landschaftsbewusstsein auch im Hinblick auf die reale Umgebung interpretierbar zu machen. 
Die Frage «Was gehört für Sie persönlich zu Landschaft » zielte aber zunächst auf die generellen inneren Bilder von Landschaft. Die Antworten darauf machten deutlich, dass Elemente der wilden, unberührten Naturlandschaft und der traditionellen Kulturlandschaft das Landschaftsverständnis klar dominieren: Sie machten drei Viertel aller Nennungen aus. Als natürliche Elemente wurden am häufigsten Berge, Wald, Gewässer und Natur genannt, bei den Elementen traditioneller Kulturlandschaften waren es Wiesen, Weiden, Alpen und Landwirtschaft. Auch ästhetische und emotionale Landschaftsqualitäten wie Einfachheit, Schönheit, Ruhe, Heimat, Freiheit, Ursprünglichkeit, Naturbelassenheit oder Abgeschiedenheit kamen häufig vor. Hingegen fielen zivilisatorische Elemente wie Siedlungen, Infrastrukturanlagen oder Industrie deutlich ab.
Es zeigt sich eine schöne, heile, ländliche Kulturlandschaft in den Köpfen der Befragten. Diese romantisierte Vorstellung von Landschaft ist jedoch keineswegs spezifisch für Glarus Süd. Auch andere Befragungen8, 9 haben dieses Idealbild ländlicher Kulturlandschaft als innere Bilder in ihren Ergebnissen gespiegelt. Es scheint, dass ein Zwiespalt zwischen der realen modern-zivilisatorisch geprägten Landschaft und der verbreiteten Vorstellung von Landschaft besteht, die – etwas pointiert ausgedrückt – bei den agrarisch geprägten Landschaften der 1950er-Jahre stehengeblieben ist.
Ein ähnliches Ergebnis ergab auch die Frage nach der Wahrnehmung der spezifischen Landschaft von Glarus Süd. Dabei konnten die Befragten insgesamt 27 Landschaftselemente, -faktoren sowie Produkte, die einen Bezug zur Landschaft Glarus Süd haben, den Kategorien «einzigartig», «typisch», «normal»10 oder «nicht zur Landschaft gehörend», zuordnen. Interessant waren insbesondere die Zuschreibungen zur typischen beziehungsweise zur normalen Landschaft:
Die typische Landschaft erscheint in den Vorstellungen als heile, von der Geschichte geprägte Ideallandschaft mit Heu- und Viehalpen, Bergen und Tälern, Felsen, Dörfern, Textilfabriken und Fabrikantenvillen, aber auch Wasser, Streusiedlungen und alten Dorfkernen. 
Die normale Landschaft hingegen ist im Verständnis der Befragten die funktions- und nutzungsbezogene Alltagslandschaft, die vorwiegend von der Gastronomie, Verkehrs-, Erholungs- und Energieinfrastruktur geprägt ist, aber auch von Kleinstrukturen und Naturereignissen. Die Ergebnisse zeigen eine Spaltung von wahrgenommener schöner, naturnaher Landschaft und wahrgenommener funktionaler Alltagslandschaft, die nachfolgend auch bei der empfundenen Wirkung der Landschaft deutlich wird.

Emotionale Wirkung der Landschaft

Über 90 Prozent der Befragten empfinden die Wirkung ihrer Landschaft als positiv. Das bestätigt die Bedeutung der Landschaft als emotionale Ressource. Dieses Ergebnis wurde mit einer offenen Frage nach den persönlich wichtigsten Elementen ihrer Landschaft konkretisiert. Es zeigte sich, dass den Befragten die Naturlandschaft von Glarus Süd am wichtigsten ist. Topografie, Klima und Gewässer machten rund die Hälfte aller Nennungen aus. Darauf folgten Elemente der traditionellen agrarischen Kulturlandschaft. Dem schloss sich die Frage an, welche Gefühle diese für die Befragten wichtigen Landschaftselemente und -eigenschaften bei ihnen auslösen. Von den Antworten, die tatsächlich emotionale Wirkungen betrafen, waren wiederum 635 Nennungen positiv und lediglich 32 negativ. Es liessen sich klar drei Wirkungsfelder der Landschaft herauskristallisieren, die am häufigsten genannt wurden:

  1. Identifikation (Verbundenheit – Zuhausefühlen – Heimatgefühl)
  2. Zufriedenheit – Friede – Glück
  3. Ruhe – Stille – Abgeschiedenheit


Den höchsten Stellenwert hatte die identitätsstiftende Wirkung der Landschaft. Doch auch Zufriedenheit und Ruhe können sich stabilisierend und damit positiv auf die persönliche Identität auswirken. Diese positiven Empfindungen schreiben die Befragten jedoch überwiegend der Natur- und der traditionellen Kulturlandschaft zu, also der als typisch wahrgenommenen Landschaft. «Normale», moderne Alltagslandschaften werden im Zusammenhang mit Gefühlen weitgehend ignoriert – sie haben bisher kaum emotionales Bindungspotenzial. 

Innere Landschaftsbilder in Planungsprozesse einbeziehen

Die empirischen Untersuchungen bestätigten die These der Studie, dass Identifikation dort stattfinden kann, wo die geografische Landschaft und die inneren Bilder einer schönen Natur- und traditionellen Kulturlandschaft korrespondieren. Die Befragung hat gezeigt, dass dort positive Gefühle ausgelöst werden und dass die Bevölkerung diese Landschaften für die Identifikation und das Wohlbefinden sehr schätzt. Dies ist ein wichtiger Schlüssel, der in Planungsprozessen neue Potenziale eröffnen kann. Die Studie hat aber auch die blinden Flecken im Landschaftsbewusstsein zum Vorschein gebracht: Wenn die Befragten zum Beispiel historische Industriegebäude trotz ihrer geschichtlichen Bedeutung zwar als typisch, aber nicht als wichtig beurteilen oder moderne Industriegebäude und landschaftliche Kleinstrukturen aus der Landschaft ausschliessen.1 
Bezogen auf die Alltagslandschaften bedeutet dies, dass es einerseits ihre emotionalen Qualitäten zu fördern gilt und andererseits innere Bilder und Gefühle der Bevölkerung in Bezug auf ihre Landschaft sichtbar und diskutierbar gemacht werden müssen. Dazu gehört auch, dass Landschaftsentwicklungen erfahrbar und vorstellbar werden und dass ihr Einfluss auf die emotionale Wirkung der Landschaft in die Diskussion um die zukünftige Raumentwicklung einfliessen muss.

Ansätze für die landschaftsorientierte Raumentwicklung

Auf der Basis dieser Ergebnisse lassen sich folgende Ansätze für die landschaftsorientierte Raumentwicklung und die Stärkung landschaftlicher Identität formulieren, die sich auch auf andere Kulturlandschaften anwenden lassen: 
1. Natur- und traditionelle Kulturlandschaften haben eine wichtige Funktion für die Verbundenheit und das Wohlbefinden der Bevölkerung. Sie in den Alltagsumgebungen als Identifikations- und Erholungsräume zu stärken – auch im Bewusstsein der Bevölkerung – , ist eine zentrale Herausforderung der Raumentwicklung. In der neuen Einheitsgemeinde Glarus Süd würde das unter anderem bedeuten, der fortschreitenden Zersiedelung im Talgebiet entgegenzuwirken, indem Grünräume zwischen den Ortschaften raumplanerisch freigehalten und als attraktive Erholungsräume gestaltet werden. Dies bedingt auch einen Dialog mit der Bevölkerung über die Bedeutung der Grünräume im Rahmen der nun anzugehenden Nutzungsplanung für die fusionierte Gemeinde. So lassen sich auch die Standortfaktoren Wohnen und Erholung in Glarus Süd stärken. 
2. Naturnahe Gewässer haben eine sehr positive emotionale Bedeutung für die Bevölkerung. Durch die Freihaltung und Renaturierung von Flussabschnitten und Bächen können Forderungen des präventiven Hochwasserschutzes ideal mit der Schaffung naturnaher Erholungsräume verbunden werden. Die Gefahrenkarte von Glarus Süd weist die Gebiete mit erheblichem oder mittlerem Gefahrenpotenzial für Überschwemmungen aus. Dort Retentionsräume zu schaffen, die konsequent freigehalten und als naturnahe Erholungsräume gestaltet und zugänglich gemacht werden, ermöglicht Gefahrenprävention und zugleich Attraktivitätssteigerung für die Bevölkerung.
3. Im Umgang mit kulturellem Erbe steckt ein hohes Identifikationspotenzial: Kulturell bedeutende Landschaftselemente wie historische Industriegebäude können eine positive Symbolwirkung erzeugen, wenn ihr Wert kommuniziert, ihre Besonderheit erhalten und sie mit neuen Funktionen verbunden werden können. In Glarus Süd sind diese eindrücklichen Industrieensembles in einer alpinen Landschaft noch erhalten. Auch wenn sie heute von der Bevölkerung eher als Mahnmale des wirtschaftlichen Niedergangs empfunden werden und vom Abriss bedroht sind, sind sie Ausdruck der Geschichte des Glarnerlandes und damit bedeutendes kulturelles Erbe. Sie könnten eine Neubelebung und Neuinterpretation erfahren, die für die Identität von Glarus Süd Zeichen setzt – nach innen und nach aussen; beispielsweise durch den Aufbau eines Angebots im Segment Industrietourismus.
Um die Bedeutung der Landschaft als Ressource für Identität und Wohlbefinden in konkreten Planungen zu stärken, sind partizipative Prozesse11 mit der Bevölkerung und mit politischen Entscheidungstragenden notwendig.

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