Der Got­thard-Strom der Zu­kunft

Seit 1920 liefert das Kraftwerk Ritom Strom für die Gotthard-­Eisenbahnstrecke, nun wird es ersetzt. Neu sind die Zentrale, der ­Triebwasserweg, Pumpspeicherung, Schwall-Sunk-Minderung und die Möglichkeit, nicht nur Bahnstrom zu erzeugen. Was bleibt, sind der See, örtliche Probleme mit einer schwierigen Geologie und Ärger mit einer globalen Pandemie – wie schon vor 100 Jahren.

Data di pubblicazione
23-07-2020

Tendenziell nimmt der neue Triebwas­serweg des Kraftwerks Ritom über einhundertjährige Überlegungen auf. Die Geologen Albert Heim und Paul Arbenz empfahlen schon bei der Planung des ersten Kraftwerks in den 1910er-Jahren, den Druckstollen östlich des Fossbachs zu führen. Sie erwarteten dort bessere geologische Verhältnisse. Ihre Überlegungen konnten sich allerdings aus Kostengründen nicht durchsetzen, was kurz nach Inbetriebnahme des Kraftwerks zum Desaster vom 1. Juli 1920 führte (vgl. «Seit 100 Jahren: Gotthard unter Strom»).

Die neue Leitung, die im Gegensatz zur bestehenden komplett unterirdisch verlaufen wird, hat nun ihren Anfang am neuen Einlaufbauwerk östlich des Bachs und verläuft in der Draufsicht relativ geradlinig zur neuen Kraftwerkszentrale, die direkt neben der alten entsteht.

Piora – ein Name lässt erschaudern

Der Ritomsee liegt im Val Piora, und spätestens seit dem Bau des Gotthard-Basistunnels weiss auch mancher Laie, dass dieser Name bei Mineuren im Gegensatz zu Käselieb­ha­bern einen schlechten Klang hat. Die Piora-­Mulde ist eine geologische Störzone, die zwischen ­dem Gotthardmassiv im Norden und der penninischen ­Gneiszone im Süden liegt. Sie verläuft etwa zwischen Lukmanier- und Nufenenpass und streift den See vor allem nördlich. In ihr oft anfallendes Gestein ist im Tunnelbau gefürchtet: zuckerförmiger Dolomit und Rauwacke, dazu oft unerwartete Wasserführungen – schöner Vortrieb ist anders.

Der Druckstollen von 1920 durchschnitt ebendiese Gesteine. Die neue Druckleitung kommt geologisch gesehen allerdings schon in der penninischen Gneiszone zu liegen, daher sind vorwiegend Luco­magnogneise und Schiefer anzutreffen. Also alles ganz einfach? Mitnichten.

Zum jetzigen Zeitpunkt, am Sommeranfang 2020, sind etwa 470 m Stollen von der Kraftwerkszentrale aus in den Berg bergmännisch vorgetrieben. Die ersten 200 m machten keine Probleme – doch dann kam Bergwasser aus einer angeschnittenen Kluft. Laut Urs Müller von IM Maggia Engineering, das die Federführung bei der Planung hat, ergossen sich gesamthaft etwa 190 l/s bei einem Druck von 15 bar in den Stollen.

Der Vortrieb stockte, und eine horizontale Sondierbohrung ergab, dass auf den nächsten 70 m ebenfalls schlechter Fels und grosser Wasserandrang anstanden. Es wird vermutet, dass die Kluft ein Ausläufer der Piora-Mulde ist und die Störzone über vorhandene Kluftsysteme eventuell sogar weiter südlich reicht als bisher angenommen.

Zwischen Mitte September 2019 und Anfang März ruhte der Vortrieb. Im Schutz eines neu erstellten Betonzapfens wurde der Fels mit Injektionen abgedichtet. Ein mühsames Unterfangen, allerdings Tagesgeschäft von Mineuren – im Gegensatz zu den ­aktuellen, globalen Problemen, denen sich das Werk nicht entziehen konnte.

Gestern Grippe, heute Corona

Am 12. März sollte der Vortrieb weitergehen. Vorauseilen­de Injektionen sollten das anstehende Gebirge verbessern und abdichten. 2.5 m waren an der Ortsbrust abgesprengt, da mussten die Arbeiten aufgrund von Co­vid-­19 eingestellt werden. Schon der Bau 1918 hatte mit solch aussergewöhnlichen, übergeordneten Ereignissen zu kämpfen. Damals wütete die Spanische Grippe, und für die Arbeiter wurde für drei Monate eigens ein Notspital in einem leer stehenden Zweifamilienhaus eingerichtet. 10 500 Franken kostete dies damals, zwei Tote waren zu beklagen, wobei hier die Parallelen aufhören dürften.

Für die Bauarbeiten am neuen Einlaufbauwerk, das östlich der Staumauer entsteht, hatte die Corona­krise eine weitere tragische Komponente: Das neue Einlaufbauwerk ist von der Höhenlage im See etwas höher geplant als das bestehende und komplett unabhängig vom alten Kraftwerk.

Daher wird mit dem bestehenden Kraftwerk gemäss Baugenehmigung der See im Winterhalbjahr vor Einsetzen der Schneeschmelze mindestens zweimal abgesenkt. In dieser Zeit kann das neue Einlaufbauwerk ohne grosse Wasserhaltungen im Schutz eines Felsriegels in einer offenen Baugrube erstellt werden. Im letzten Baujahr soll diese Felsrippe mit Unterwasseraushub entfernt werden.

Im Frühjahr war der See nun abgesenkt, da kam es zum Baustopp. Die Pandemie zieht daher nun sicher eine dritte Seeabsenkung nach sich. Hierbei spielte nicht nur das Virus eine zent­rale Rolle, auch die gute alte Lawinengefahr war mit entscheidend. Die kleine Erschliessungstrasse von Piotta zum Ritomsee hinauf ist lawinengefährdet und war im Frühjahr noch nicht freigegeben. Arbeiter mit dem Helikopter zur Baustelle hinauf zu befördern war aber aufgrund der Vorsichtsmassnahmen wegen Covid-19 nicht erlaubt. Probleme einer Gebirgsbaustelle: Es hat eine, aber keiner kommt hin.

Eine ausführlichere Version dieses Artikels finden Sie in TEC21 21–22/2020 «Kraftwerk Ritom: Des Gotthards Antrieb».

Zum Ende läuft alles auf Ausgleich hinaus

Nachdem sich die Umstände im Frühsommer 2020 relativ normalisiert haben, ist die Bautätigkeit wieder überall aufgenommen. Östlich der Staumauer wird ein 47 m tiefer Schacht abgeteuft. An seiner Sohle wird die 12 m hohe Apparatekammer Piora entstehen, in der die Betriebs- und Revisionsdrosselklappe sowie die nötigen Antriebs- und Steuereinheiten eingebaut werden.

Neben den energetischen Komponenten unterscheidet sich das neue Werk Ritom in Sachen Auswirkungen auf das Unterwasser wesentlich vom bestehenden. Direkt neben der Zentrale wird ein Ausgleichsbecken für ein Wasservolumen von 100 000 m3 ausgehoben. Jegliches turbiniertes Wasser landet zum Schluss in diesem Demodulationsbecken, bevor es geregelt und möglichst gleichmässig in den Ticino eingeleitet wird.

Das grosse Becken stellt zukünftig eine bedeutende Schwall- und Sunk-Minderung im angrenzenden Fluss sicher. Schnell wechselnde Wasserstände aufgrund von Turbinierung, mit denen Flora und Fauna Probleme haben, gehören damit der Vergangenheit an. Das Ausgleichsbecken dient zur Schonung der Natur im Fluss, ökologische Ausgleichsmassnahmen sind aber ebenfalls Bestandteil des Projekts: Diverse Moore werden im Val Piora saniert, Wälder wieder aufgeforstet, der Naturlehrpfad am Ritomsee instand gehalten, Restwasser sowohl im Ticino als auch im Garegna- und Fossbach wird sichergestellt und die Fischgängigkeit zwischen der Leventina und dem Val Bedretto wiederhergestellt. Welch ein Unterschied zum Naturschutz-Appell von 1916 (vgl. «Seit 100 Jahren: Gotthard unter Strom»)!

Und was geschieht mit dem alten Kraftwerk Ritom? Ob die stählernen Druckrohre nach Ausserbetriebnahme der Anlage 2023 erhalten bleiben, steht noch nicht fest. Einzig die daneben liegende Standseilbahn, die von der Kraftwerkszentrale zur Apparatekammer hinaufführt, ist im Schweizer Seilbahninventar aufgenommen und gilt als Kulturgut regionaler Bedeutung. Als Tourismusobjekt steht ihre Funktion auch in Zukunft fest, anders als die der sehr grossen, ganz in Naturstein gehaltenen Kraftwerkszentrale, die jedoch als Denkmal geschützt ist.

Schätzungsweise werden die auffallenden Röhren auch weiterhin als Blickfang für Reisende auf der Gotthardstrecke dienen. Immerhin sind sie das ältere Pendant zu den nördlich des Passes gelegenen Druckleitungen des Kraftwerks Amsteg am Eingang des Maderanertals. Es liefert seit 1923 als zweite Anlage Strom für den Gotthard-Eisenbahntunnel, ist seit 1998 ausser Betrieb, steht aber bereits unter Schutz.

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Am Bau Beteiligte

Bauherrschaft
Ritom SA: SBB Energie (75 %), Azienda Elettrica Ticinese (AET, 25 %)

Planung
Consorzio Ritom Ticino: IM Maggia Engineering, Locarno; Lombardi Inge­gneri Consu­lenti, Giubiasco; Pagani + Lanfranchi, Bellinzona

Architektur
Studio di architettura e pianificazione Guscetti, Minusio

Bauleitung
Consorzio Ingegneri CORI: Renzo Tarchini Cantieri & Contratti, Lugano; Gruner / Stucky, Basel

Ökologische Baubegleitung
EcoControl, Locarno

Bauunternehmung
Consorzio Marti-Ferrari Ritom (CMFR): Marti Tunnel, Moosseedorf; Mancini & Marti, Bellinzona; Ennio Ferrari Impresa Generale; Lodrino

Weitere Beteiligte
Fäh Maschinen- und Anla­genbau, Glarus; Adams Schweiz, Serneus; Andritz Hydro, Kriens; Voith Hydro, Heidenheim (D); ABB Schweiz, Turggi; GE Grid (Switzerland), Oberentfelden; Kone­cranes and Demag, Frick; Ebiox, Luzern; Reali Costruzioni, Osogna; Azienda forestale del Patriziato generale di Quinto, Ambri; Azienda Elettrica Ticinese, Monte Carasso; Soseco, Seengen

Baukosten
270 Mio. Fr.

Bauzeit
2018 – 2024

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