«Die Öff­nung ge­ge­nü­ber an­de­ren Diszi­pli­nen ist ei­ne Chan­ce»

Lässt sich die Qualität von Baukultur messen? Und was zeichnet eine hohe Baukultur aus? Diese und andere Fragen diskutierten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Konferenz «Getting the measure of Baukultur» in Genf. Claudia Schwalfenberg, SIA-Verantwortliche Baukultur, war dabei.

Data di pubblicazione
18-12-2019
Julia Jeanloz
Redaktorin in ­Verant­wortung für die SIA-Beiträge bei der Zeitschrift Tracés

SIA: Frau Schwalfenberg, was waren die Ziele der Konferenz «Get­ting the measure of Bau­kultur»?

Claudia Schwalfenberg: Die Konferenz war Teil des «Davos Prozesses». Dieser führt die Debatte über die Baukultur in Europa fort, die mit der «Davos Declara­tion» 2018 einen Meilenstein erreicht hat und den Wert einer hohen Baukultur betont. Es geht nun darum, die in Davos erörterten Themen weiterzudenken und sie mit dem Forschungsstand in Beziehung zu setzen. In Genf stand der Begriff «Qualität» im Fokus: Lässt sich Qualität messen? Und wenn ja, wie? Die Konferenz brachte Expertinnen und Experten aus dem Gebiet der Baukultur und aus anderen Disziplinen miteinander ins Gespräch, um den Begriff «Qualität» zu konkretisieren.

SIA: Lässt sich die Qualität von Baukultur denn nun messen?

Claudia Schwalfenberg: Das ist alles andere als einfach, weil viele Faktoren zusammenspielen. Es gibt verschiedene Ansätze, um Qualität in Teilbereichen zu messen. Stephen Turban hat zum Beispiel den Einfluss von Grossraumbüros auf die menschliche Kommunikation untersucht. Der Neuropsychologe Colin Ellard erforscht den Einfluss von komplexen beziehungsweise reizarmen Umgebungen auf den Gemütszustand von Menschen. Ausserdem gibt es viele Kommunikationsmittel, die ein besseres Verständnis der sozialen Interaktionen mit der Umgebung ermöglichen.

SIA: Um die Qualität von Baukultur besser zu bewerten, wünschten sich viele Rednerinnen und Redner eine stärkere Einbindung der Bevölkerung in den Prozess. Werden Fachleute überflüssig?

Claudia Schwalfenberg: Nein, das hat zum Beispiel Julien Cainne, Leiter des Amts für Städtebau in Vevey, gezeigt: Partizipation der Bevölkerung ermöglicht den Fachleuten, eine höhere Qualität zu erreichen. An der Konferenz haben sich diverse Exponenten für eine enge Beziehung zwischen verschiedenen Fachbereichen ausgesprochen, um weniger aneinander vorbeizureden. Bei den vorgestellten Projekten ging es nicht nur um Bürgerbeteiligung, sondern auch um Verfahren, bei denen Bottom-up- und Top-down-Ansätze verschmelzen. Ein Bespiel dafür ist das Esquilino-Quartier in Rom, das noch vor wenigen Jahren von sozialen Missständen geprägt war. Dank einer Kombination von Massnahmen der Stadt und von Einwohnerinnen und Einwohnern verbesserte sich die Lebensqualität deutlich. Das Quartier erfreut sich seither einer grossen Beliebtheit – die Gentrifizierung ist nicht eingetreten. Für uns heisst das: Es braucht einen in alle Richtungen offenen Dialog. Planende müssen vor allem zuhören, die Bedürfnisse der Nutzerinnen und Nutzer erkennen und diese bei der Ausarbeitung ihrer Pläne berücksichtigen.

SIA: An der Konferenz waren Referentinnen und Referenten aus der Architektur- und Ingenieurbranche untervertreten. Also diejenigen, die sich in ihrem Berufsleben mit Fragen der (Bau-)Qualität und auch mit Emotionen und Ästhetik beschäftigen.

Claudia Schwalfenberg: Dem stimme ich nicht zu. Lorenz Bräker für die Union Internationale des Architectes (UIA), Stefan Cadosch und Ariane Widmer für den SIA sowie Francesco della Casa für den Kanton Genf – um nur einige zu nennen – haben Vorträge gehalten, an Podiumsdiskussionen teilgenommen oder sie moderiert. Sie betrachten die Öffnung gegenüber anderen Disziplinen in der Baukultur nicht als Bedrohung für ihren Berufsstand, sondern als Chance. Auch die Themen Schönheit und Emotionen sind behandelt worden, unter anderem von der Psychologin Gabriele Oettingen.

SIA: Welche Rolle spielt der SIA beim «Davos Prozess»?

Claudia Schwalfenberg: Der SIA war Partner der Konferenz in Genf und arbeitete zuvor an der «Davos Declaration» mit. Auch in der Redaktions­gruppe für ein auf der Konferenz aufbauendes Papier zur Qualität wird er mitwirken.

SIA: Baukultur scheint vor allem in den Städten ein Thema zu sein. Wächst der Stadt-Land-Graben, wenn die Qualität der Baukultur in den Städten zunimmt?

Claudia Schwalfenberg: Das ist ein wichtiges und heikles Thema. Um eine qualitativ gute städtebauliche Entwicklung zu fördern, muss diese Diskussion gleichzeitig auf Gemeinde-, Kantons- und Bundesebene geführt werden. Nur so lässt sich sicherstellen, dass die Randregionen nicht aussen vor bleiben.

Konferenz ­«Getting the ­measure of ­Baukultur» in Genf


Hinter der Internationalen Konferenz «Getting the measure of Baukultur», die Anfang November 2019 in Genf stattfand, steht das Schweizer Bundesamt für Kultur in Zusammenarbeit mit dem Internationalen Rat für Denkmäler und historische Stätten (ICOMOS), der Internationalen Vereinigung der Architekten (UIA), dem Schweizerischen Ingenieur- und Architektenverein (SIA) und dem Kanton Genf. Die Konferenz folgt auf die von der Schweiz initiierten und 2018 von rund 30 Kulturministerinnen und Kulturministern Europas verabschiedeten «Davos Declaration». Darin werden Politik und Zivil­gesellschaft aufgerufen, sich europaweit für eine qualitativ hochwertige Baukultur einzusetzen. An der Konferenz referierten Expertinnen und Experten aus verschiedenen Disziplinen. Anwesend waren unter anderem Vertreterinnen und Vertreter aus 20 ­Ländern sowie politische Entscheidungsträgerinnen und Ent­schei­dungs­träger.

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