«Wir brau­chen ei­nen lee­ren Raum, der für sich spri­cht»

Forum Gipserhandwerk, Weinfelden

In Weinfelden steht ein Bauwerk, das einer Zukunftswerkstatt des Gipserhandwerks gleichkommt. Das Architektur und Material verbindende Konzept erläutern die Architektin Regula Harder und der Bauherr und ausführende Gipsermeister Reto Kradolfer.

Data di pubblicazione
31-05-2018
Revision
31-05-2018

Die bevorstehende Sanierung seines Gipserbetriebs, der seit 1961 im thurgauischen Weinfelden besteht, brachte den Bauherrn Reto Kradolfer auf den Gedanken, das Firmengelände um ein paar ungewöhnliche Räume zu ergänzen. Das bauliche Ensemble besteht aus einer ehemaligen Pferdehandlung, zuletzt als Wohnhaus und Büro genutzt, einer angebauten Scheune und einem Schopf. Jetzt dient das Haus als Aufenthaltsbereich für die Mitarbeiter, als Büro und Materiallager.

Der Schopf im Hof, vormals Werkstatt, wurde abgerissen. In einer symbiotischen Zusammenarbeit entwickelten Bauherr und Harder Spreyermann Architekten Ideen für einen Neubau, in dem die verschiedenen Erscheinungsformen von Putz erlebbar sind. Denn allzu oft gerät heute aus dem Blickfeld, dass Verputz viel mehr sein kann als eine Komponente der ­Kompaktfassade.

In diesem Projekt ist die Bedeutung des Baukörpers und der verwendeten Werkstoffe gleichermassen ­wichtig. Neben dem Stuckatelier, einer Werkstatt für Experimente in Sachen Putz, bildet ein Kommunika­tionsforum das Herz der Anlage. Am ganzen Gebäude lässt sich erfahren, ­welche Wirkungen mit der Palette an Verputzen im Innen- und Aussenraum erzeugt werden können.

TEC21: Was war die Ausgangslage für das Projekt?
Regula Harder: Im Lauf unserer Diskussionen haben wir erkannt, dass das historische Bauernhaus als Vorbild und zur Repräsentation der Firmengeschichte wichtig ist. Der alte Schopf war hingegen nicht mehr erhaltenswert. Im Ersatzneubau wollten wir einen multifunktionlen Raum schaffen, in dem ein Austausch über das Gip­serhandwerk, aber auch Aktivitäten darüber hinaus stattfinden können. Daneben sollte ein Experimen­tieratelier mit räumlicher Anbindung entstehen. Das Erdgeschoss ist statisch eine grosse Halle. Man könnte die Wand zwischen Forum und Werkstatt herausnehmen und den Raum anders nutzen. Eine gewölbte Decke überspannt das ebenfalls strukturell freigehaltene Obergeschoss, das extern vermietet ist.
Reto Kradolfer: Uns ging es um eine wertige Investition, ein Areal, das auch alternativ nutzbar ist, sollte die Firma einmal nicht mehr bestehen.

TEC21: Wie haben Architektur und die Repräsentation des Gipserhandwerks zusammengefunden?
Regula Harder: Es ging uns um Varianten von Verputz als Oberfläche, aber auch um die räumliche Kraft von Rundungen und plastischen Gestaltungen.Am deutlichsten zeigt sich das wohl im Forum.
Reto Kradolfer: Inspiration waren die Gewölbe des Sir John Soane Museums in London.1
Regula Harder: Die spezifischen Volumen im Innern des Hauses waren der Motor für den Entwurf. In die ortstypischen Grossformen sind die plastischen Raumformen eingeschrieben. Wir wollten eine Iden­tität der Architektur über die Oberflächen schaffen.

TEC21: Ging es Ihnen dabei eher um den Ausdruck von gewölbten Räumen oder um Flächen, an denen die verschiedenen Putzarten abgebildet werden können?
Reto Kradolfer: Weder noch – wir haben im Team geschaut, mit welchem Verputz wir die Raumfunktionen unterstützen und abbilden können. Auch um die Bereiche voneinander abzugrenzen und eine Orientierung zu schaffen. Vieles ist situativ entstanden. Dabei haben wir uns an neue Putze und ungewöhnliche Unterkonstruktionen herangewagt: Ein Beispiel dafür ist die doppelt gewölbte Akustikdecke im Forum. Wir sind sozusagen unsere eigenen Versuchskaninchen.

TEC21: Wie erzeugt das Material die gewünschte Atmosphäre?
Regula Harder: Basis sind die Raumproportionen und ihre Grundstruktur. Die Gewölbe sind der zweite Layer, quasi ein plastisches Ausgiessen. Die dritte Schicht ist der Verputz, den Frank Bergmann, Spezialist für die Entwicklung neuer Rezepturen bei Kra­dolfer, individuell ent­wickelt hat. Die Atmosphäre entsteht im Zusammenklang all dieser Themen und definiert sich stark über die Akustik der einzelnen Räume.
Reto Kradolfer: In der Werkstatt darf es ruhig hallen. Eine gewisse Geräuschkulisse gehört zum Arbeiten und unterstützt die Experimentierlust. Im Forum ist dagegen eine gedämpfte Akustik wichtig, damit man sich im kleinen und grossen Kreis problemlos unterhalten kann. Um unser Handwerk weiterzubringen, sind wir auf einen Austausch mit Kunden, Architekten, mit der Bauindustrie und Konkurrenten angewiesen. Dafür brauchen wir keinen Showroom, sondern einen leeren Raum, der für sich spricht. Die Besucher sollen ins Forum kommen und diesen Gedanken entdecken. Sie gelangen entweder durch das Atelier oder das Treppenhaus hinein und nehmen den Kontrast der Klangumgebungen bewusst wahr.

TEC21: Welches Konzept steckt hinter der Zuordnung der Verputzarten?
Regula Harder: Neben dem Qualitätszusammenhängen ist das Farbkonzept entscheidend. Die Verputze sind in einer Umbra-Tonalität durchgefärbt. Am hellsten ist das Forum, die Erschliessung ist dunkler, und die Nebenräume sind schwarz. Mit einer anderen Systematik gibt es unabhängig davon eine Skala vom Groben ins Feine. Aussen ist der grobe Waschputz, innerhalb der Räume ist er dann schon feiner und in den Nebenräumen glatt. Es ist immer ein Zusammenwirken von Struktur, Farbe und Raumform.

TEC21: Spielt die Materialzusammensetzung eine Rolle?
Reto Kradolfer: Das Tolle am Putz ist ja, dass er aus ganz simplen, reichlich vorhandenen natürlichen Komponenten besteht. Es gibt zwei Hauptausrichtungen: Lehm und Kalk. Beide Systeme bilden offenporige Oberflächen und sorgen für ein ausgleichendes Raumklima durch Regulierung der Luftfeuchtigkeit. Lehmputz zeichnet sich durch eine besonders hohe Sorptionsfähigkeit aus. Wegen der Gefahr von Auswaschungen wird er in unseren Breiten selten an Aussenflächen eingesetzt. Kalkputz verbindet sich gut mit altem Mauerwerk und kommt in der Denkmalpflege zum Einsatz. Ausserdem wirken seine antibakteriellen Eigenschaften der Bildung von Schimmelsporen entgegen. Beide Arten sind hier in Varia­tionen vertreten. Die Akustikdecke im Forum bildet eine Ausnahme: Um eine akustisch wirksame Putzoberfläche zu erhalten, muss das Zuschlagkorn, das in der Oberfläche Marmor ist, speziell ausgesiebt werden, damit die Materialoberfläche erhöht wird. In einer darunter­liegenden Schicht wird diese Porosität durch den Zusatz von thermisch geblähtem Glasgranulat, in dem sich der Schall fängt, zusätzlich erhöht.

TEC21: Welche Idee steckt hinter der Materialisierung des Ateliers?
Reto Kradolfer: Hier brauchen wir eine Werkstatt­atmosphäre mit Flecken am Boden, Staub und Wasser. Die Wände sind entsprechend weniger heikel, und die Decke ist in Rohbeton belassen. Durch die akkurate Ausführung wirkt der Raum trotzdem elegant.

TEC21: Was sind die Besonderheiten des Treppenhauses?
Reto Kradolfer: Farblich sind wir hier im dunkleren Teil. An den Wänden haben wir einen Marmorin, einen Kalkmörtel, eingesetzt. Silikatteile erzeugen das leichte Glitzern. Dadurch, dass die Ecken des Raums gerundet sind, erscheint er wie aus einem Guss. Dafür muss die oberste Schicht in einem zusammenhängenden Vorgang aufgetragen werden. Der Handlauf ist im gleichen Verfahren wie eine Stuckprofilierung mit einer Schablone gezogen worden.
Regula Harder: Die Rundungen, die sich als Thema durch das ganze Haus ziehen, kulminieren in der Form des Treppengeländers.

TEC21: Im Aussenbereich kamen gröbere Verputze in expressiver Form zum Einsatz.
Reto Kradolfer: Ja, im unteren Bereich haben wir einen Waschputz verwendet. Bei näherer Betrachtung wirkt er fast bunt. Der obere Bereich ist umlaufend mit einem dicken Kellenwurfputz versehen. Im wandernden Sonnenlicht wirft er spektakuläre Schatten. Unser Vorbild für die Oberfläche war der Faltenwurf einer bestimmten Plastikfolie, die wir häufig zum Abdecken der Böden auf unseren Baustellen verwenden. Hier arbeiten wir wie bei einem barocken Gebäude ohne Dilatationsfuge. Das geht nur, weil wir die überall entstehenden Haarrisse akzeptieren und als Teil der Gestaltung des Reliefs begreifen. Ich bin sicher, dass das Ornament in der Oberfläche zukünftig eine Rolle in der Architektur spielen wird.
Regula Harder: Im Kontext war uns wichtig, die Struktur des alten Holzschopfs aufzugreifen. Wir suchten einen Putz, der die ursprüngliche haptische Qualität zum Ausdruck bringt. Dabei greifen zwei Systeme ineinander. Beide stehen für die struktu­relle Dimension des Hauses.

TEC21: Sie besinnen sich viel auf die klassischen Zutaten des Verputzes. Wie wichtig war es Ihnen, die traditionellen Verfahren einzuhalten?
Reto Kradolfer: Bei historischen Bauten sind wir sehr von Kompositionen und Techniken des Bodensee-Barock geprägt. Aber mich interessiert generell die Entwicklung von Material. Ich experimentiere gern. Mit der Akustikdecke haben wir uns schon von einer traditionellen Rezeptur entfernt.

TEC21: Wie gelingt es Ihnen, die Brücke zwischen Alt und Neu zu schlagen?
Reto Kradolfer: Über die Beschäftigung mit der historischen Bausubstanz schreiben wie ihre Chronik fort und verbinden uns kulturell mit denjenigen, die sie zuerst eingesetzt haben. So haben wir vielleicht die Chance, etwas Dauerhaftes zu erschaffen.
Regula Harder: Im Projekt war es die starke Orien­tierung am Bestand. Hier haben wir uns immer dann, wenn wir kreativ feststeckten, Anregungen geholt und auf die schönen Details Bezug genommen. Die historische Qualität hat uns einen Anschlusspunkt geboten.

Anmerkung
1 Drei Wohnhäuser in London, die im 19. Jahrhundert durch den Architekten Sir John Soane (1753–1837) im neoklassizistischen Stil zu einem Museum umgebaut wurden. www.soane.org

Am Bau Beteilligte
 

Bauherrschaft/Innenausbau
Kradolfer Gipsergeschäft, Weinfelden
 

Architektur
Harder Spreyermann, Zürich
 

Bauleitung
Urs Laib, Amriswil
 

Holzbauingenieur
Krattiger Engineering, ­Happerswil
 

Tragwerkplanung
Büro Keller, Weinfelden
 

Bauphysik
Mühlebach Partner, Wiesendangen
 

Einbaumodule Beleuchtung
Georg Bechter Licht, Langenegg (A)

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