Gär­ten für al­le

Der deutsche Landschaftsarchitekt Leberecht Migge war überzeugt, dass der Eigenanbau und die Freuden der Gartenarbeit die Menschen gesünder, glücklicher und unabhängiger machen. Was hat das heutige Urban Gardening damit zu tun?

Data di pubblicazione
24-08-2017
Revision
25-08-2017

Der Trend zum Gärtnern in der Stadt hält sich nun schon seit einigen Jahren. Dabei geht es nicht um Gemüseanbau aus unmittelbarer Not, sondern vielmehr um eine neue Lust an der praktischen Gartenarbeit und an lokalen Produkten. Dass Gärtnern grundsätzlich eine positive Wirkung haben kann, schrieb der deutsche Landschaftsarchitekt und Gartenreformer Leberecht Migge (1881–1935) schon 1913: «[Der Garten] bietet etwas Seltenes und Unersetzliches: er ist lebendig. […] Die offensichtliche Vergänglichkeit auch des Kraftvollsten und Mächtigsten, wie sie sich besonders drastisch bei den Lebewesen des Gartens zeigt, spendet den ­Müden Trost und ruft in den Starken brüderliche Gesinnung wach.»

Ist diese Lebendigkeit des Gartens, die Lebenskraft einflösst und Gemeinschaft stiftet, mit ein Grund für das momentan so ­beliebte Stadtgärtnern? Ist Migge ein Vordenker? In­wiefern lassen sich die Reformbewegung des frühen 20. Jahrhunderts und das heutige Urban Gardening ­vergleichen?

Guerilla-Gartenbau und Pluralismus

Der Begriff Urban Gardening steht für die garten­bauliche Nutzung städtischer Freiflächen. Dazu zählen auch aktivistische Initiativen, die sich städtischen Raum aus idealistischen Gründen individuell oder als Gruppe aneignen – mit illegalen, temporären, zuweilen aber auch längerfristig angelegten Gärten. Die Bewegung ist facettenreich und umfasst verschiedene Projekte wie Gemeinschaftsgärten, Guerilla Gardening, Dachfarmen, Kinderbauernhöfe, Kleingärten, «essbare Spielplätze», vertikale Landwirtschaft und mobile ­Gärten. Zwar ­unterscheiden sich die Ansätze und ihre praktische Ausführung, ihr Hintergrund ist jedoch fast immer ­partizipativ und gemeinschaftsorientiert.

Erste Beispiele für den Urban-Gardening-Trend waren die community gardens in New York, die sich in den 1970er-Jahren aus einer aktivistischen Aneignung von brachliegendem Bauland in der Süd-Bronx entwickelten. In diesem damals sozial vergleichsweise schwachen Bezirk hatten Bewohnerinnen und Bewohner angefangen, das ungenutzte, verwüstete umliegende Land zu bebauen. Neben der Erzeugung von Nahrungsmitteln entstanden hier – ungeplant und ungesteuert – Orte der Gemeinschaft sowie Impulse, die Lebenssituation der Menschen zu verbessern. Das Community Gardening breitete sich aus und fand schliesslich auch in politischen Planungsinstrumenten einen gewissen Widerhall.

Seither sind zahlreiche weitere Beispiele für städtisches Gärtnern hinzugekommen: In Zürich etwa begann Maurice Maggi ab Mitte der 1980er-Jahre, in heimlichen nächtlichen Streifzügen Malvensamen (Alcea rosea) an Strassenbäumen, Bahnborden und auf Brachflächen auszusäen. Anfänglich von der Stadtverwaltung bekämpft, sind die Malven heute ein Kennzeichen der Stadt. Der auf einfachsten Mitteln basierenden Guerillataktik und der Kultivierung einer Ästhetik von «wilder» Stadtnatur stehen heute Projekte gegenüber, die auf hochtechnologische Methoden setzen: Die Firma Gotham Greens in New York zum Beispiel entwickelte zwei Jahre lang ein Gewächshaus, um auf Dachflächen unter Einbezug von Solarenergie möglichst nachhaltig und ökologisch Gemüse und Kräuter zu produzieren. Die Erzeugnisse daraus werden in einem Umkreis von höchstens sieben Meilen vertrieben.

Urban Gardening kann also auf unterschiedlichste Motive zurückgehen. Gleichwohl ist den Pro­jekten gemeinsam, dass sie grundsätzlich auf Selbst­initiative und einer Abkehr von der konventionellen Landwirtschaft basieren. Dass die gärtnernde Stadt­gesellschaft von zero waste und einer Kultur der Reparatur spricht, zeugt von einer gewissen Desillusionierung: Lieber glaubt man an eigene Anbaumethoden und kleinteiliges Handeln als an gerechte politische und demokratische Regelwerke. Zugleich ist die Urban-Gardening-Bewegung auch Ausdruck einer freien und pluralistischen Gesellschaft, die sich unbekümmert städtischen Raum aneignet und urbanes Leben mit ländlichem verbindet.

Aus der Not zur Volksgesundheit

Im Gegensatz dazu entsprang Leberecht Migges Ansatz aus der Not und dem reformerischen Geist seiner Zeit. Im frühen 20. Jahrhundert war das Elend in den sozial schwachen Quartieren der Städte offenkundig. Deshalb trat Migge für eine vielseitig nutzbare Gartenkultur ein, die allen die Möglichkeit eröffnen sollte, sich in der Natur zu erholen, zu gärtnern und Selbstversorgung zu betreiben. Dementsprechend entwickelte er seine Konzepte für Städte, Volksparks, Privat- und Siedlungsgärten, selbst für den einzelnen Schrebergarten, und beschrieb sie in zahlreichen Artikeln und Veröffentlichungen. Effiziente Flächenverteilung und technische Mittel zur Bodenverbesserung zeigen seinen pragmatischen und zukunftsgerichteten Ansatz, der romanti­sierenden Gartengedanken wenig Raum lässt. Vom Nutzen bringenden Gartenbau versprach er sich zudem auch eine Steigerung der körperlichen und mentalen Gesundheit, die langfristig positive Auswirkungen auf die Volkswirtschaft haben werde.

Wildwuchs statt Disziplin

Versucht man eine Gegenüberstellung zwischen Migges gartenreformerischen Theorien und dem aktuellen Urban Gardening, kann man vier Thesen formulieren. Die ersten zwei betreffen grundlegende Gemeinsamkeiten, die dritte und vierte zeigen markante Unterschiede.

Erstens: überall Gärten! Das 20. Jahrhundert ist die Epoche der Masterpläne, der grossen Parkanlagen, der städtischen Neuentwürfe und urbanen Visionen von Planungsfachleuten, die die Überwindung gesellschaftlicher Missstände zum Ziel hatten. Migge mischte zwar durchaus bei Grossprojekten mit, gleichzeitig lieferte er seiner Zeit aber bereits Alternativen; vor allem stand er auch dafür ein, unter der Devise «Alle brauchen Gärten!» «Gärten in Massen» bereitzustellen. Er schenkte dem Kleinen ebenso viel Aufmerksamkeit wie dem Grossen. Heute sind die grünen Keimzellen noch kleinteiliger: Im omnipräsenten Wachsen und Wuchern von Dächern und Balkonen, bepflanzten Baumscheiben und berankten Wänden potenziert sich Migges Forderung, die Stadt mit Gärten gleichsam zu übersäen.

Zweitens: «Jedermann Selbstversorger». Gemüse-, Kräuter- und Obstgärten sind eine elementare und konstante menschliche Einrichtung. Migge bezeichnet den Nutzgarten als ersten typischen Garten. Gerade in der Zeit um den Ersten Weltkrieg war die Selbstversorgung lebensnotwendig. Doch auch die wohlhabende Gesellschaft liess schon vorher Nutzgärten anlegen, wie einige von Migges Entwürfen belegen. Dies deutet auf einen Wunsch nach Rückkehr zu einem einfachen und echten Leben als Gegenentwurf zu einer auf Ratio­nalisierung, Künstlichkeit und Massenproduktion getrimmten Arbeitswelt. Der aktuelle Trend des selbstversorgerischen Stadtgärtnerns, bei dem auch das gute Ökogewissen und der Globalierungsverdruss eine ­Rolle spielen, knüpft an diese reformerischen Ideen an: Ob Balkonnische oder Gemeinschaftsgarten, jeder Ort ist geeignet, um sich aktiv dem Eigenanbau zu widmen.

Drittens: vom Einzelgärtchen zum Gemeinschaftsgarten. So manche Konzeptidee Migges geht vom individualistischen Gärtnern der Stadtbewohner aus. Die von Zäunen umgrenzten Individualgärten der Reformzeit zu Beginn des 20. Jahrhunderts sind heute offeneren und pluralistischeren Strukturen gewichen: Gemeinschafts- und Friedensgärten etwa, bei denen die soziale Integration von sozial Benachteiligten oder Asylsuchenden, das Miteinander und das gemeinsame Lernen im Vordergrund stehen.

Viertens: Ästhetik der Ordnung versus Ästhetik der Wildnis. Migge plädiert bei der Planung seiner privaten Gärten und öffentlichen Anlagen für eine klare Struktur und Organisation: Einfachheit, Natürlichkeit, Brauchbarkeit und Wirtschaftlichkeit sind dabei wichtige Kriterien. Im Kontrast dazu steht die anarchisch-experimentelle Ästhetik vieler Urban Gardeners, die versuchen, ein Stück Wildnis – und Wildheit – in eine von zu viel Ordnung, Uniformität und zu wenig Individualismus geprägte Stadt zurückzubringen.

Nutzen und Schönheit

Die auch heute aktuellste Forderung Migges ist also jene, überall Gärten für jedermann und in allen Massstäben zu bauen, das Nützliche mit dem Schönen zu verbinden und traditionelle Gartenformen wie Zier- und Nutzgarten zu kombinieren. Dass heutige Landschaftsarchitekten vergleichsweise zurückhaltend auf die ­hybriden und heterogenen Experimente des Urban ­Gardening reagieren, mag verschiedene Gründe haben. Eine Annäherung, wie sie bereits Migge wagte, wäre jedoch allemal wünschenswert.

Mehr zu Leberecht Migge finden Sie in TEC21 34/2017.

Weiterführende Literatur
Fachbereich Stadt- und Landschaftsplanung der Gesamthochschule Kassel (Hrsg.): Leberecht Migge. 1881–1935. Gartenkultur des 20. Jahrhunderts. Worpsweder Verlag, Kassel 1981.
Leberecht Migge: Die Gartenkultur des 20. Jahrhunderts. Jena 1913.
Cornelia Müller: Urban Gardening. Über die Rückkehr der Gärten in die Stadt. München 2011.

 

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