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Lebensreform und Landschaftsarchitektur

Leberecht Migge (1881–1935) zählt zu den führenden Vertretern der sozialen Freiraumplanung. Der konfrontationsbereite Reformer bestückte Arbeitergärten wie herrschaftliche Parks gern mit Nutzpflanzen. Seine Ideen beeinflussten auch die Schweizer Landschaftsarchitektur.

Data di pubblicazione
24-08-2017
Revision
25-08-2017

Die Gartenkunst sollte sozialer orientiert sein und allen Teilen der Gesellschaft dienen, postulierte der Gartenarchitekt, Theoretiker und Publizist Leberecht Migge. Er trat dezidiert für Reformen in der Gartenkunst ein: Im Garten bzw. in der Tätigkeit des Gärtnerns sah er eine wichtige Verbesserung der Lebensqualität, die er mit positiven Auswirkungen auf Körper und Geist begründete.

Mit dieser Position und mit seinen landschaftsarchitektonischen Konzepten erlangte Migge nach­haltige Bedeutung, auch für die Landschaftsarchitektur in der Schweiz. Bis heute gilt er als wichtiger Vertreter der sozialen Freiraumplanung, und bis heute verwenden wir Argumente, die er bereits vor 100 Jahren wie selbstverständlich anführte. Sichtbar sind seine Ideen vor allem auf seinen Plänen, die als Konvolut im Archiv für Schweizer Landschaftsarchitektur an der Hochschule für Technik Rapperswil HSR liegen; deutlich werden sie auch vor dem Hintergrund der damaligen Zeit und von Migges eigenwilligem Charakter.

Leberecht Migge wurde 1881 in Danzig als zwölftes von 13 Kindern einer wohlhabenden Kaufmannsfamilie geboren. Der Vater handelte u. a. mit ­Gewürzen, und eigentlich sollte auch der Sohn diesen Weg einschlagen. Doch es kam anders, Migge lernte den Gärtner­beruf in Hamburg. Dort arbeitete er ab 1904 im renommierten Gartenbaubetrieb Ochs und gründete 1913 sein eigenes Büro. Im gleichen Jahr veröffentlichte er sein Buch «Die Gartenkultur des 20. Jahrhunderts», in dem er bereits seine sozial orientierten Ansätze formulierte: «Das ist der Wille zur Gartenkultur. Um diese aber zu erleben, dafür müssen wir zuvor erst überhaupt einmal den Garten haben. Der Besitz eines Gartens darf in diesen Tagen von nichts anderem abhängig sein als von dem Wunsch nach ihm: Jedermann einen Garten! Der neue deutsche Garten ist eine soziale Angelegenheit oder ernsthaft überhaupt keine.»

Nutzgärten für Arm und Reich

Die Forderung, jeder solle unabhängig von seiner sozia­len Herkunft einen Garten haben können, entsprach Migges Überzeugung. Einen Grossteil seiner Aufträge in den Jahren 1913 bis 1920 erhielt er aber ­von einem wohlhabenden Kundenkreis. Dennoch entwickelte er bereits zu dieser Zeit Vorschläge für Gartenstädte, Siedlungen und Pachtgärten, und er gab praktische Vorschläge für die effizienten Nutzung bzw. Verbesserung des Bodens. Seine technischen Vorschläge testete und optimierte er im Selbstversuch, als er 1920 mit der eigenen Grossfamilie in die Künstlerkolonie Worps­wede bei Bremen zog. Dort gründete er die sogenannte ­Siedlerschule, in der anhand praktischer Ausführung das Potenzial des Gärtnerns gelehrt wurde.

Gleichzeitig wirkte Migge in den 1920er-Jahren auch an den grossen Bauvorhaben der Zeit mit. Dazu zählen Planungen zu den Aussenanlagen der Hufeisensiedlung in Berlin von Bruno Taut oder die Gärten der Römerstadt in Frankfurt am Main unter der Leitung von Ernst May. 1926 eröffnete er ein Büro in Berlin und veröffentlichte regelmässig Artikel.

Migge war konfrontationsbereit und blieb es bis zu seinem Tod 1935. Aufschlussreiche Hinweise auf seinen Charakter gibt ein Nachruf in der Fachzeitschrift «Die Gartenkunst»: «Angeborene Neigungen zu extremen Auffassungen und umwälzerischen Bestrebungen, dazu Veranlagung für rücksichtslose Kampfesart liessen jedoch seine Gaben nach Erreichung des Mannesalters nicht mehr recht zur Auswirkung kommen […] So kam es, dass Migge schliesslich von jeder beruflichen Zusammenarbeit ausgeschlossen blieb und in den Ruf geriet, marxistische Tendenzen zu begünstigen.»

Grünräume für Stadtmenschen

Migge war konsequent und direkt. Er stand kompromisslos für seine Vorstellungen ein, rief auf, provo­zierte und experimentierte. Damit folgte er auch einer allgemeinen Tendenz der Zeit, denn das beginnende 20. Jahrhundert war geprägt vom Wunsch nach Reform: Noch immer liess das politische System der Monarchie wenig Raum für gesellschaftliche und persönliche Entfaltung. Die Industrialisierung hatte ihre Spuren hinterlassen und schlug sich unter anderem in einem enormen Städtewachstum nieder. Soziale Unzufriedenheit und Spannungen, der sich ausbreitende Militarismus und die Suche nach einem sinnerfüllten Leben in einer beschleunigten Welt führten zu einem Drang nach Veränderung. Dieser manifestierte sich in Experimenten mit neuen Lebenskonzepten, in der Kleidung, in verschiedenen Bereichen der Kunst, im Handwerk, in der Architektur und auch im Garten.

Leberecht Migge reagierte hierauf mit seiner Theorie zu einer neuen Gartenkultur. Er sah den Handlungsbedarf besonders in den Städten, zu denen er 1913 feststellte: «Deutschland ist das Land der grossen ­Städte. Fünfzig Städte mit mehr als 100 000 Einwohnern und einer Gesamtbevölkerung von rund 14 Millionen liegen auf einer Fläche zusammen, so eng wie in keinem anderen grossen Lande der Erde. Das bedeutet aber auch: Fast ein Viertel der Bevölkerung des Deutschen Reiches sind dem ausgesetzt, was wir als Nachtseiten des Großstadtlebens kennen: Wohnungen, in die zu wenig Sonne und Luft eindringen, unerschwingliche Mieten, teures Brot und teures Fleisch, Alkohol und lange Arbeitszeiten, der Mütter und der Kinder Not.»

Um solchen Lebensbedingungen entgegen­zuwirken, plädierte Migge dafür, den Eigenanbau zu stärken, Flächen für Gärten bereitzustellen und öffentliche Parks zur Bewegung und zum Spiel zu etablieren. Seine Pläne für den Volkspark Rüstringen – heute ein Teil von Wilhelmshaven – beispielsweise erfüllen mehrere Funktionen. Migge reihte im unmittelbaren Umfeld Sportwiese, Festwiese, Nutzviehweide, Stadtgärtnerei, einen Friedhof und Schrebergärten aneinander. Der Park selbst lag darin eingebettet und besass Tennisplätze sowie einen Spielrasen. Alleen zum Promenieren erschlossen die Anlage, ein L-förmiger Wasserkanal mit Karpfenteich erweiterte das Nutzungs- und Erholungsangebot. Bis heute ist der Park ein beliebter Freizeitort und zeigt die Funktionalität der offenen, gleichzeitig aber auch strukturierten und effizienten Gestaltung Leberecht Migges.

Die Schönheit der Nutzpflanze

Seine Vorstellungen für Siedlungen folgten dem Prinzip der Gartenstadt, wie er sie während seines Aufenthalts in England 1910 gesehen hatte. Vor diesem Hintergrund entwickelte er eigene Ideen. Die Pläne zur Steenkamp­siedlung in Hamburg-Altona von 1920 zeigen Strassenzüge mit Reihenhäusern, gesäumt von Obstbäumen. Nur die einheitlichen Vorgärten erfüllen den reinen Zierzweck. Die Hauswände sind mit Spalieren versehen, und in den rückwärtigen Gärten sind Gemüseanbau und Kleintierhaltung vorgesehen. Doch obwohl die Flächen maximal ausgenutzt sind, gibt es immer eine Bank oder einen Laubengang für Genuss und Erholung.

Dass Migge für den Anbau von Nutzpflanzen als Kulturpflanzen einstand, zeigen auch seine Planungen für aufwendige Villengärten. Deutlich wird dies etwa auf den Zeichnungen für den Pfirsichgarten Trunkhahn in Budapest von 1918/1919. Auf Terrassen reiht er die Obstbäume aneinander, verbindet Gartenräume über Laubengänge, versieht Schutzmauern mit Pfirsichspalieren, sieht einen prominent gelegenen Gemüse­garten vor; Pavillons und Sitzplätze geben Ausblicke auf diesen spektakulär konstruierten Privatgarten frei, der ge­wissermassen die Schönheit der Nutzpflanze ­feiert. Nicht nur hier, sondern in nahezu allen Projekten des Rapperswiler Konvoluts zeigt sich Migges Leidenschaft für diese Pflanzengruppe, deren hohen Zierwert er immer wieder betonte.

Mehr zu Leberecht Migge finden Sie in TEC21 34/2017.


Vorbild für Schweizer Pioniere?

Leberecht Migge prägte durch seine mitunter sozial orientierten Publikationen und Projekte die Landschaftsarchitektur im deutschsprachigen Raum. Inwiefern seine Ideen auch in der Schweiz übernommen wurden, soll in den folgenden Jahren am Institut für Landschaft und Freiraum (ILF) der Hochschule für Technik in Rapperswil HSR erforscht werden.

Die renommierten Schweizer Landschaftsarchitekten Gustav Ammann (1885–1955) und Walter Leder (1892–1985) hatten jeweils bei Migge gear­beitet. Albert Baumann (1891–1971), u. a. Hauptlehrer an der kantonalen Gartenbauschule Oeschberg, hatte mit ihm korrespondiert und diverse Materialien zu seinen Theorien als Mappe gesammelt, die er im Unterricht verwendete. Diese Mappe befindet sich nun im Archiv für Schweizer Landschaftsarchitektur (ASLA), ebenso wie rund 320 Pläne aus Migges Hamburger Bürozeit. Walter Leder hatte sie 1920 bei seiner Rückkehr in die Schweiz mitgebracht und später ebenfalls in seiner Lehr­tätigkeit eingesetzt. Das Plankonvolut spiegelt das Arbeitsspektrum und die Arbeitsweise Migges detailliert wider. Es sind, soweit bekannt, die einzigen Pläne, die als zusammenhängender Bestand noch vorhanden sind. Sie ermöglichen der Forschung daher völlig neue Erkenntnisfelder.

In Bezug auf die Schweizer Landschaftsarchitektur sind vor allem die reformerischen Ansätze Migges, aber auch die Gestaltungssprache und die Pflanzenverwendung Gegenstand der Untersuchung. Erste Einblicke gibt die diesjährige Tagung des ILF zum Thema «Die Reform im Garten. Das frühe 20. Jahrhundert in Theorie und Praxis» am 30. November 2017 an der HSR.
(Dr. Sophie von Schwerin)

Mehr zu Leberecht Migge und zum Fund seiner Pläne im ASLA-Archiv 2016.

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