«Wir sind die letz­ten noch le­ben­den Funk­tio­na­lis­ten»

Robert Venturi und Denise Scott Brown, zwei der profiliertesten und einflussreichsten Architekten der Gegenwart, provozieren seit Jahren immerwieder mit ihren Bauten und ihren theoretischen Ansätzen.

Publikationsdatum
31-01-2019
Revision
31-01-2019

Daniel Walser: Robert Venturi und Denise Scott Brown, obwohl Sie die Postmoderne zu Beginn stark mitgeprägt hatten, möchten Sie nicht als Postmodernisten verstanden werden.
Denise Scott Brown: Ja, so ist es.

Daniel Walser: Worin sehen Sie den Unterschied?
Robert Venturi: Wir wollten nie historische Stilewiederbeleben. Im gegebenen Fall kann man, wenn es Sinnmacht, Referenzen benützen.
Denise Scott Brown: … anspielen, sich darauf beziehen. Wenn man «Learning from Las Vegas» wirklich liest, findet man darin eine Abhandlung zur Bürgerrechtsbewegung der 60er-Jahre. Und wir waren sehr stark von den sozialen Bürgerbewegungen dieser Zeit beeinflusst. Wir waren immer sehr, sehr wagemutige Funktionalisten. Wir sind die letzten übrig gebliebenen und noch lebenden Funktionalisten! Aus moralischen Gründen sind wir Funktionalisten. Es ist gut, wenn man dem Bauherrn genau zuhört, was er wirklich will, damit diesermit dem Resultat auch zufrieden ist. Wir sind aber auch aus ästhetischen Gründen Funktionalisten. Wenn man die Eckwerte eines Problems verfolgt und schliesslich zu einem Ergebnis kommt, das man aber hasst, dann kann dies ein Zeichen sein, dass die ästhetischen Regeln gebrochen werden sollten, um darin etwas Neues, Ästhetisches zu entdecken, das lebendiger und vitaler ist.

Daniel Walser: Sie haben auch verschiedene Projekte ausserhalbder USA realisiert, zum Beispiel in Japan, London oder Toulouse. Welchen Stellenwert besitzt der Ort in Ihrer Arbeit?
Robert Venturi: Der Begriff «Kontext» ist überbeansprucht, ein sehr modischer Begriff, der zu viel gebraucht wird. Aber es ist wichtig, sich auf den Kontext zu beziehen. Im Buch «Complexity and Contradiction» beschreibe ich, dass man sowohl von innen nach aussen wie auch von aussen nach innen entwerfen soll. Dies führt uns dazu, dass unsere gesamte Arbeit in der Essenz ihrer Formensprache immer anders aussieht und sich auf ihren Ort bezieht, und zwar nicht nur auf die physische Umgebung, Natur und Architektur, sondern auch auf die kulturelle Aura der Institution oder der Stadt. Dies ist wohl gerade in einer multikulturellen Welt am ehesten angebracht.

Daniel Walser: Sie proklamieren, dass ein Gebäude wie ein Gebäude aussehen soll. Was meinen Sie damit?
Robert Venturi: Damit ist gemeint, dass ein Gebäude nicht wie eine Skulptur aussehen soll. Wir sagen, dass ein Gebäude auf dem Ideal des einfachen «Loft-Gebäudes» basieren sollte. Ein Gebäude ist langweilig, wenn Sie so wollen, aber es ist sensibel. Als ein schützendes Element erlaubt es innere Flexibilität, was es praktisch macht. Der ästhetische Effekt stammt eher aus der Applikation von Bedeutungen, Symbolen und Zeichen auf die Fassade des Gebäudes.

Daniel Walser: Wie kann in New York auf die Folgen der Terroranschläge vom 11. September 2001 reagiert werden?
Robert Venturi: Von verschiedensten Seiten wurden wir gebeten, solche Fragen zu beantworten, und es gab hierfür sogar einen Architekturwettbewerb. Wir haben zu allem Nein gesagt. Für uns ist, was passiert ist, ein so einschneidendes und wichtiges Ereignis, dass man Zeit braucht, um wirklich verstehen zu können, worum es geht, um nicht einfach opportunistisch zu sein und heroische Lösungen vorzuschlagen. Dies sehen wir auch als ein Zeichen der Seriosität. Wir wären zwar durchaus daran interessiert, darüber Studien zu machen, aber wir lehnen es ab, schnelle Antworten zu geben.
Denise Scott Brown: Bereits am nächsten Tag bekamen wir Anrufe, in denen wir gefragt wurden, was dort nun geschehen sollte. Das ist die falsche Frage. Die erste Frage ist doch: Wie kann ich helfen? Und die zweite ist: Was kann ich für die Menschen tun, die gestorben sind? Und drittens: Das hebräische Wort für «Holocaust» ist «Shoah». Die Israelis sprechen davon, dass Menschen, die ungerechtfertigt vom Holocaust leben, «Shoah-Business»betreiben.
Robert Venturi: Anstatt Showbusiness.
Denise Scott Brown: Hier betreiben alle Architekten «Shoah-Business». Und sie hatten eine Ausstellung mit all ihren Entwürfen. Das ist der falsche Ansatz. New York besteht aus einem Muster von Aktivitäten. Es gab ein Muster. Es begann auf eine bestimmte Art. Es wuchs. Es veränderte sich. Es wurde vollkommen zerrissen, und sobald es zerrissen wurde, entstanden neue Muster. Wie werden sich diese Muster weiter verändern? Wie sollen sie sich verändern? Wie sollen sie gebraucht werden? Lasst das System aus sich selbst wachsen, um zu sehen, wohin es gehen soll.

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