«Ei­ne ge­fun­de­ne Raum­fi­gur»

Entwurf und Realisation

Ein Raum, der anders gedacht und gebaut ist als alles, was wir kennen, und den wir auch anders erleben sollen – der Architekt Christian Kerez erzählt, was es von der ersten Idee bis zur Umsetzung gebraucht hat.

Publikationsdatum
02-06-2016
Revision
03-06-2016

TEC21: Herr Kerez, Ihr Projekt unterscheidet sich in mancherlei Hinsicht von den kuratorischen Strate­gien, die wir in den vergangenen Jahren in Venedig gesehen haben. Es ist keine der üblichen Ausstel­lungen, bei denen Fotos, Zeichnungen oder Modelle
als Verweismedien auf eine Realität ausserhalb des Ausstellungsorts referieren. Im Zentrum steht ein rätselhaftes Objekt, das eine extreme Präsenz besitzt, sich aber der Einordnung entzieht. Wie kam es zu diesem Konzept?

Christian Kerez: Angefangen hat es mit der Idee, dass eine Architekturausstellung auch Architektur sein kann. Also kein indirekter Verweis auf Architektur, sondern gebaute reale Architektur selbst. Dafür gibt es zwar schon einige Beispiele – so realisierten etwa Marcel Breuer, Gregory Ain und Junzo Yoshimura nach dem Zweiten Weltkrieg 1 : 1-Häuser im Garten des MoMA in New York. Aber auch diese Bauten waren letztlich Verweise: Breuers Pavillon beispielsweise repräsentierte einen modernen, zeit­gemässen Wohnstil.

Uns interessiert der Raum als Ereignis, das an einem bestimmten Zeitpunkt und an einem gewissen Ort stattfindet und genau dort seine Gültigkeit beweist. Wie könnte ein Raum aussehen, wenn man nicht auf eine Epoche, Stilistik oder Auffassung von Architektur Bezug nehmen will? Es ging also darum, einen Raum zu schaffen, der nicht auf einen Raum ausserhalb von sich selbst verweist und weder funktional noch illustrativ ist.
 

TEC21: Was ist die Absicht dabei?

Christian Kerez: Mich interessiert, aus der Architektur heraus etwas zu entwickeln, das stimmig und schlüssig ist. Der Raum auf der Biennale entsteht nicht von allein und ist auch nicht gefunden, sondern gesucht und erarbeitet. Die Gestalt des Raums ist durch das Verknüpfen von unterschiedlichen Prozessen entstanden und von keiner ästhetischen oder gestalterischen Prämisse bestimmt.

Ich möchte eine Form auf eine abstrakte Art vermittels eines Regelwerks generieren. Architektur entsteht also nicht deduktiv – abgeleitet von dem Bild einer finalen Form, das ich im Kopf habe –, sondern induktiv: über die Logik, wie diese Form überhaupt gefunden und entwickelt werden kann.
 

TEC21: Gegeben war der Schweizer Pavillon in den Giardini als Ausstellungsort. Wie sind Sie konkret vorgegangen?

Christian Kerez: Die Ausgangslage bestand für mich darin, einen Raum zu schaffen, der die grösstmögliche Komplexität in sich trägt und einen nicht sofort entschlüsselbaren visuellen Charakter besitzt. Wir begannen ganz handwerklich. Irgendwelche Dinge – zufällig gefundene Materialien, Abfälle und anderes – wurden in Gips eingegossen und dann wieder herausgetrennt. Wir haben im Büro und mit den Studierenden an der ETH ein Laboratorium zur Suche von Formen gebildet.

Ungefähr 300 Versuche waren nötig, um eine Form zu finden, die sich einer eindeutigen Lesart entzieht. Das Atelier glich eher einer Küche oder einem Chemielabor als einer Architekturwerkstatt. Wir haben gewissermassen Räume gezüchtet, nicht entworfen. Diese gefundene Raumfigur wurde dann mit verschiedenen Scanverfahren dreidimensional erfasst. So entstanden riesige Datenmengen, die auch ein optisches Gerät wie eine Kamera nicht erzeugen könnte.

Dann erfolgte der Prozess des Skalierens und Vergrösserns. Mithilfe des so entstandenen digitalen Modells wurden anschliessend Schalungsteile 3-D-gedruckt und gefräst, die mit Beton abgegossen wurden, sodass am Ende eine Hülle oder Haut aus Beton entstanden ist, die den Raum umschreibt und als Skulptur im Raum auch von aussen abbildet.
 

TEC21: Es bestanden also zwei grundsätzliche Herausforderungen: die Findung des Körpers und die technische Umsetzung. Mit der Verwendung von Abfall oder Objets trouvés ging es Ihnen darum, die Rationalität auszuhebeln, um auf Formen zu kommen, die man sonst nicht finden würde. Aber am Ende steht gleichwohl eine individuelle Entscheidung: Ein Studien­modell bietet das Potenzial der Weiterentwicklung, 299 besitzen es nicht. Aufgrund welcher Kriterien war diese Wahl möglich? Was hat die Auswahl des finalen Objekts legitimiert? 

Christian Kerez: Das Modell Nr. 180 war das Objekt, bei dem es die grösste Anstrengung brauchte, sich die zukünf­tige Raumwirkung zu vergegenwärtigen. Und damit verbunden war die Hoffnung, dass dieser Raum die grösste Komplexität in sich tragen würde. Letztlich ist die Ganzheitlichkeit und die Widersprüchlichkeit, also die Komplexität, auch bei meinen sonstigen architektonischen Projekten der einzige Legimitierungsgrund für den ungeheuren Aufwand, den wir mit Modellstudien betreiben. 
 

TEC21: Im Prozess verbinden Sie das nahezu archaische Verfahren des Abgiessens mit Hightech-Methoden, was im Widerspruch steht zu sonstigen Vorgehensweisen. Entweder man arbeitet ganz bildhauerisch, oder alles wird am Computer entworfen. Aber alles am Computer zu entwerfen hätte nicht zu dem Ergebnis geführt, wenn ich Sie recht verstehe.

Christian Kerez: Man kann sagen, dass es drei Schritte gibt: den Guss des Modells, das Scannen und Skalieren, schliesslich das 3-D-Drucken, Fräsen und Abgiessen. Es gibt Projekte in der Architektur, die die neuesten Technologien des Fräsens und 3-D-Drucks verwenden, aber meistens sind dann auch die Formen digital hergestellt. Wir aber stellten am Anfang ein primitives, archaisches Gebilde her und versklavten die ­Maschinen dazu, es möglichst genau nachzubilden.

Es ist in der Tat eine Kombination von zwei völlig ­widersprüchlichen architektonischen Gestaltungswegen. An der ETH gibt es ja eine ganz starke Forschungsabteilung auf dem Gebiet der Robotik und der digitalen Entwurfsmethodik, aber geringe Rückkopplung zu den Entwurfsstudios, die weiterhin ­tra­ditionell arbeiten. Uns hat der Brückenschlag inter­essiert. Wir wollten die neuen Technologien nutzen, aber ohne deren saubere Ästhetik, der man die Formensprache des Computer-Aided Architectural Design ansieht.

Es gibt in unserem Objekt Wechsel zwischen flächigen und texturierten Bereichen zu eher figu­ra­tiv wirkenden Zonen. Eine derartig reiche, unberechenbare Formenwelt hätte man mit allein computer­gesteuerten Prozessen nicht schaffen können.
 

TEC21: Eine weitere Entscheidung, die nicht auf Zufälligkeit basiert, ist auch die der Dimension und Grösse. Wie ist hier die Entscheidung gefallen?

Christian Kerez: Wir haben alle Modelle hinsichtlich der Bewegung von Personen analysiert – der Raum soll ja begehbar sein. Aber als wir begannen, etwa die Zugänglichkeit zu optimieren, merkten wir, dass wir den Raum wieder vereinfachen und vorhersehbar gestalten müssten. Das wollten wir nicht, und so haben wir uns entschieden, einen eher kleineren Raum zu bauen, der die grösstmögliche Komplexität erlaubt.

Der Körper verhält sich wie ein Objekt im Raum, man kann nicht nur in ihn hineingehen, sondern auch um ihn herumgehen. Dadurch, dass der Raum so viele Verwerfungen hat, reicht eine im Durchschnitt nur 2.5 cm starke Hülle als Tragstruktur. Für viele mag das Objekt auch einen organischen oder anthropomorphen Charakter besitzen. 
 

TEC21: Menschen neigen dazu, Dinge, die sie bislang nicht kennen, mit Bekanntem zu vergleichen. Assoziationen stellen sich ein, bestimmt auch die der Grotte. 

Christian Kerez: Das ist durchaus legitim – das Schulhaus Leutschenbach hat ja auch den Übernamen «Leuchtturm» erhalten, obwohl es nicht wirklich so aussieht. Dadurch, dass immer noch genügend Störungen existieren, wird die eindeutige Wahrnehmung als Grotte relativiert, und wir erleben beim Anblick der ersten fertig betonierten Elemente eher Assoziationen an organische Substanzen als an künstliche Strukturen.

Und natürlich auch durch die Tatsache, dass man zunächst um das Objekt herumgeht und dieses leicht schwebt. Vielleicht ist es eher ein Raumschiff als eine Grotte … Wir überfordern die Besucher durch Komplexität, und das bedeutet, dass das Objekt nicht klar lesbar ist. Aber natürlich ist die Architektur von Grotten oder Follies durchaus eine mögliche Assoziation; im Park der Giardini besitzt sie aufgrund des Kontexts ohnehin eine ge­wisse Plausibilität. 
 

TEC21: In der Radikalität, mit der es sich der konventionellen Architekturproduktion verweigert, hat Ihr Objekt meinem Empfinden nach auch einen extrem provokativen Charakter. Ist das intendiert?

Christian Kerez: Das Objekt kann eigentlich nur von Interesse sein, wenn es auch Anlass gibt, darüber nachzudenken, wie in unserem Land Architektur geschaffen wird. Vieles, was vor 20 Jahren noch zum Gestaltungsspielraum des Architekten gehörte, ist heute vorbestimmt durch Energieverbrauchsanforderungen, Gestaltungsplanvorgaben und andere Vorschriften. Die Biennale sollte kein Ort sein, den Status quo unreflektiert zu feiern; sie bietet die Möglichkeit, aus der Distanz zurückzublicken auf den Ort, an dem man arbeitet.

Das Objekt versucht zu zeigen, was heute machbar ist und dass es auch möglich ist, Architektur anders zu denken, anders zu bauen und anders zu erleben, als es uns die alltägliche Umwelt bietet. Wir leben in einer Zeit, in der technologisch mehr als je zuvor möglich ist. Die Front, von der wir in Venedig berichten oder besser gesagt, die wir nach Venedig bringen, ist die Front der Baubarkeit und Erfahrbarkeit der Architektur, losgelöst von einem anderen, möglicherweise gesellschaftlich begründeten Kontext ausserhalb der Architekturbiennale.

Eigentlich ist unser Objekt auch ein sehr schweizerischer Beitrag, weil es technisch anspruchsvoll und unglaublich präzise ist. Die Ausführungsqualität ist für einen temporären Ausstellungsbau einzigartig. Sie basiert auf einer Kultur der interdisziplinären Zusammenarbeit zwischen Kunst, Ingenieurtätigkeit, digitalen Fabrikationsmethoden und Architektur, zwischen Akademie und Büro,
wie sie sonst in kaum einem Land vorstellbar ist.

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