Wie und wo die Wär­me­wende be­ginnt

Was braucht es, um auf Öl oder Gas zu verzichten und den Gebäudepark aus dem fossilen Zeitalter zu verabschieden? Zur optimalen Vorbereitung gehört, eine klimafreundliche Energieinfrastruktur zu realisieren.

Date de publication
06-09-2019

Eigentlich gibt es wenig Neues zu berichten: Die Schweiz will ihren CO2-Ausstoss neutralisieren. Und dafür sollte jeder Hauseigentümer möglichst fossilfrei heizen. Aber nicht nur für die Raumwärme in Wohn-, Büro- und anderen Zweckbauten, sondern auch fürs Warmwasser sind vornehmlich erneuerbare Energiequellen zu verwenden. Wie die Wärmewende gelingt, ist das Thema dieser Geschichte.

Erzählen wir zu Beginn von etwas Konkretem und ­Schönem. Zum Beispiel von einem Haus, fast 150-jährig und einem kleinen Palazzo gleich, das vor Kurzem in der postfossilen Zukunft gelandet ist. Das neoklassi­zistische Gebäude mit Türmchen steht mitten im historischen Ortskern von Zernez (vgl. «Bedeutend und erhaltenswert») und überstrahlt die benachbarten Hotels mit seiner aufgefrischten Pracht. Der Vorplatz ist gepflästert, und im Sockelgeschoss warten eine ­Metzgerei und eine Bankfiliale auf Kunden. Die oberen drei Etagen beherbergen neu deren Verwaltung. Und im Keller, wo früher ein Heizölkessel stand, hängt nun ein Wärmetauscher an der Wand, der ans CO2-neutrale Fernwärmenetz der Engadiner Gemeinde an­geschlossen ist.

Der ursprüngliche Rauchabzug ist derweil zum Schacht für Elektrokabel umfunktioniert. Das massive Mauerwerk erscheint mit der neuen, mineralischen ­Innendämmung noch etwas mächtiger. Ansonsten verrät wenig, wie klimafreundlich der repräsentative Banksitz geworden ist. Auch inwendig waren weit mehr Technik und Einbauten für die Verbesserung der Brand- und Erdbebensicherheit beziehungsweise für den barrierefreien Zugang nötig als für die energetische Er­neuerung.

Letztere ist jedoch, was in dieser Geschichte zählt: Der Energiestandard des Gebäudes mit Baujahr 1872 sinkt in etwa auf den Stand eines Neubaus. Der Bedarf an Heizenergie dürfte sich im Vergleich zu früher mindestens halbieren. Und diese wird neuerdings aus lokalen Ressourcen erzeugt. Die Nationalpark­gemeinde besitzt auch ausserhalb der Schutzge­biete  viel eigenen Wald. Mit dem Abfallholz wird seit Längerem ein kommunaler Wärmeverbund betrieben, der künftig zum Rückgrat eines fossilfrei versorgten Dorfs ausgebaut wird.

Studie zur klimafreundlichen Verdichtung

Vor wenigen Jahren feierte die Gemeinde das 100-Jahr-Jubiläum des Nationalparks. Als Geschenk bescherte man sich eine ebenso zukunftsträchtige und weitsichtige Idee wie die damalige Gründung. Zernez soll «den gesamten gebäudebezogenen Energiebedarf aus eigener erneuerbarer Produktion decken und die resultierende CO2-Bilanz auf null senken». Seit 2011 sucht die Behörde viele Mittel, Wege und Fachleute, die beim Ausstieg aus dem fossilen Zeitalter helfen können.

Unter anderem wurde das ETH-Architekturdepartement zurate gezogen. Daraus entstanden das Konzept «Zernez: Energia 2020» und ein Aktionsplan, den es in den nächsten 30 Jahren abzuarbeiten gilt. Vor zwei Jahren hat die lokale Behörde sogar einen Studienwettbewerb durchgeführt, in dem eine klimafreundliche Verdichtung der Dorfmitte gesucht wurde. In leicht abgespeckter Version hat sie die Realisierung des Siegerprojekts in diesem Sommer angepackt.

Ursprünglich wollte die Gemeinde ihre eigenen Bauten wie Gemeindehaus, Schule und Hallenbad, die direkt neben dem Nationalparkzentrum stehen, erneuern und erweitern – und dabei den Energieverbrauch verringern. Das in Angriff genommene Projekt konzentriert sich vorerst darauf, mehr Schulraum anzubieten. Unverhandelbar ist auch, das Klima zu schonen. Zwar ist das Schulhaus aus den 1970er-Jahren bereits an den Holzwärmeverbund angeschlossen, aber fast ungedämmt. Seine energetische Sanierung gibt daher einen Grossteil der Fernwärme für weitere Bezüger frei. Zugleich steht ein mehrjähriger Ausbaueffort an: Weil die Kantonsstrassen durch das Engadiner Dorf demnächst saniert werden, lassen sich die Heizungsstränge im Dorf weiterziehen. Die Zahl der Anschlüsse muss sich gemäss ETH-Analyse von heute rund drei Dutzend Liegenschaften auf das Vierfache erhöhen. Im historischen Zentrum stehen bislang die CO2-Haupt­emittenten.

Ein Anschluss an das Holzwärmenetz lässt sich nicht erzwingen. Hauseigentümer werden jedoch mit Subventionen geködert. Auch der Umbau des Bankgebäudes hat kommunale Energiefördergelder erhalten. Sie stammen aus einem Fonds, den die lokale Bevölkerung via Stromrechnung laufend füllt. Ausserhalb des Dorfkerns ist ein Anschluss an den Wärmeverbund nicht möglich, deshalb soll hier Erdwärme die fossilen Brennstoffe verdrängen. Ob sich der Untergrund für eine geothermische Nutzung eignet, liess die Gemeinde abklären, ebenso wie das unausgeschöpfte Potenzial der umliegenden Wälder. Dafür muss die Energieholz­ernte um den Faktor vier vergrössert werden.

In Zernez werden jetzt schon weitere eneuerbare Quellen angezapft: Die Abwasserreinigungsanlage nutzt ihre Abwärme vor Ort. Und ein Landwirt sammelt Speisereste der lokalen Gastronomie; mit dem Biogas erzeugt er selbst Strom. Den Beweis zu erbringen, dass die Energieversorgung erneuerbar und emissionsarm organisiert werden kann, bleibt dennoch schwer. Immerhin ist Heizöl im Gegenwert von rund 6 GWh pro Jahr durch lokale Energieträger zu ersetzen.

Happy End ist noch weit entfernt

Zernez ist derzeit irgendwie überall. Nicht nur im Engadin strebt man eine klima­freundliche Wärmewende an. Viele weitere Gemeinden und Städte gehen auf die Suche nach eigenen Energieressourcen. Das Happy End steht erst 2050 bevor, wenn man ganz auf fossile Brennstoffe verzichten kann. Noch bilden diese aber den hauptsächlichen inländischen Energieinput; über zwei Drittel des Gesamtverbrauchs stammen aus klimaschädlichen Quellen. Doch deren Versorgungsanteil soll nun doppelt so schnell verschwinden, wie er zugenommen hat. Tatsächlich soll 1912 die erste Ölheizung der Schweiz in Betrieb genommen worden sein, weiss die Erdölvereinigung. Wo diese Premiere stattfand, sei aber unbekannt. Gewiss ist dagegen: Ab den 1960er-Jahren überholte das Heizöl alle anderen Energieträger und wurde fortan zum Brennstoff Nummer eins.

Nun aber zeichnet sich ein nächster Umbruch ab. Gemäss der jüngsten Energiestatistik bricht der Konsum regelrecht ein; letztes Jahr zog Erdgas erstmals mit dem schwarzen Gold gleich. Und bei neuen Wohn- und Geschäftsbauten ist die Wärmepumpe das meistgewählte Heizsystem. Stark zugelegt hat auch die emissionsarme Fernwärme; aber erst 5 % des Schweizer Gebäudeparks profitieren davon. Wie Zernez gehen auch viele andere Orte daran, öffentliche Verbundangebote als ­Ersatz für fossile Energieträger zu knüpfen.

Was die Wärmewende in Gang bringen soll, ähnelt mühsamer Handarbeit. Jedes Haus, das erneuerbar versorgt werden kann, ist eine Masche, die mit weiteren zu verknoten ist. Beim Einzelobjekt, ob Neu- oder Altbau, kommt man zügig vorwärts. Immer noch tauchen neue, verblüffende Beispiele auf (vgl. «Auf massive Substanz gebaut»). Aber auch diese müssen erst bestätigen, dass sie nachahmenswert und massentauglich sind. Um unabhängig davon Fortschritte zu erzielen, verfolgen die fünftgrösste Bündner Gemeinde und die aktuellen Mitstreiter ihren koordinierten Plan zum Ausstieg aus der gut geölten, auf fossiler Energie basierenden Versorgungsinfrastruktur. Denn sie wissen: Dichte Siedlungsräume lassen sich konfliktarmer und effizienter mit Verbundvarianten versorgen als mit isolierten Einzellösungen.

Die ausführliche Version dieses Artikels ist erschienen in TEC21 36/2019 «Einmal fossilfrei, bitte!».

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