«Ein­an­der ent­ge­gen­lau­fen­de An­sprü­che»

Architekturpraxis

Die Schwierigkeiten im Lärmschutz beginnen beim Entwurf: Die Schallausbreitung kann wirkungsvoll über die Siedlungsstruktur, die Gebäudeform und den Wohnungsgrundriss beeinflusst werden. Architekt Urs Primas warnt zwar davor, dass die Bauaufgabe überdeterminiert wird, dennoch erkennt er inspirierende Elemente.

Publikationsdatum
01-09-2016
Revision
02-09-2016

TEC21: Herr Primas, Ihr Büro hat vor Kurzem das Projekt «Zwicky Süd» in Dübendorf realisiert (vgl. TEC21 9–10/2016: Wohnen in verzwickter Lage). Die Genossenschaftssiedlung ist stark mit Lärm belastet: Auf einer Seite fährt die S-Bahn vorbei; an einer anderen passiert der Autobahnzubringer. Wie wird das Gebot des «ruhigen Wohnens» bei dieser Überbauung sichergestellt?

Urs Primas: Effektiv ist das gesamte Grundstück von Lärmquellen umringt. Daraus entsteht ein beispielhafter Konflikt zur guten Erschliessung mit einer vielfältigen Verkehrsinfrastruktur aus Autobahn, S-Bahn oder Glattalbahn. Die Beurteilung der Lärmbelastung war deshalb äusserst komplex: Anhand von dreidimensionalen Lärmmodellen musste etwa die Überlagerung der unterschiedlichen Schallquellen berechnet werden.

Zudem waren die Anforderungen an den Lärmschutz in dieser unbebauten Zone höher als in einem bebauten Gebiet. Es waren die Planungswerte einzuhalten, die niedriger als die Immissionsgrenzwerte sind. Die Modellierungen der Lärmbelastung haben zu einem iterativen Entwurfsablauf geführt, bei dem die Gebäudekörper jeweils unterschiedlich gesetzt und verschoben worden sind. 

TEC21: Wie sieht die Lärmschutzstrategie bei der Gebäude- und Wohnungstypologisierung aus?

Urs Primas: Grundsätzlich sind die tiefen, energetisch und ökonomisch sehr effizienten Gebäude ins Innere des Areals gewandert; der Aussenlärm wird von extrem dünnen Bauten abgeschirmt. Letztere sind mit beidseitig belüftbaren Räumen besetzt. Weil die Lärm­belastung omnipräsent ist, mussten unterschiedliche Typen entwickelt werden, um die Grenz­werte überall einzuhalten. Beispielsweise werden Räume über Dachpatios, nach oben offene Zimmer, belüftet. Bei den durchgesteckten Wohnungen wurde in Kauf genommen, dass der Wohnraum relativ knapp bemessen ist. Daran grenzen zweiseitig orientierte Individualzimmer, die dank einer Fläche von 20 m2 vielfältig nutzbar sind. 

TEC21: War der «Lärmschutz» das bestimmende Thema?

Urs Primas: Tatsächlich war nicht der Lärm das ausschlaggebende Entwurfskriterium. Das verlangte Raumprogramm bestand aus einem breiten Angebotsfächer mit Grosswohnungen, Ateliers, Kleinwohnungen und sogar Hotelzimmern. Der Wunsch war, robuste Bautypen zu entwerfen, die nicht nur konventionellen Wohnungsbau ermöglichen, sondern in Bezug auf Nutzung und Funktion auch neutraler wahrgenommen werden können. 

TEC21: Wie detailliert muss ein Wettbewerbsentwurf bereits auf den Lärmschutz ausgerichtet sein?

Urs Primas: Typologisch und strategisch ist vieles bereits im Wettbewerbsprogramm bestimmt. Beim Zwicky-Areal musste die Stellung der Baukörper jedoch im Vorprojekt weiter optimiert werden. Diese Verschiebungsvarianten veränderten den Ausgangsentwurf markant. Wir wollten aber weiterhin ver­hindern, dass das Areal räumlich abgeschottet wird. Die physischen Durchgänge und die freien Durchblicke galt es aufrechtzuerhalten, obwohl die Ränder aus Lärmschutzüberlegungen tendenziell geschlossen werden sollten. Wir haben uns am Anfang eher dagegen gesträubt, die dünnen Bauten leicht abzu­knicken. Aber am Ende hat sich gezeigt, dass Gassen und Plätze im Innern des Areals so besser vor dem Verkehrslärm geschützt sind.

TEC21: Ihr Büro hat vor elf Jahren den Wettbewerb für die Genossenschaftsüberbauung «Am Grünwald» gewonnen, deren Realisierung nun vom Bundes­gericht ver­weigert wird (vgl. Kasten unten: «Lärm-Urteil: ‹Nein, aber …›»). Auch bei diesem Projekt musste der Lärmschutz, aufgrund der benachbarten, vielbefahrenen Pendlerachsen, besonders beachtet werden. Was wäre im Vergleich zu «Zwicky Süd» anders geworden?

Urs Primas: Die Überbauung war so angelegt, dass sie sich um eine grüne Wiese gezogen hätte, die auch der Quartierbevölkerung zur Verfügung gestanden hätte. Für die Siedlung wäre dies der ruhige Raum geworden, auf den alle Wohnungen hätten orientiert werden können: Die ringförmige Gebäudestruktur schirmt den Innenhof sowie die nördlichen und östlichen Siedlungsflügel vor dem Strassenlärm ab. Zudem ist die Tiefe der Gebäudeschenkel abhängig von der Lärmbelastung, was wiederum die Entwicklung der einzelnen Wohnungsgrundrisse beeinflusst hätte. 

TEC21: Das Bundesgericht setzt eigentlich eine Zäsur in der Beurteilung von Lärmschutzmassnahmen am Gebäude. Auch bei der Überbauung «Am Grünwald» ist die sogenannte Lüftungsfensterpraxis als un­zureichend beurteilt worden, obwohl die lokalen Bewilligungsbehörden daran nichts auszusetzen hatten. Grundsätzlich weist aber vieles darauf hin, dass die Errungenschaften dieser Praxis ­durchaus Bestand haben könnten und baurechtlich vermehrt Aus­nahmebewilligungen dafür erteilt werden dürfen. Wie sehr prägt der Schallschutz jeweils einen architektonischen und städtebaulichen Entwurf? 

Urs Primas: Der Lärmschutz ist nie die einzige Rahmen­bedingung für einen Siedlungsentwurf. Die Gebäude- und Wohnungstypologien werden aktuell unter anderem ebenso durch Energieeffizienzvorgaben, bauökonomische Aspekte und standortbezogene, topo­grafische Vorgaben und Voraussetzungen beeinflusst. Aus der Notwendigkeit zur Lärmbekämpfung entsteht noch keine städtebauliche Grundidee. Allerdings zeigt sich, dass die Bemühungen, den verschiedenen Anforderungen gerecht zu werden, einander entgegenlaufen können.

Vorschriften für mehr Energie­effizienz bevorzugen Gebäude mit einer gewissen Tiefe. Demgegenüber war an lärmexponierten Lagen bisher zu beachten, dass eine Wohnung quergelüftet werden kann. In der Moderne waren entsprechende, schlanke Bautiefen ja die Regel. Erst etwa seit Mitte der 1980er-Jahre entstanden kompaktere, wirtschaftlichere Volumen mit tieferen Grundrissen. 

TEC21: Können Sie den Konflikt mit der Gebäudetiefe bei unterschiedlichen Ansprüchen beispielhaft erläutern?

Urs Primas: Bei Wettbewerbsentwürfen an lärmexponierten Lagen ist uns regelmässig aufgefallen, dass die Kombination der genannten Ansprüche zu einer Untergrenze für die Gebäudetiefe führt. Diese liegt, abhängig vom konkreten Projekt, ungefähr bei 10 m. Eine noch geringere Tiefe wird irgendwann in Bezug auf Wirtschaftlichkeit und auch Energie­effizienz problematisch. Bei wesentlich grösseren Gebäudetiefen werden die Wohnungsflächen bei einem durch­gesteckten, von der ruhigen Seite belüftbaren Grundrisstyp dagegen zu gross. Die Fassade wird auf der lärmbelasteten Seite schlecht nutzbar. 

TEC21: Die Strassenfassade ist oft Thema, wenn es Städtebau und Lärmschutz einander gegenüberzustellen gilt. Wie weit darf man beim Entwurf gehen, um die Bewohner vor zu viel Aussenlärm zu schützen?

Urs Primas: Die Herausforderung besteht auf jeden Fall darin, eine schöne Strassenfassade zu entwerfen. Es ist wichtig, dass eine Gebäudefassade nicht einfach zur Lärmschutzwand wird, sondern mit dem öffent­lichen Raum kommuniziert. Die Stadt hört nicht an der Fassade auf. Wenn Lärmschutzvorschriften fenster­lose Fassaden erzwingen, wäre das nicht nur ein architektonisches, sondern auch ein städtebau­liches Problem. Zudem geht es darum, eine verkehrsreiche Strasse als öffentlichen Raum zu aktivieren; darum die Idee, den Strassenraum zu bebauen und die Hauseingänge da zu platzieren. So lässt sich vieles mit dem Lärmschutz kombinieren.

TEC21: Aber es können sich auch gewisse gestalterische Kompromisse oder Besonderheiten ergeben?

Urs Primas: Wenn man sich um eine Bandbreite an unterschiedlichen Grundrissen bemüht, gibt es tatsächlich nicht nur ein einziges Rezept. Der Lüftungsfenstergrundriss begünstigt ein klassisches Wohnungsmuster und funktioniert gut, wenn die Lärmquelle nicht im Süden liegt. Als Alternative ist, beispielsweise bei den südseitig lärmexponierten Grünwald-Wohnungen, deshalb die Idee der Patio-Balkone entstanden: nach oben offene Aussenzimmer, die mit 2 m hohen Brüstungen versehen an der Südfassade hängen. Sie schützen vor Lärm und dienen dem Belüften der Wohnungen. 

TEC21: Das Fenster in der Strassenfassade scheint ein weiterer Knackpunkt zu sein, der zu divergierenden Ansichten zwischen Lärmschutz und Städtebau führen kann. Das Verwaltungsgericht hat sich im Grünwald-Verfahren ausführlich zu den zwingenden Funktionen eines Fensters geäussert. Dass man ein Fenster öffnen soll, gehört scheinbar nicht dazu …

Urs Primas: Das Verwaltungsgericht hat grundlegende Überlegungen und Herleitungen formuliert, warum die Lüftungsfensterpraxis eine gültige Interpretation der Lärmschutzvorschriften ist. Das Bundesgericht ist nun  zwar anderer Meinung, aber wenn aus baurechtlichen Gründen ein bewegliches Fenster verboten werden kann, empfinde ich das als gravierende, nicht nachvollziehbare Einschränkung für die Nutzer. Ein Fenster ist ein reichhaltiges Element und nicht einfach eine Vorrichtung mit spezifischen Funktionen, die nach strenger Auslegung von Vorschriften bestimmbar sind.

Dass Anforderungen an Schalldämmwerte festgelegt werden und eine Situation herzu­stellen ist, bei der man vor Lärm geschützt wird, ist durchaus verständlich. Gleichzeitig muss aber die Freiheit gewährleistet sein, das Fenster zu öffnen. Dazu gehört die Wahl, bei offenem Fenster den Lärm zu ertragen und dafür frische Luft einströmen lassen zu können. Das Fenster ist ein traditionelles archi­tektonisches Element, das eine Beziehung zwischen innen und aussen, zwischen öffentlichem Raum und Wohnung ermöglicht. 

TEC21: Ist der Lärmschutz beispielhaft dafür, dass inzwischen viele Rahmenbedingungen für das Bauen an Verdichtungslagen zu eng gefasst sind?

Urs Primas: Die Absichten einzelner Vorschriften wie Schallschutz oder Energieeffizienz sind absolut wichtig und basieren auf ernsthaften gesellschaftlichen Anliegen. Doch der Spielraum für den Entwurf wird umso geringer, je mehr im Voraus fixiert ist. Die einzelnen Auflagen können sich zum Übermass addieren; das macht das Bauen nicht einfacher und nicht günstiger. Trotzdem muss man einen Weg finden, um mit diesen Widersprüchen umzugehen. Auf übergeordneter Ebene kann es irgendwann zur Blockade kommen, wenn raumplanerisch eine Verdichtung erwünscht ist, aber die konkrete Überbauung einer Parzelle überdeterminiert wird. Einzelne Randbedingungen inspirieren nicht per se. Gleichwohl können daraus neue Typologien entstehen.

TEC21: Welche Grundrisstypologien können als Errungenschaft der Lüftungsfensterpraxis bezeichnet werden?

Urs Primas: Da wäre sicher das Wiederauftauchen von modernistischen, eher schlanken Gebäudetypen zu nennen, obwohl das nicht die einzige Lösung ist. Zudem werden tendenziell offene Grundrisse favorisiert, die man einfach querlüften kann. Die Unterteilung in viele Zimmer schafft dagegen eher Probleme. Aktuell sind Grossraumkonzepte gegenüber einem kompakten Wohnungsgrundriss mit vielen Zimmern allerdings weniger hoch im Kurs. Eine intelligente Strategie ist auch das gemischte Nutzungsprogramm. Zwar will man auch in ruhigen Verhältnissen arbeiten; aber die gesetzlichen Anforderungen sind weniger streng als beim Wohnen. Investoren scheuen sich derzeit aber vor einem hohen Gewerbeanteil, da sich dadurch das Marktrisiko erhöht.

TEC21: Wenn der raumplanerische Wille lärmbelastete Standorte verdichten will: Führt das nicht zu sub­optimalen, prekären Wohnlagen?

Urs Primas: Lärm ist ja nicht der einzige Standortfaktor; auch beim stark belasteten «Zwicky Süd» nicht. Gebäude dürfen an grossen Strassen nicht einfach eine anonyme Fassade mit Badezimmerfenstern, Treppenhäusern oder Laubengängen zeigen. Auch an solchen Orten sollte die Architektur offen und lebendig bleiben. Allerdings ist kaum davon auszugehen, dass in dicht urbanisierten Regionen bald viel weniger Lärm verursacht wird.

Die Innovationen an der Quelle scheinen beschränkt. Trotzdem funktioniert die Logik, dem Autoverkehr exklusiv einzelne Bereiche zuzuweisen, nicht mehr. Den Wohnraum etwa mit Lärmschutzwänden komplett abzuschotten ist sehr unglücklich und schadet der Aufenthaltsqualität des urbanen Raums. Man muss akzeptieren, dass es den Autoverkehr gibt. Aber auch, dass an den Strassen gewohnt wird! Siedlungsentwicklung und Verkehrs­planung müssen da besser gegenseitig abgestimmt werden.

TEC21: Was weiss der Architekt über Lärm?

Urs Primas: Während der Erarbeitung eines Wettbewerbsentwurfs ist die Lärmabschätzung durch Experten inzwischen oft ebenso wichtig wie der Austausch mit dem Bauingenieur. Allerdings geht es dabei weniger um theoretische Aspekte der Akustik als um konkrete Modellrechnungen, um Kenntnisse der lokalen Beurteilungspraxis oder um kantonale Ausnahmeregelungen. Da der Vollzug im Lärmschutz laufend in Bewegung ist, ist die Rechts- und Planungs­sicherheit über verschiedene Projektphasen nicht unbedingt gegeben.

Zwischen den Projekten «Grünwald» und «Zwicky» hat sich ebenfalls viel verändert, etwa die Atriumregelung, mit der die Mindest­abmessung von Innenhöfen bestimmt wird. Die vom Bundesgericht abgelehnte, bislang gültige Lüftungsfensterpraxis hat verschiedene typologische Inno­vationen ausgelöst. Damit sind Vor- und Nachteile verbunden. Aber es haben sich damit eine Logik und eine Sicherheit durchgesetzt. Nun gelten plötzlich andere Regeln. Zu hoffen ist, dass sich daraus eine einheitlichere Praxis in den Kantonen ergeben wird.


Lärm-Urteil: «Nein, aber ...»

Das Bundesgericht hat die Baubewilligung für die gemeinnützige Siedlung «Am Grünwald» am nordwest­lichen Zürcher Stadtrand aufgehoben und den An­wohner-Rekurs letztinstanzlich wegen «mangelnder Eingliederung in die Umgebung» gutgeheissen.

Die Arealüberbauung trete «in keiner Weise in Beziehung zum Ortsbild und zur baulichen und landschaftlichen Umgebung», teilte das Bundesgericht Ende August mit.

Das Gemeinschaftsprojekt der Baugenossenschaft Sonnengarten (BGS), der Gemeinnützigen Bau- und Mietergenossenschaft Zürich und der Stiftung Alterswohnungen der Stadt Zürich steht daher nach rund zehnjähriger Planungsgeschichte wieder auf Feld eins.

Ob ein neues Projekt erarbeitet werden soll, klärt die Bauträgerschaft ab. Der nunmehr verworfene Ringling-Entwurf stammt von Schneider Studer Primas ­Architekten, Zürich, die 2005 den Architekturwettbewerb mit der Hofrandbebauung für 277 Wohnungen ge­wonnen hatten (vgl. TEC21 10/2007).

Nebensächlicher Streitpunkt war, ob das Bauvorhaben aus lärmschutzrechtlicher Sicht bewilligungsfähig gewesen wäre. Dass die Lüftungsfensterpraxis nicht bundesrechtskonform sei, wurde bestätigt.

Abermals hat das Bundesgericht seine ablehnende Haltung jedoch mit gros­sen Vorbehalten ergänzt: Ausnahmebewilligungen seien bei zu hoher Lärmbelastung durchaus erlaubt, falls ein «angemessener Wohnkomfort» realisiert ­werden könne.

Voraussetzung ist aber: Die Immissionsgrenzwerte sind «nicht wesentlich überschritten» und Schutzmassnahmen «nicht in städtebaulich befriedigender Weise» zu erreichen.

Konzessionen im Lärmschutz seien zudem gerechtfertigt, wenn eine Siedlungsverdichtung raumplanerisch angezeigt sei. Zu welchem Befund diese Abwägung am betreffenden Grünwald-Projekt hätte führen sollen, wird im Urteil des Bundesgerichts jedoch nicht ausgeführt.

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