Ein Schub, auch für mehr Bau­kul­tur

Entwicklungsperspektiven

Ein Gespräch mit der Urner Architektin Margrit Baumann über die räumlichen Perspektiven im Kanton, die Zentrumsentwicklung in den Gemeinden, den Umbau von alten Bauernhäusern und die Förderung der Baukultur.

Publikationsdatum
08-09-2016
Revision
08-09-2016

TEC21: Frau Baumann, der Bahnhof im Urner Kantonshauptort Altdorf soll zum Anschlussknoten an die Alpentransversale werden. Das Areal liegt aber abseits des Siedlungskerns. Was gibt es da zu leisten? 

Margrit Baumann: Der Bahnhof ist über die knapp 1.5 km lange Bahnhofstrasse mit dem historischen Kern verbunden. Diese Achse ist teilweise zwar eine schöne Allee, aber nur wenige Häuser grenzen direkt daran. Sie ist seit ihrem Bau vor über 130 Jahren nie richtig aktiviert worden. Ursprünglich ist der Bahnhof nur entstanden, weil Altdorf einen Bahnhof wollte, die Gotthardbahn brauchte dort bahntechnisch keinen. Über den genauen Standort wurde daher gerungen. Am Schluss setzte sich die Bahn mit der peripheren Lage durch und realisierte im Gegenzug die Bahnhofstrasse.

Der Bahnhof ist seither für die Siedlungsentwicklung von Altdorf ein un­wichtiges Gebiet geblieben; dort ist nichts passiert. Bisher war die Anbindung eher auf die Achse Flüelen–Altdorf–Erstfeld bezogen. Die Ost-West-Verbindung über die Bahnhofstrasse ist derzeit gar nicht wichtig. Basierend darauf hat sich daraus kein städtebau­liches Zentrum ergeben. 

TEC21: Worauf muss bei der räumlichen Entwicklung rund um den Verkehrsknoten geachtet werden?

Margrit Baumann: Begleitend zur Aussicht, den Kantonsbahnhof an den internationalen Bahnverkehr anbinden zu können, muss die Ostseite des Bahnhofs gestärkt werden. Der Platz wird zum Knoten für den öffent­lichen Busverkehr und ist zudem Entwicklungsgebiet mit Dienstleistungscharakter, das als direktes Gegenüber zum Siedlungskern zu verstehen ist. Daraus kann eine Wechselwirkung zwischen Alt und Neu ­entstehen, die den Raum dazwischen prägen soll. 

TEC21: Warum steckt der ganze Kanton derart grosse ­Hoffnungen in den Ausbau des Bahnhofs Altdorf?

Margrit Baumann: Uri hat 35 000 Einwohner. Wirtschaftlich ist ein NEAT-Halt im Kanton für die SBB als Bahnbetreiber nicht zwingend. Allerdings glauben wir an die überregionale Bedeutung dieses Bahnknotenpunkts. Daher soll auf der Westseite Platz für die Anbindung an den Bus-Fernverkehr innerhalb des Kantons­gebiets und zwischen Uri, Nid-, Obwalden und Luzern zur Verfügung gestellt werden. Ebenso ist ein Parking für den Individualverkehr geplant.

Diese Nachbarn würden mit dem Kantonsbahnhof Altdorf jedenfalls eine nähere Zustiegsvariante zur NEAT erhalten als mit dem Sackbahnhof in Luzern oder in Arth-Goldau. Das Gebiet um den Bahnhof würde durch die kan­tons­­interne und überregionale Verkehrsanbindung gestärkt. Es zeigt sich ja wiederholt, wie wichtig solche Schnittstellen sind, um das Potenzial für eine Siedlungsentwicklung auszuschöpfen.

TEC21: Sie haben an der Testplanung für das Bahnhofsareal mitgewirkt. Welche Inputs sind für die Nutzungs­planung zu berücksichtigen?

Margrit Baumann: Wir haben in einem Team aus Verkehrs­planern, Landschaftsarchitekten und Architekten mitgearbeitet, wobei Erstere federführend waren. Wir haben drei Szenarien, das heisst unterschiedliche Entwicklungsstrategien aufgezeigt: eine Neustadt auf der Westseite des Bahnhofs, eine geteilte Stadt dies- und jenseits der Bahnlinie sowie eine Mischform, die den jetzigen Bahnhofplatz auf der Ostseite der Gleise aktivieren soll.

Letztere kann den bestehenden Kern, wie bereits betont, stärken und lässt gleichzeitig die Entwicklungsoption für eine Neustadt rund um den Kantonsbahnhof offen. Die Gedanken dahinter sind: Die Neustadt soll nicht etwas Eigenes, Isoliertes werden und allenfalls sogar zur Entleerung des Dorfkerns beitragen. So würde die Siedlungs­entwicklung von Altdorf nur verlieren. 

TEC21: Werden auch Bedenken über die anstehende Entwicklung rund um den Bahnhof Altdorf geäussert?

Margrit Baumann: Nein, im Gegenteil. Das ist die grosse ­Hoffnung in den NEAT-Anschluss: Eine bessere Erschliessung schafft die Möglichkeit, dass Leute von aussen nach Uri ziehen. Denn die Leute wandern nicht nur aus dem Oberland und den Seitentälern ab. Junge Leute kommen nach dem Studium gar nicht mehr zurück. Und unabhängig vom NEAT-Halt darf der Basistunnel nicht dazu führen, dass das Oberland zwischen Erstfeld und Göschenen, etwa mit der Stilllegung der Bergstrecke, abgehängt wird.

Es bringt aber tatsächlich nichts, wenn nun einfach mehr gebaut würde. Wir denken an eine qualitativ hochstehende Entwicklung. Es muss eine Identität geschaffen werden, und dafür braucht es eine gute Baukultur. Dazu beitragen kann die öffentliche Hand direkt, wenn die Entwicklung über Wettbewerbsverfahren geschieht, etwa im Altdorfer Bahnhofsgebiet. 

TEC21: Was hat die Testplanung, die vor drei Jahren durchgeführt wurde, inzwischen konkret ausgelöst?

Margrit Baumann: Die Gemeinde Altdorf hat einen Gestaltungsplan festgesetzt, der für das Bahnhofsquartier eine Zone vorsieht, in der bis zu 24 m hohe Gebäude mög­lich sind. Der Entwicklungsraum soll massiv dichter überbaut werden als bisher. Nun sind private Inves­toren gesucht. Wichtige Fäden aber haben der Kanton selbst und die SBB in der Hand. Letztere haben gewisse Investitionszusagen gemacht. Zum einen soll damit die Bahninfrastruktur ausgebaut werden. Zum anderen geht es um das Bahnhofsgebäude. Offen ist jedoch, ob ein Ersatzneubau oder eine einfachere bauliche Erweiterung realisiert werden soll.

TEC21: Und wie wird der städtebaulich hochwertige Entwicklungsprozess in Gang gesetzt?

Margrit Baumann: Für das Bahnhofsgebiet ist ein Wettbewerb geplant. Dass wichtige Bauten in einem solchen Verfahren ausgewählt werden, hat in Altdorf eine gewisse Tradition. Bei dieser Aufgabe ist das be­sonders wichtig, weil es hier um Identitäten und um ein Zusammenspiel zwischen Alt und Neu geht. Ein modernes Outfit genügt nicht; auch die Rückkoppelung muss eine gewisse Kraft ausstrahlen können. Denn beim Anknüpfen an bestehende Strukturen ist das kollektive Gedächtnis zu bewahren, wie von Aldo Rossi formuliert. Auf dieser Basis soll die Entwicklung stattfinden. Das Bestehende ist ein Mehrwert, den Uri an vielen Orten noch immer zu bieten hat.

TEC21: Welchen Mehrwert meinen Sie?

Margrit Baumann: Von den 20 Urner Gemeinden sind drei Viertel im ISOS verzeichnet und verwalten daher Siedlungskerne von nationaler Bedeutung. Diese intakten Dorfkerne blieben erhalten, weil die 1980er-Jahre bei uns nicht derart massive Veränderungen gebracht haben wie beispielsweise im Mittelland. Noch vor zehn Jahren ist fast nichts mehr gelaufen. Bauen und Wohnen war und ist an vielen Orten immer noch ­uninteressant. Deshalb sind so viele gute Dorfkerne erhalten geblieben, die eine Identität darstellen. ­Damit müssen wir arbeiten und uns damit ausein­ander­setzen, wie die Kerne zu stärken sind. Fakt ist, dass viele Dorfzentren in Uri immer leerer werden.

TEC21: Sie haben sich mit dem «Bauen gegen die Abwan­derung» mehrfach exponiert. Wie wird die negative Entwicklung gestoppt, wenn die Investoren kaum Schlange stehen?

Margrit Baumann: Im Vordergrund stehen sowieso Qualitäten und nicht die Rendite. Das Prinzip ist, tote Gebäude im Kern eines Dorfs zu aktivieren. Jeweils mit anderen Mitstreitern zusammen konnte ich derartige Liegenschaften erneuern und die vorhandenen Qualitäten erhalten. Grundvoraussetzung ist eine Architektur mit schonenden Eingriffen, die sich in den Bestand integrieren will.

In Bürglen, oberhalb von Altdorf, war es eine alte Hofstatt mit Haus und Stall, die selbst Schutzobjekt ist und im geschützten ISOS-Kern steht. Der Umbau und die Umnutzung haben Zeichen gesetzt, dass man alte Bauernhäuser zu etwas Zeitgemässem weiterführen kann. Solche Bauaufgaben werden im Kanton nicht länger gescheut. Dank der Umnutzung des Stalls zum Wohnhaus ist die Verdichtung im Dorfkern gelungen.

TEC21: Wie setzt man dies architektonisch um, zumal Bauernhäuser oft klar gegliedert sind und im Ausgangszustand ein karges Bild abgeben können?

Margrit Baumann: Traditionelle Themen wie das Steildach sind faktisch gegeben; aber die Denkmalpflege muss Veränderungen gestatten, damit beispielsweise eine Lukarne eingebaut werden kann. Aber es geht auch darum, eine moderne Interpretation der Holzfassade zu wagen. Im Innern lassen sich zudem moderne, grosszügige Räume entwickeln. Im Vergleich zu Neubauten besitzen Bauernhäuser zwar niedrigere Raumhöhen, doch im Gegenzug sind die Flächen gross­zügiger.

Zudem bietet die Befensterung über Eck eine grosszügige natürliche Belichtung. Und weil die meisten Bauernhäuser bereits zwei Eingänge besitzen, lassen sich diese in zwei Wohnungen mit separater Erschliessung aufteilen. Das Weiterführen der traditionellen Bauweise und der äusseren Erscheinung ist aber essenziell: So besteht die Hofstatt in Bürglen zwar nun aus zwei Wohnliegenschaften, doch das alte Haus und der umgenutzte Stall sind als Einheit von zwei Architekturbüros erneuert worden.

TEC21: Wie war die Konstellation in Wassen, damit da die Zentrumsentwicklung möglich wurde?

Margrit Baumann: Es braucht Leute mit Engagement. Am Anfang der Entstehungsgeschichte beim Rothus von Wassen stand eine private Initiative, um den tristen Kern von Wassen wiederzubeleben. Es handelte sich um eine leer stehende Liegenschaft. Und in den Häusern rechts und links davon wohnte auch niemand mehr. Der konkrete Anstoss kam von der ehemaligen ­Gemeindepräsidentin, die selbst ein Geschäft im Zentrum betreibt. Dies löste eine gemeinsame Dis­kussion über die Handlungsoptionen aus: Was kann man machen, damit der Kern nicht ganz kippt?

TEC21: Und wie lautet die Antwort?

Margrit Baumann: Wir haben nach einer Nutzung gesucht, die zu einer Synergie mit dem Bestand führt. Die Idee war, Alterswohnungen zu realisieren, um damit Wohnraum für junge Familien frei werden zu lassen. Wir mussten aber eine eigene Stiftung gründen, weil anfänglich kaum jemand an ein Gelingen dieses Projekts geglaubt hat. Wesentlich war die Hartnäckig­keit der ehemaligen Gemeindepräsidentin. Die Strategie ist aufgegangen. Die Schulden konnten inzwischen abbezahlt werden. Wesentlich aber war: Wir konnten den preisgünstigen Budgetrahmen einhalten, sodass die Miete jeder Alterswohnung nur 1200 Franken beträgt.

TEC21: Welchen Nutzen bietet das Projekt dem Dorfzentrum?

Margrit Baumann: Nicht weit davon entfernt steht das Altersheim von Wassen, für das eine ehemalige Hotel­liegenschaft umgenutzt worden ist. Die Bewohner aus dem Rothus können nun beispielsweise im Altersheim essen und den Wäsche- und Notfallservice nutzen. Die erneuerte Liegenschaft bietet zudem ein Sitzungszimmer, ein Gästezimmer und ein Bad, das der Gemeindebevölkerung vermietet wird. Wir hätten gern einen Dorfladen oder einen Kiosk beherbergt; aber dafür gab es keine Nachfrage. Hingegen wird unsere Parkieranlage von Anwohnern gern mit­benutzt. So können wir etwas zur Attraktivität des Dorfzentrums beitragen. 

TEC21: Macht dieses Beispiel Schule?

Margrit Baumann: Ja, ja, ich denke schon. In Seedorf wurden im ehemaligen Kloster Alterswohnungen eingebaut. Im Dorfkern von Flüelen soll ein vergleichbares Projekt, kombiniert mit der Umnutzung einer Hotelliegenschaft, realisiert werden. Und in Bauen am Urnersee läuft aktuell ein Studienauftrag, an dem unser Büro teilnimmt: Dort soll ein ehemaliges Bürgerbauernhaus im Dorfkern erneuert und mit preisgünstigen Gemeindewohnungen für Familien ausgestattet werden. Trotzdem bleibt die Grundfrage für viele der kleinen Gemeinden, wie attraktiv sie als Wohnorte für junge Leute sind. Wir sind mit der Abwanderung beschäftigt. Das ändert die NEAT-Eröffnung kaum.

TEC21: Wie beurteilen Sie die gegenläufige Entwicklung im Tourismusresort Andermatt? Droht dort das Wachstum auszuufern?

Margrit Baumann: Andermatt soll sich sicher nicht so entwickeln wie Davos oder Flims. Das Konzept des Tourismus­resorts baut darauf, die Landschaft und den bestehenden Dorfkern zu erhalten. Klar ist auch, dass dabei Bedürfnisse aufeinanderstossen zwischen der Forderung nach maximalem Luxus und dem Wunsch nach intakter Idylle. 

Diese Wahrnehmungskonflikte gibt es: Städter betrachten eine Brache wie Uri bevorzugt als Erholungsraum. Doch die Leute vor Ort wollen nicht nur den Verkehr und die Infrastruktur ertragen, sondern in ihrer Entwicklung auch davon profitieren. Von den Kantonen Tessin oder Graubünden können wir zum Teil lernen, wie sich die Verbindung des kollektiven Gedächtnisses mit der modernen Welt zur Stärkung der Baukultur nutzen lässt.


Entwicklungsareale

Das Bahnhofsgebiet Altdorf und das Gewerbeareal «Eyschachen» südlich davon sind die zentralen Elemente des Entwicklungsschwerpunkts Urner Talboden (ESP UT). Für beide Areale sind städtebauliche Test- und Masterplanungen durchgeführt worden, deren Inhalte und Grundsätze bereits in eine formale Planungsgrundlage (Quartiergestaltungspläne) überführt werden konnten.

«Eyschachen» ist rund 12 ha gross; darauf soll, ergänzend zum geschützten Getreidemagazin, eine dichte Be­bauung mit Industrie- und Dienstleistungsgebäuden und bis zu 2500 Arbeitsplätzen entstehen.


Alterswohnungen Rothus, Wassen

Umbau einer Zentrumsliegenschaft zu einem Wohnhaus mit Alterswohnungen in Wassen; Architektur: Margrit Baumann; Reali­sierung: 2005/2008.


Hofstatt zur Stiege, Bürglen

Gestaltungsplan für das Hofstatt-Ensemble; Erneuerung Haus zur Stiege, Umbau Stall und Parkierung mit Gartenanlage; Architektur: Margrit Baumann, Altdorf / loeligerstrub, Zürich; Realisierung 2000/2003

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