Zwi­schen Tra­di­ti­on und Uto­pie

Die ägyptischen Lehmstädte New Gourna und New Baris heute

Die ägyptischen Lehmstädte New Gourna und New Baris sind exemplarisch für den gegenwärtigen Diskurs um globales und lokales Bauen. Ihr Architekt Hassan Fathy nahm zentrale Punkte der aktuellen Diskussion vorweg, etwa das Bauen mit ökologischen, lokalen Materialien, die Partizipation der zukünftigen Bewohner und eine modernisierte vernakuläre Architektur. Trotz dieser Umsicht sind beide Stadtprojekte infolge sozialer, politischer und wirtschaftlicher Begebenheiten – die bis heute vielerorts auf der Welt die Etablierung alternativer Bauweisen behindern – gescheitert.

Publikationsdatum
11-07-2013
Revision
30-10-2015

Etwa 100km westlich von Luxor liegt das verschlafene Oasenstädtchen New Baris. Wäre es in den 1960er-Jahren nach den pharaonischen Plänen des ägyptischen Präsidenten Gamal Abdel Nasser gegangen, so wäre der Ort im Gouvernement New Valley heute eine grosse Stadt in einem neuen, schönen Niltal in der Westlichen Wüste. Nasser verfolgte seinerzeit das ambitionierte Ziel, für rund 10 % der ägyptischen Bevölkerung im New Valley eine neue Heimat zu schaffen. Das Projekt nahm Mitte der 1960er-Jahre seinen Anfang, als ­Nasser beabsichtigte, den Nasser-See über einen 360km langen Kanal mitten durch die Wüste mit der Oasengruppe um New Baris zu verbinden.

Der Architekt Hassan Fathy (siehe Kasten unten) erhielt den Auftrag zum Bau von New Baris, der ersten von fünf ­geplanten Satellitenstädten. Deren Bewohner sollten die landwirtschaftlichen Grossprojekte, die ökonomische Grundlage des Tals, bewirtschaften. Fathy verdankte den Auftrag seiner Erfahrung, die er 20 Jahre zuvor beim Bau der Stadt New Gourna1 bei Luxor erworben hatte. Nicht zuletzt versprach sich die Regierung eine kostengünstige städtebauliche Lösung.

Ein Baumaterial für Ägypten

Fathy begann wie bei ähnlichen heutigen Projekten mit dem Bau einer Werkstätte für Lehmziegel, die das Baumaterial für die neue Stadt produzierte. Es folgten ein Markt mit Gemeinschaftshaus, zwei Verwalterhäuser und ein Wächterhaus, eine Busstation und eine Koranschule. Bedeutend für die Architektur, die aus weiterentwickelten traditionellen Handwerkstechniken hervorging, war das Studium der wenigen umliegenden alten Wüstendörfer.

In die Planung von New Baris floss Fathys Wissen über Lehmbauten und klimagerechte Architektur ein. Durch eine spezielle Lehmmischung mit Sand anstelle von Nilschlamm strebte er die Herstellung eines landesweit brauchbaren Baumaterials an. Bemerkenswert ist auch die natürliche Klimatisierung der Markthalle: Die Umgebung hat Extremtempera­turen von bis zu 50 Grad – doch durch architektonische Mittel wie doppelte Decken mit Malkafs2 und darunter gehängte, wassergekühlte Strohmatten erreichte Fathy im Gebäudeinnern eine Temperaturreduktion von bis zu 20 Grad.

Nach dem Vorbild der alten Wüstendörfer plante er entgegen den Gestaltungsregeln der modernen Architektur enge Gassen und Häuser mit bis zu 50cm dicken Lehmwänden und nur wenigen Öffnungen. Das war aussergewöhnlich, denn die Prinzipien des modernen Bauens wurden damals in Afrika, ähnlich wie heute, bei grösseren öffentlichen Bauprojekten uniform umgesetzt – unabhängig davon, ob sie in den Tropen oder in der Wüste lagen.

Gleiches Konzept, unterschiedliche Entwicklung

Nach fast einem halben Jahrhundert des Nichtgebrauchs sind die Bauten von New Baris in ausgezeichnetem Zustand. Wie eine Geisterstadt wirkt die Anlage, die niemals bezogen wurde. Die Gründe dafür sind vielfältig. Bis heute hält sich hartnäckig das Gerücht, die Ägypter hätten sich vor den Bauten gefürchtet, weil die Konstruktionsweise der Gewölbe von nubischen Gräbern übernommen worden sei.

Fathy war jedoch der Meinung, dies sei eine Ausrede der Regierung, um sein Werk in Verruf zu bringen. Der wahre Grund war wohl, dass die Lehmbauten der für das New-Valley-Projekt zuständigen, auf moderne Technologien ausgerichteten Entwicklungsbehörde letztlich doch nicht prestigeträchtig genug waren. Zum anderen unterbrach 1967 der Sechstagekrieg gegen Israel die Bauarbeiten in New ­Baris für Jahrzehnte. In einem Vortrag Fathys3 ist zu lesen: «Der Schlüssel zur Evaluation eines Bauprojekts liegt in der Frage: Ist es für die Menschen oder für etwas anderes? Wenn es für Menschen ist, dann können wir diskutieren. Wenn es für Politik, Ökonomie etc. ist, wird es keine Diskussion geben, weil alles gemacht werden kann.»

Fathys Anspruch, für elementare menschliche Bedürfnisse zu bauen, ist aber ein Idealfall, der bei technisch-industriellen Projekten nur selten anzutreffen ist. Das zeigen die Beispiele von New Gourna und New Baris. Da sie aus einem ähnlichen nachhaltigen Grundkonzept hervorgingen, sind ihre heutigen, ganz unterschied­lichen Erscheinungsbilder vor allem auf ihre Geschichte nach dem Bau zurückzuführen. Die ausserordentliche Architektur von New Baris verdankte ihre Entstehung dem Assuan-Staudamm, und nun ist ihre Zukunft von dem umstrittenen Scheich-Zayid-Kanal abhängig (siehe Kasten unten).

Ganz anders sieht es im belebten New Gourna bei Luxor aus4. Die von Hassan Fathy sorgfältig gestaltete Siedlung hat sich durch Partizipation ihrer zukünftigen Bewohner entwickelt. Heute sind die einzelnen Bauten, die Anlage, ihre Materialisierung und die Grundlagen für das Zusammenleben bis fast zur Unkenntlichkeit transformiert. Einzelne Lehmhäuser wurden durch Betonbauten ersetzt oder mit Aufstockungen versehen.5 Über die Jahre haben die Bewohner das Städtchen ihren Bedürfnissen, Vorstellungen und Möglichkeiten entsprechend mit Zement, Beton und Kunststoff geflickt, ergänzt und verändert. New Gourna ist nicht wie New Baris von aussen bedroht, sondern wird von innen heraus unterwandert – durch konventionelle «moderne» Materialien und Vorstellungen ­davon, was modern ist.

Zukünftig gesamtheitlich denken

Das Schicksal der beiden Städte ist exemplarisch für die Entwicklung von Bauten, die in ­Afrika durch traditionelle Bauweisen entstanden sind: Viele werden im Lauf der Zeit durch kommerzielle Materialien transformiert, andere sind in ihrem Aufbau und ihrem Fort­bestehen abhängig von Grossprojekten.

Dahinter stehen jedoch nicht nur politische und wirtschaft­liche Aspekte, sondern auch die Vorstellungen eines Grossteils der Menschen im Land, wie Wohlstandsarchitektur auszusehen hat – nämlich massgebend geprägt vom Bild der europäischen Moderne. Dennoch verlockt viele Planer die Idee, durch Lehm-, Bambus- oder andere alternative Bauweisen eine Umgebung im Einklang mit der Umwelt und ohne schädliche Einflüsse zu gestalten. Zwar mögen die Unversehrtheit vieler Landschaften, die oft naturnahe Lebensweise der Menschen und die im Vergleich mit Europa relativ direkte Umsetzbarkeit von Projekten in Städten zur Annahme verleiten, in Afrika seien Bauvorhaben einfacher realisierbar als hierzulande. Doch gerade dort knüpfen die Menschen grosse Hoffnungen auf ein ­besseres Leben an moderne Materialien und Technologien.

Es ist deshalb illusorisch – und wiederum eurozentrisch – anzunehmen, dass sich die Erkenntnisse des nachhaltigen Bauens in Afrika passender und schneller etablieren liessen als in Europa. Zweifellos steht einer ökologisch gestalteten Umwelt, wie sie zum Beispiel der Lehmbau mit sich bringt, hohe Priorität zu. Angesichts der geschilderten Realitäten müsste aber ein Umdenken in weiten Bevölkerungs- und Expertenkreisen erfolgen, damit sich zeitgenössische alternative und kommerzielle Bauweisen sinnvoll ergänzen, statt als Gegensätze ­begriffen zu werden.

Eine solche Strategie, die auch neue wirtschaftliche Verknüpfungen und Forschungsfelder eröffnen würde, müsste von den einzelnen Ländern und von der Entwicklungszusammenarbeit getragen werden. Gemeinsam liessen sich nicht nur traditionelle Bauweisen zu modernen alternativen Technologien entwickeln, sondern könnten in ­Zukunft auch industriell-technische Bauweisen, wie sie beim Kanalbau im Rahmen des ­fortgeschrittenen New-Valley-Projekts (siehe Kasten) angewandt werden, eine notwendige nachhaltige ­Anpassung erfahren.

Hassan Fathy (1900–1989)
Hassan Fathy wurde in Alexandria geboren. Er diplomierte 1926 an der Universität in Kairo in Architektur. Insbesondere was den Lehmbau betrifft, gilt er als Pionier in der ­Weiter­entwicklung traditioneller Architektur.
1980 erhielt er den Aga Khan Architekturpreis. In dem Buch «Architecture for the Poor» beschreibt er seine Erfahrungen beim Bau von New Gourna in Luxor, das heute zum UNESCO-Weltkulturerbe gehört. Um kostengünstige Häuser für die Armen zu erstellen, führte er die Gewölbetechnik der Nubier in Ägypten ein. Mittels ungebrannter Lehmziegel lassen sich Dächer – sonst das teuerste Element eines Hauses – günstig ­erstellen. Die modern-tra­ditionalistische Sichtweise Fathys steht seit Langem im Gegensatz zur klassischen Moderne. Sie findet jedoch an den meisten Architekturfakultäten in Europa nur wenig Beachtung. Auch in den gegenwärtigen Diskursen um globales und lokales Bauen wird Fathy nur selten aufgeführt.
Das New-Valley-Projekt
Vor der Eröffnung des Assuan-Staudamms (1970) entdeckte man 1962 in der Westlichen Wüste riesige Wasservorkommen. Die nubische Grundwasserleiter ist eines der grössten fossilen Reservate der Welt. Da fossiles Wasser nicht erneuerbar ist, ist seine Nutzung umstritten. Die ägyptische Regierung unter Präsident Nasser plante, ein «zweites Niltal» anzulegen, das sich vom Nasser-See über einen Kanal bis nach New Baris erstrecken sollte. Dieses bislang grösste Wüstenbegrünungspro­jekt soll dem Bevölkerungsdruck auf das Niltal entgegenwirken und für rund drei Millionen Menschen eine neue Heimat werden. Der Sechstagekrieg gegen Israel im Juni 1967 stoppte die Planungen; erst Präsident Mubarak nahm ab 1997 die Bauarbeiten wieder auf. Da die ägyptische Regierung zurückhaltend informiert, sind Zahlen widersprüchlich. Bis 2020 soll das Projekt – vor allem der Kanal, der von Scheich Zayid aus den Vereinigten Arabischen Emiraten finanziert wird – abgeschlossen sein. Die von Saudi-Arabien finanzierte ­Mubarak-Pumpstation hat eine Kapazität von 1.2 Mio. m3/h Wasser und versorgt gegenwärtig je nach Informationsquelle zwischen 21.000 und 120.000 ha Wüste. Ziel ist es, 2340km2 Wüste in Ackerland zu verwandeln. Die Probleme sind vielfältig – unter anderen verdunstet ein Teil des Wassers aus den offenen Kanälen, und die Böden drohen zu versalzen. Auch zweigt Ägypten mehr See­wasser ab, als ihm von der Ländergemeinschaft um den See zugesprochen wird. 

Anmerkungen
1 Siehe «New Gourna: Welt­kulturerbe in Gefahr».
2 Malkaf: Windfang, vertikales Lüftungselement, ursprünglich aus Persien stammend.
3 Rural Habitat, In the Arab Countries, Cairo ­Seminar for Society of Egyptian Architects, UIA Working Group Habitat, 6.–11. 11. 1977
4 Bauherr von New Gourna war das Ministerium für Altertümer, das die Bewohner des alten Dorfs Gourna Mitte der 1940er-Jahre umsiedeln wollte. Die Bewohner sollten davon abgehalten werden, die nahe gelegenen altägyptischen Gräber zu ­plündern. In der Gemeinde bildete sich eine Ver­einigung von Dorfältesten, die die Umsiedlung verhindern wollten, weil sie um ihre Lebensgrundlage fürchteten. 

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