Kla­re For­men, stren­ge Li­ni­en

Das Zisterzienserkloster Loccum nahe Hannover eröffnete kürzlich seine wissenschaftliche Spezialbibliothek. Dem Architekturbüro pape + pape ist es gelungen, den Neubau behutsam in die bestehende Anlage einzufügen. Verbindendes Element ist die Sandsteinfassade.

Publikationsdatum
05-11-2021

Zisterzienser und Zisterzienserinnen nennen sich die Mönche bzw. Nonnen, die in der Tradition der Gründer des Klosters Cîteaux ein Leben des Gebets, der Lesung und der Arbeit führen wollen. Konstruktive ­Prä­zision und die typologische Strenge kennzeichnen die zisterzien­sischen Kloster­bauten. Aber auch ein Verständnis von Architektur als kultureller Kollektivleistung spiegeln die Bauten dieses strengen Ablegers des Benediktinerordens wider: Ihr Modul ist nicht der Backstein, dessen Format darauf angelegt ist, dass ihn ein Handwerker allein vermauern kann, sondern der gewaltige Steinblock, der nur im Kollektiv bewegt werden kann.1

1163 gründeten Zisterziensermönche im deutschen Niedersachsen zwischen der Weser und dem ­Binnensee Steinhuder Meer das Kloster Loccum. Es ist bekannt für ­seine gut erhaltene, bis in die spätromanische Zeit zurück­reichende Bauanlage mit Kirche, Kreuzgang und Wirtschaftsgebäuden. Besonders beeindruckend ist die Stiftskirche aus dem 13. Jahr­hundert. Das Kloster verfügt über eine umfangreiche Sammlung an wertvollen historischen Schriften, die bisher in verschiedenen Räumen innerhalb der Klostermauern aufbewahrt ­wurden.

Abt Stracke (1600–1629) erwähnte für das Jahr 1238 erstmals die Loccumer Bibliothek in seiner Chronik. Er berichtet, dass sich 234 Bände im Besitz des Klosters befänden, beschreibt, wie sie in zwei Regalen angeordnet waren, und nennt den zugehörigen Raum «ein lustig schön ­Gemach». In den folgenden Jahrhunderten wuchs der Bestand auf heute 120 000 Bücher an, darunter 21 kostbare Handschriften aus dem Mittelalter.

Der Neubau einer Bibliothek sollte nun helfen, die wertvollen Schriften standesgemäss unterzubringen und einer modernen Ausbildungsstätte Platz zu bieten. Denn das Kloster ist auch ein Seminar für angehende Vikarinnen und Vikare der Hannoverschen Landeskirche. Diese entschied sich 2016, einen Wettbewerb auszuloben. Die Architekturschaffenden von pape + pape aus Kassel und Hannover setzten sich mit ihrem Entwurf gegen 19 weitere teilnehmende Büros durch. Die Anordnung der Räume und der Übergang vom historischen Kloster zum Neubau hätten die Jury überzeugt, hiess es seinerzeit.

Den Charakter des historischen Baus aufgreifen

Inzwischen ist der Bibliotheksneubau fertig, mit viel Holz und Glas und einer Natursteinverkleidung. Er schliesst sich am Ostflügel der Anlage an die bestehenden denkmalgeschützten Gebäude an. Dazu wurde der Prendelbau rückgebaut. Jan Wilhelm Prendel (1905– 1992) leitender Ministerialdirigent in der Hochbauverwaltung des Finanzministeriums im Ruhestand, hat in den 1990er-Jahren den Ostflügel um einen ­Bibliotheksanbau erweitert, der aber im Hinblick auf seine Baufigur eher bedarfsorientiert als auf die ­Ganzheitlichkeit der Klosteranlage geplant wurde. Der Umgang mit diesem Gebäude – Erhalt, Umbau, Abbruch – war für den Wettbewerb freigestellt.

So ergab sich die Chance, dem Kloster seinen ursprünglichen Grundriss zurückzugeben. Bei archäologischen Grabungen zeigte sich nämlich, dass die Bib­liothek dort steht, wo sich bis ins späte 18. Jahrhundert die «Frateria», der Arbeitsraum der Mönche, befand. Weil unter dem Fundament die Mauerreste des mittelalterlichen Vorgängerbaus liegen und ein gemauertes Kanalbauwerk das Grundstück quert, wurde der Neubau auf Pfählen gegründet.

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Das Tragwerk des Gebäudes ist eine Stahlbetonkonstruktion. Ein Grossteil der Bauteile wurde in Sichtbetonqualität hergestellt. Aufgrund der hohen Nutzlasten der Archive von bis zu 15 kN/m2 und Spannweiten von 10.70 m sind die Decken als Trägerrost ausgeführt. Das Dachgeschoss wurde als rahmenartiges Faltwerk mit Sparrendach ausgebildet.

Der moderne Charakter des zweigeschossigen Neubaus bildet mit den Konturen des angrenzenden Bestandsbaus ein harmonisches Ganzes. «In seiner Längenentwicklung orientiert sich der Baukörper am gegenüberliegenden Konventgebäude, dessen südliche Gebäudeflucht er aufnimmt und so eine klar gefasste rechteckige Innenhoffläche freigibt», erläutert Architekt Tore Pape. Zu diesem Innenhof – Priors Garten – öffnet sich auch der witterungsgeschützte Haupt­eingang der Bibliothek. Im Innern kontrastieren helle Eichenholzoberflächen mit den konstruktiven Sichtbetonflächen. Die einmündenden Aussenwände des denkmalgeschützten Refektoriums, das heute als Veranstaltungssaal genutzt wird, und des Slaphus, dem ehemaligen Schlafraum der Mönche, wurden freigelegt und in das Foyer integriert.

Die Bauherrschaft wies bereits in den Wett­bewerbsunterlagen darauf hin, dass das Einhalten der Luftfeuchte für die wertvollen Schriften wichtiger sei als die Temperatur. Zudem wollte sie aus wirtschaftlichen und ökologischen Gründen auf eine aufwendige Klimatechnik verzichten. In den beiden Obergeschossen befindet sich nun je ein Magazinraum zum Schutz der kostbaren Bücher. Für die besonders sensiblen ­Objekte wählten die Architekten eine Raum-in-Raum-Lösung: In den Magazinraum im 2. Obergeschoss ­wurde ein ca. 6 m2 grosser Klimatresor eingestellt.

Verbindendes Element: Natursandstein

Das Bruchsteinmauerwerk der Bestandsgebäude ist aus Münchehägener Sandstein aufgebaut, der aus der unmittelbaren Umgebung des Klosters stammt. Die verbliebenen Vorkommen reichten aber nicht, um hiermit neue Fassadenflächen auszuführen. Ein anderer regionaler Sandstein war zwar in der engeren Wahl, kam aus Kostengründen aber nicht zum Zug. Schlussendlich entschied sich die Bauherrschaft für den Bucher Sandstein aus dem rund 400 km entfernten Bamberger Natursteinwerk: ein heller Stein, der in Beschaffenheit und Farbe nah an das Original herankommt.

Für die Fassade des Neubaus wählten die Architekten ein Schichtmauerwerk. Die Bauweise wirkt durch die sich wiederholenden Quadergrössen und einheitliche Fugenbreiten gradliniger als der Bestand. Es kamen drei verschiedene Höhenformate zum Einsatz: 15, 20 und 25 cm, die mit Steinlängen von 30 bis 50 cm kombiniert wurden. Die Natursteine haben eine Tiefe von 9 bis 12 cm. Das Standardmauerwerk wurde ­konventionell gesägt und die Vorderkanten der Steine gespalten, um die raue Anmutung zu erhalten. Die ­gespaltene Aussenseite hat eine Tiefe von bis zu 3 cm.

Die ­Architekten legten die Formate und die Verlegeart der Steine im Voraus fest. Die Farbfolge jedoch überliess man dem Zufall. «Die Farbe bzw. die Lage der einzelnen Steine im Verbund war frei. Es gab eine hellere und eine dunklere Sortierung, die so eingebaut wurden, wie sie aus dem Steinbruch kamen», sagt ­Philipp Nüthen, dessen ausführende Firma für die ­Sonderanfertigungen verantwortlich ist. Gerade für die Fensterlaibungen oder die Ortgänge am Giebel war eine Vielzahl von Formen notwendig und die maschinelle Vorfertigung zeit- und kostensparend. Die Steine wurden zunächst in 3-D gezeichnet und aufgrund ihrer Dreidimensionalität mit einer CNC-Fräse bearbeitet. Wegen der unterschiedlichen Art des Herstellungsverfahrens – diese Steine mussten von Hand nachbehauen werden, um die raue Oberfläche zu erhalten – haben sie eine erhabenere Oberfläche als das Fassadenmauerwerk. Das führt zu der ornamentartigen Betonung der schrägen Giebelabschlüsse.

Die ausführliche Version dieses Artikels ist erschienen in TEC21 35/2021 «Gehauen, gemeisselt, poliert».

Bibliothek des Predigerseminars im Kloster Loccum

 

Bauherrschaft: Evangelische Landeskirche Hannover

 

Architektur: pape + pape architekten, Kassel, Hannover, Berlin

 

Tragwerksplanung: Drewes + Speth, Hannover

 

Natursteinfassade: Philipp Nüthen Bau und Denkmal, Bad Lippspringe

 

Freiraumplanung: Wette & Küneke, Göttingen

 


Daten

 

Wettbewerb: 2016

 

Fertigstellung: 10/2021

 

Baukosten: 7 Mio. Euro

Anmerkung

 

1 Der französische Architekt, Stadtplaner und Schriftsteller Fernand Pouillon schrieb das Buch «Les Pierres sauvages». Es ist verfasst aus der Sicht eines Zister­ziensermönchs und Baumeisters des 12. Jahrhunderts und dokumentiert die Begeisterung Pouillons für die konstruktive ­Präzision und die typologische Strenge der zisterzien­sischen Klosterbauten. In TEC21 48/2016: «Ar­chi­tek­tur­kreuz­fahrt 2016: Me­di­ter­ra­ne Mo­der­ne», «Die Stadt als Hintergrund» von Dominik Fiederling.

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