Ta­pe­te von 500 Ton­nen

Das Badener Bäderquartier hat wieder eine öffentliche Therme. Neun Jahre nach der Schliessung von Otto Glaus’ skulpturalem Betonbau säumt nun eine 160 Meter lange Natursteinmauer den Limmatuferweg.

Publikationsdatum
31-10-2022

Aus der Ferne betrachtet trägt die Therme Ockergelb. Erst aus der Nähe eröffnet sich das reichhaltige Spiel der Farben. Dann sind die teilweise kontrastierenden Rosatöne und die feinen weissen Adern in der Gesteinsoberfläche ablesbar. Die Stelle in den Bergen um Verona, wo diese über Jahrtausende entstandene Farbigkeit erscheint, haben Architekt und Produzent ausgesucht.

In dieser Gegend kennt Mario Botta die Natursteinvorkommen von früheren Projekten. Den gelb bis rosa gefärbten Marmor mit dem klingenden Namen «Gialletto di Verona» (ital.: giallo = gelb) hat er bereits für das Teatro der Architekturschule in Mendrisio ­verwendet, dort aus einer Steinlage mit hochgelber Färbung und ergänzt mit weissen Schichten. Für die Residenza Cittadella in Lugano wählte er eine rosa dominierte Lage aus demselben Steinbruch. An der Fassade der «Therme Fortyseven», benannt nach der Wassertemperatur der Thermalquellen im Badener ­Bäderquartier, dominiert wieder Gelb: Ockergelb im vielfarbigen Spiel.

Hunderte von Tonnen des Gialletto di Verona wurden aus Venetien in den Kanton Aargau geliefert: 500 für die Fassade und 200 für die Sockelmauer. Viele Presseberichte haben den ockergelben Stein der neuen Therme mit dem weicheren Prunstein, der Pietra della Lessinia aus den Lessinischen Bergen verwechselt. Der ockergelb-vielfarbige Gialletto di Verona wurde nicht nur wegen seiner besonderen Farbigkeit, sondern auch wegen seiner Härte ausgewählt: Er gilt als sehr widerstandsfähiger Marmor und soll den Umwelteinflüssen des heissen, mineralischen Wassers auch langfristig standhalten.

Vom Steinbruch in die Altstadt

Im Vergleich mit den Gebirgsmassen der italienischen Steinbrüche sind die Platten des riesigen Thermenneubaus am Limmatknie nur ein kleiner Haufen. In Nachbarschaft zum historischen Bäderquartier aber ist es eine enorme Menge an Material: Hier wirken die 160 m lange Gebäudefront und die insgesamt 6000 m² Fassade mit ihren fast 30000 Steinplatten kolossal.

Geografisch ist die Distanz von der Baustelle bis zum Steinbruch überblickbar: Von Mario Bottas Architekturbüro in Mendrisio liegt Letzterer etwa gleich weit weg wie das Badener Bäderquartier, etwa 500 km. In ihren Erscheinungen aber liegen Welten zwischen Felsgebirge und Wandbelag: Auf der hinterlüfteten Fassadenkonstruktion wirkt der geflammte Stein wie Tapetenpapier. Wer vom Aussenbecken in den Himmel schaut, erahnt hinter den Kanten der überhängenden Platten eine Metallunterkonstruktion. Nicht der Schein, der Stein trügt: Diese Wand ist zwar aus Marmor, aber nur oberflächlich.

Haptisch und greifbar wird der Gialletto di Verona erst an der Sockelmauer entlang des ­Uferwegs, wo der Stein mit gespaltener Oberfläche vermauert ist. Wer hier entlanggeht, erlebt auch das Gegenüber zu den Bruchsteinmauern aus dem lokalen gelblichen Mägenwiler Muschelkalk. Der italienische Gialletto di Verona fällt farblich wie massstäblich auf.

Lange Wartezeit

Nach der Schliessung von Otto Glaus’ 1964 eingeweihtem, nach einem halben Jahrhundert aber technisch veralteten Bau dauerte es über neun Jahre, bis die neue Therme im November 2021 ihre Türen öffnete. In den 1960er-Jahren war sie gemäss einem Beschrieb auf der Webplattform ETHeritage ein Bad der Superlative, nämlich «eines der grössten der Schweiz und eines der modernsten in Europa. Zu Spitzenzeiten empfing man täglich bis zu 1000 Gäste.»

2017 begann der Abbruch von Glaus’ skulpturalem, lichtdurchflutetem Sichtbetonbau. Die Superlative haben sich mit den Jahrzehnten gewandelt, die Gästezahlen vervielfacht. Die neue Therme 47 trumpft nun auf mit acht Innen- und Aussenbecken, elf Saunen und Dampfbädern, verschiedensten Ruhe- und Liegebereichen sowie Restaurant, Bar, Café und Outdoor-Bistro und nicht zuletzt einer Multimediainstallation mit Soundeffekten des experimentellen Musikers Boris Blank, die wahlweise trocken, im Dampf oder im Solewasser liegend genossen werden können.

2002 hatten die Stadt Baden und die Gemeinde Ennetbaden einen Entwicklungsrichtplan für das Bäderquartier erarbeitet. Auf dessen Basis lancierten die Stadt Baden und die Bauherrschaft 2008 ein Studienauftragsverfahren. Siegreich gingen Mario Botta Architetti mit ihren Entwurf für die Therme und das benachbarte Wohn- und Ärztehaus 2009 aus diesem Verfahren hervor.

Termingerecht, schreibt der Totalunternehmer in der eigenen Dokumentation, seien die Neubauten fertiggestellt worden, «trotz einiger Herausforderungen – etwa dem schwierigen Baugrund, dem Schutz und Erhalt zweier archäologischer Ausgrabungsfunde sowie Covid-Massnahmen und Materiallieferschwierigkeiten bei Holzelementen und der Fassade aus Veroneser Naturstein». Termingerecht ist relativ, Verzögerungen gab es verschiedene: drei Jahre zwischen der Schliessung des Glaus-Bads und der Baueingabe im Juli 2015, dann weitere zwei zwischen der Baubewilligung im April 2016 und dem Spatenstich im April 2018. Eröffnet wurde schliesslich im letzten Herbst.

Fünf Finger einer Hand

Im Projektbeschrieb ist von einem nördlichen Abschluss der Altstadt die Rede. Der Baukomplex schliesst wirklich ab, durchlässig ist das Bäderquartier seit den Neubauten nicht mehr. Die Hand des grossen Thermebaus spreizt sich, so beschreiben die Architekten ihre Formgebung, mit den vier überhängenden Oberlichtkörpern wie mit vier Fingern zum Fluss, der lang gezogene Pavillon der Sauna als Abschluss im Westen stelle den Daumen.

Auf Luftbildern ist die Idee nachvollziehbar, mit etwas Einbildungskraft auch auf dem Plan. Wer jedoch in Baden spaziert, wird diese Hand nicht ohne weitere Erklärungen entdecken – es sei denn, man habe sich gerade in die Steinzeit versetzen lassen, in der in den heissen Quellen womöglich Ungeheuer wohnten. Dies allerdings, meint die Archäologin Andrea Schaer in ihrem neuen Buch zum Badener Bäderquartier, sei nicht belegt. Die archäo­logischen Reste, die nach langem Ringen und noch ­längerer Bauzeit nun im Untergeschoss der Therme bestaunt werden können, gehören zur Ruine des mittelalterlichen Kesselbads und wirken in ihrer Kleinheit nicht besonders furchteinflössend.

Gross wird es erst oben: Die neue Therme dominiert in der Horizontalen die Uferlandschaft entlang der Limmat wie ein liegender Koloss. Mit etwas Empathie kann man der skulpturalen Geste durchaus etwas abgewinnen. Der Massstab des Entwurfs von Mario Botta Architetti ist allerdings so monumental angelegt, dass die Analogie zur Hand mit fünf Fingern weder erkennbar noch lesbar ist.

Fremd bleibt das östlich der Therme ins Limmat­knie gesetzte Wohn- und Ärztehaus «Residenz 47», ebenfalls im Besitz der Stiftung Verenahof und einige Monate vor der Therme eingeweiht. Die Residenz ist ein Konglomerat aus drei kammartig (auch hier wird die Finger-Analogie herangezogen) um den gemeinsamen Eingangsbereich angeordneten Türmen, die in ihrer Vertikalität innerhalb der Badener Altstadt ohne Bezug bleiben. Die 38 Mietwohnungen, Arztpraxen und Büros hinter der sechsgeschossigen Kompaktfassade blicken mit Lochfenstern und breiten Balkonen über die Limmat.

Bezug nimmt die Residenz höchstens zu den am gegenüberliegenden Limmatufer in Ennetbaden geschwürartig aus dem Hang quellenden Terrassensiedlungen. Die Analogie zu den Fingern einer Hand wirkt bei der Residenz wie eine Farce.

Gratis Baden vor dem Koloss

Ohne Erklärung kommen die «Heissen Brunnen» in ­Baden und Ennetbaden aus. Öffentliche Wasserbecken beidseits der Limmat holen die Besucherinnen und Besucher in die Grössenordnungen des historischen Bäderquartiers zurück. Und laden ein, auch ohne Besuch in den riesigen Räume der neuen Therme im warmen oder sogar sehr heissen Wasser der Badener Thermalquellen zu verweilen.

Baden dürfen hier alle umsonst, ohne Eintritt und ohne Umkleidekabinen, den ganzen Tag lang (7–22 Uhr). Die kleinen Becken der Minithermalbecken initiierte der Verein «Bagni Popolari» und liess auf der Badener Seite auch ein Stück Erinnerung in die Brunnenwände eingiessen. Dies ist aber nicht Abbruch­material des Glaus-Bads, wie zuweilen erzählt wird, sondern solches aus den Ruinen der historischen Baderäume von Glaus’ Vorgängerbau, dem ehemaligen Badgasthof Staadhof. Viele Baumaterialien des 20. Jahrhunderts, so argumentiert der Verein, halten dem ­aggressiven Thermalwasser langfristig nicht stand.

Bei aller Grösse der neuen Therme versöhnt die facettenreiche Farbigkeit des Gialletto di Verona viele der Besuchenden: Der Koloss ist ein dampfendes Ungeheuer, das hier vielleicht während einer uralten Gebirgsformation abgelagert wurde und nun an die Oberfläche gedrückt wurde. Die Geologen des nächsten Jahrtausends mögen sich dann wundern, wie die Alpenfaltung Marmor aus dem Veneto nach Baden brachte.

Die ausführliche Version dieses Artikels ist erschienen in TEC21 34–35 «Die Leichtigkeit des Steins».

Fortyseven° Wellness-Therme, Baden

 

Bauherrschaft
Verenahof, Stiftung für Gesundheitsförderung, Bad Zurzach

 

Architektur
Mario Botta Architetti, Mendrisio

 

General-/Totalunternehmung
HLS Real Estate, Zürich

 

Tragwerksplanung
wlw Bauingenieure, Zürich

 

HLKS-Planung
Totalunternehmer HRS und beratender Fachplaner: Schär Energieprojekte, Stein

 

Bauphysik
Kopitsis Bauphysik, Wohlen

 

Landschaftsarchitektur
Naef Landschaft, Brugg

 

Baumanagement
bhp Baumanagement, Emmenbrücke

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