Zeit­rei­se durch die Kü­che

Nicht nur innenarchitektonische Extravaganzen, sondern auch die Verwendung von Verbundmaterialien sind mit Blick auf den schonenden Einsatz von Ressourcen zu überdenken. Ein Anfang ist gemacht. 

Publikationsdatum
10-04-2024
Dagmar Steffen
Dozentin für Designsemantik/Produktsprache, Theorien und Geschichte des Design an der Hochschule Luzern – Design, Film, Kunst.

Kein Raum des Haushalts reflektiert technische und soziokulturelle Entwicklungen so deutlich wie die Küche. Das Vermögen, das offene Kochfeuer zu zähmen und die Brennstoffe später durch Gas und schliesslich durch Elektrizität zu ersetzen, war die Voraussetzung sowohl für die Verfeinerung der ­Kochkünste als auch für die räumliche Trennung von Kochen, Essen und Aufenthalt. Diese Trennung begann im 13. Jahrhundert, zunächst in bürgerlichen Haushalten. In der bäuerlichen Welt erfolgte die räumliche Ausdifferenzierung erst weitaus später. Seit rund 50 Jahren ist wiederum eine Gegenbewegung feststellbar.

Die ursprüngliche offene Feuerstelle am Boden, über der in einem herabhängenden Metallkessel Suppen und Breie köchelten, diente nicht nur zum Kochen, sondern spendete der Hausgemeinschaft auch Wärme und Licht. Sie bildete das Zentrum des gesamten häuslichen Lebens. Einen ersten Fortschritt, der zum spezialisierten Küchenraum führen sollte, markierte der knie- oder tischhoch massiv aufgemauerte Herdblock. Auf der Oberfläche loderten Holzscheite, daneben glühten Kohlestücke – noch immer offen, doch diese verschiedenen Wärmequellen ermöglichten eine Differenzierung der Temperatur. Dies erlaubte das Kochen in mehreren auf Füsschen über dem Feuer positionierten Töpfen und das Grillieren von Fleisch und Fisch. Die Brandgefahr, die vom offenen Feuer ausging, war mit dieser Erfindung aber ebenso wenig gebannt wie der grosse Holzverbrauch und die Schwärzung von Decke und Wänden durch Russ und Rauch. 

Eine Lösung dieser Probleme gelang erst im 18. Jahrhundert. Nicht die Ofenbauer, sondern wissenschaftlich geschulte Denker – wie der Architekt François de Cuvilliés der Ältere und der Physiker, Erfinder und Sozialreformer Benjamin Thompson Graf von Rumford – experimentierten mit der geschlossenen Feuerkammer und mit gelochten Herdplatten, auf die die Töpfe gestellt oder bündig eingehängt werden konnten. Einen revolutionären Durchbruch stellte der sogenannte eiserne Spar- oder Rumford-Herd dar: Mit ihm wurde der Herd zum beweglichen «Möbel», das ohne grossen Aufwand aufgestellt werden konnte und das offene Feuer aus den Küchen verdrängte. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts in Serie hergestellt, waren diese Herde genau das Richtige für die zunehmend verdichtete Bauweise in den Städten. Zudem reduzierten sie den Brennstoffbedarf und leiteten die Rauchgase durch ein Ofenrohr ab.

Grossbürgerliche Küche: ein Intermezzo

Während die Küche in den ärmeren Schichten weiterhin multifunktional von der ganzen Familie zum Kochen sowie als Ess- und Wohnraum genutzt wurde, ent­wickelte sie sich in grossbürgerlichen Häusern zum Produktions- und Arbeitsort für Dienstmädchen und Köchinnen. Typisch für diese bürgerlichen Küchen war die funktionale und gleichwohl repräsentative Ausstattung mit freistehendem Sparherd, Spülstein, Arbeitstisch und hygienisch weiss lackierten Schränken zur Unterbringung der Utensilien. Die Herrschaften speisten indessen im separaten Esszimmer, fern von Gerüchen, Geräuschen und Schmutz aus der Küche. 

Es waren die gesellschaftlichen Umbrüche vor und nach dem Ersten Weltkrieg, die in Europa den Anstoss zu weiteren zukunftsweisenden Veränderungen gaben. Die Wohnungsnot, die Emanzipationsbestrebungen der Frauenrechtlerinnen und das sogenannte Dienstbotenproblem führten dazu, dass sich die Architektur-Avantgarde dem sozialen Wohnungsbau und der Rationalisierung der Arbeitsabläufe in Haushalt und Küche zuwandte. Kontrovers diskutierte sie die Frage, ob das Einküchenhaus, die Wohn- oder die Arbeitsküche die beste Lösung sei.

Arbeitsküche: Funktionalismus für alle

Die Wohnküche hatte prominente Verfechter wie die Architekten Adolf Loos und Ernst May. Auch die Hauswirtschaftlerin Erna Meyer argumentierte 1926 in ihrer Schrift «Der neue Haushalt. Ein Wegweiser zur wissenschaftlichen Hausführung» gegen die reine Arbeitsküche, da diese die Frau während der Küchenarbeit vom Familienleben abschirme und die Beaufsichtigung der Kinder erschwere. Trotz dieser Argumente bestimmte das Konzept der Labor- oder Arbeitsküche den Fortgang der Geschichte.

Bekanntestes Beispiel ist die von der Architek­tin Margarete Schütte-Lihotzky entwickelte «Frankfurter Küche», die durch kluge Raumnutzung, Einbaumöbel und hilfreiche Technik der berufstätigen Frau und Mutter die Küchenarbeit erleichterte. Die Anregungen für den Entwurf kamen aus dem industriellen Bereich: Als Inspiration dienten einerseits die Küche in den Speisewagen der Mitropa (Mitteleuropäische Schlafwagen- und Speisewagen-Aktien-Gesellschaft), in der auf kleins­tem Raum Mahlzeiten zubereitet wurden; andererseits die Forderung der US-amerikanischen Ökonomin Christine Frederick, die vom Unternehmensberater Frederick Taylor neu entwickelten Methoden zur Effizienzsteigerung in Fabriken auch auf die private Haushaltsführung anzuwenden. Entsprechend analysierte Schütte-Lihotzky alle Arbeitsabläufe, Wege und Handgriffe in der herkömmlichen ­Küche und plante ihre neue Küche so, dass darin möglichst zeit- und kräftesparend gearbeitet werden konnte. In den Siedlungen des «Neuen Frankfurt» wurden bis 1932 mehr als 10 000 Wohnungen mit diesem funktional optimierten Küchen­typ ausgestattet. 

Einbau- oder Inselküche: Der Kreis schliesst sich

Nach der Zäsur des Zweiten Weltkriegs setzte die Einbauküche in den 1950er-Jahren ihren Siegeszug fort und machte die Normung zum zentralen Thema im ­Küchenbau. Pionierarbeit leistete in der Schweiz Hans Hilfiker, der als Direktor und Chefdesigner der Therma AG das Masssystem 55–60–90 (Breite–Tiefe–Höhe in cm) entwickelte. Aufgrund der ökonomischen und planerischen Vorteile einer Standardisierung schlossen sich weitere Hersteller an. Zumindest für einige Jahrzehnte wurde das Masssystem als Schweizer Norm für Einbauküchen verbindlich. 

Zwei futuristische Küchen aus den 1970er-Jahren, die allerdings beide Vision blieben – die Kugelküche «experiment 70» des deutschen Designers Luigi Colani und die «Technovision» als erste vollautomatische ­Küche der Welt seines Kollegen Hasso Gehrmann – ­distanzieren sich mit runden Formen und knalligen Farben ästhetisch deutlich von der Nüchternheit und Ordnung der genormten, funktionalistischen Einbauküchen. Beide Modelle versprachen eine effiziente und ergonomische Gestaltung der Küchenarbeit, konzep­tionell standen sie indessen für die Gegenpole: Separation versus Integration von Küche und Wohnraum.

In den nachfolgenden Jahrzehnten – und bis heute – geht der Trend eindeutig zur Zusammenfüh­rung von Kochen und Wohnen. Das spürte auch Otl Aicher, Mitbegründer der Hochschule für Gestaltung Ulm, als er Anfang der 1980er-Jahre die «Architekturdoktrin» der kleinen Kochzelle infrage stellte und eine Neuorganisation des gesamten Küchenraums forderte. Ins Zentrum rückte er – anstelle der alten Feuerstelle – die von allen Seiten zugängliche Kücheninsel, an der Hausgemeinschaft und Gäste gemeinsam die Mahlzeit vor- und zubereiten und die so zum kommunikativen Mittelpunkt wird. Zudem plädierte er dafür, die ständig benötigten Kochutensilien und Gewürze nicht ordnungshalber hinter Türen zu verstecken, sondern offen sichtbar über der Kücheninsel, auf Regalbrettern und Ablagen jederzeit griffbereit zu lassen; es gebe auch eine Ästhetik der Komplexität. 

Mit der heute bei Neubauten vorherrschenden Integration des Küchenbereichs in den Wohnraum – oder umgekehrt – schliesst sich vorerst der Kreis der Küchengeschichte. Technologisch unterstützt, wird Küchen­arbeit wieder – ähnlich wie einstmals – zur «Arbeits­geselligkeit» (Aicher), an der alle mitwirken können.
 

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