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Ursprünge und heutige Strategien des Tessiner Wohnungsbaus

Im Tessin manifestiert sich zunehmend Handlungsbedarf, der Zersiedelung der Landschaft neue Ideen des Wohnens entgegenzustellen. Die Chefredaktorin von Archi beobachtet die Entwicklung seit Jahren. Welche Hebel werden in Gang gesetzt, und wo fehlt es noch an Engagement?

Publikationsdatum
12-03-2021

Auf den ersten Blick mag es überraschen, dass sich dieser Beitrag auf einige kürzlich in der italienischen Schweiz realisierte Mehrfamilienhäuser fokussiert. Schliesslich ist es ein bekannter Topos, dass das Tessin seit Mitte des 20. Jahrhunderts vom Einfamilienhausbau geprägt ist (vgl. «Tessiner Träume», TEC21 51–52/2015). Seit den 1970er-Jahren haben die renommiertesten Tessiner Architekten hauptsächlich innerhalb dieser Typologie experimentiert. Zwar gab es aus der Tradition der landwirtschaftlichen ­Lebensweise heraus auch einige exemplarische Pro­jekte für gemeinschaftliches Wohnen, die bis heute für die Analyse der Wohnungsfrage auf der Alpensüdseite von Bedeutung sind.1

Doch in den letzten 20 Jahren des architektonischen Schaffens im Tessin sind nur vereinzelte Werke auszumachen, die das städtebauliche und funktionale Potenzial des Mehrfamilienhauses aus­loten. Das Einfamilienhaus und das gemeinschaftliche ­Wohnen sind die Gegenpole der im 19. und 20. Jahrhundert geführten Debatte zum sozialen Wohnungsbau in Europa; sie verweisen auf gegensätzliche Vorstellungen vom Wohnen und auf unterschiedliche kulturelle und fachliche Traditionen.

In den letzten Jahrzehnten geriet die von Spekulation getriebene Zersiedlung der Region immer deutlicher in die Kritik. Es erhoben sich Forderungen nach dem Schutz des architektonischen und landschaftlichen Erbes und einer Verdichtung des bisher allein dem Markt überlassenen Siedlungsgefüges. Die historischen Ursachen der ungezügelten baulichen Entwicklung sind inzwischen bekannt: die kleinteilige Parzellierung, die Bevorzugung von privaten gegenüber öffentlichen Inter­essen und die mangelnde Umsetzung von politischen Strategien.2 Die von jeher mit der Vorstellung von Familieneigentum verbundenen Häuschen mit Garten nehmen den Talboden zunehmend für sich in Anspruch. Nur eine Umkehrung der Siedlungstendenz kann diese räumliche Ausbreitung bremsen.

Als Voraussetzungen für einen echten Paradigmenwechsel weg von einem traditionellen, betont individualistischen und nicht mehr nachhaltigen Konzept des Wohnens gelten folgende Faktoren: eine aktiven Rolle des Kantons, der Gemeinden und ihrer jeweiligen Planungs- und Kontrollorgane, Massnahmen zur Regulierung der Bau- und Finanzierungstätigkeit, die Bereitstellung von Plattformen für den öffentlich-privaten Austausch sowie die konsequente Umsetzung des kantonalen Richtplans, wie diese auch im Rest der Schweiz bereits erfolgreich zur Anwendung kommen.

Neue Identitäten schaffen

Nachdem 1980 die Öffnung des Gotthard-Tunnels eine kolossale Veränderung der Mobilität auslöste, wird sich auch die Eröffnung des Ceneri-Basistunnels er­heblich auf die Migrationsströme und die Siedlungsdynamik auswirken (vgl. «Metrò Ticino», TEC21 33/2020). Durch die kürzeren Fahrzeiten rücken die wichtigsten Tessiner Städte näher zusammen, und es kann sich eine neue metropolitane Realität herausbilden: die «Città Ticino», ein weitläufiger Makroraum, wie ihn der 2013 revi­dierte kantonale Richtplan bereits vorsieht. Um die Neugestaltung dieser Stadtregion zu steuern, gilt es, auf die raumplanerischen Konzepte zurückzugreifen, die von der geltenden eidgenössischen und kantonalen Gesetzgebung vorgegeben werden.

Weitere Artikel zur Tessiner Baukultur finden Sie hier.

Das Thema des genossenschaftlichen Wohnens ist in der aktuellen Wohnbauszene der italienischen Schweiz so gut wie inexistent. Dieses zutiefst demokratische Wohnmodell – ein Modell, das anderenorts häufig als wirksames Instrument zur Wiederbelebung der Peripherie und zur Wiederherstellung eines sozialen Gleichgewichts genutzt wird – konnte sich trotz wachsendem Bedarf an erschwinglichem Wohnraum noch nicht durchsetzen.

Von den anderen lernen

Es ist hauptsächlich der intensiven Öffentlichkeitsarbeit der Tessiner Sektion des Verbands Wohnbaugenossenschaften (CASSI) zu verdanken, dass gewisse Teile der Bevölkerung in jüngster Zeit ein zaghaftes Interesse an genossenschaftlichem Wohnen entwickeln, an Wohnsiedlungen, in denen der soziale Zusammenhalt gefördert und der Konsum durch Initiativen der Sharing Economy reduziert wird. Die verschiedenen von der öffentlichen Hand finanzierten Erneuerungsprojekte in den wichtigsten Schweizer Städten zeugen vom poli­tischen Willen, dem Recht auf Wohnraum Rechnung zu tragen, aber auch vom wachsenden Bewusstsein der Bevölkerung für die nötige Eigeninitiative bei der Gestaltung des gemeinschaftlichen Lebens.

Bis man von einem neuen Tessiner Wohntrend sprechen kann, wird es aber noch Jahrzehnte dauern. Gerade deshalb ist es so wichtig, das gemeinschaftliche Wohnen in all seiner typologischen und funktionalen Vielfalt zu erforschen und seine Stärken für die hiesigen Voraussetzungen zu erkennen: das Nebeneinander von Privatsphäre und Gemeinschaft, Formen des Zusammenlebens und Mehrgenerationenwohnens, kulturelle Heterogenität, öffentliche Dienstleistungen, urbane Bezüge und Grünflächen sowie nachhaltige Mobilität. Die Erfahrungen aus der übrigen Schweiz – mit Projekten wie Hunziker-Areal, Kalkbreite, Kraftwerk1 oder Greencity, um nur einige Zürcher ­Beispiele zu nennen – liefern genügend Denkanstösse und Modellbeispiele (vgl. «Hunziker-Areal Zürich – die bessere Vorstadt?» TEC21 13–14/2015; «Kalkbreite: Ein Stück Stadt in ­Zü­rich», TEC21 26–27/2014).

Die ausführliche Version dieses Artikels ist erschienen in TEC21 7/2021 «Made in Ticino».

Anmerkungen
1 Beispiele: 1. Dolf Schnebli, casa per appartamenti sociali, Lugano, 1960; 2. Luigi Snozzi, Livio Vacchini, case popolari ai Saleggi, Locarno, 1965–66; 3. Roberto Bianconi, due case per appartamenti, Bellinzona, 1972 (vgl. P. Fumagalli, Il collettivo in Ticino, Archi 6/2013, S. 65–71).

2 Vgl. T. Carloni, Pathopolis. Riflessioni critiche di un architetto sulla città e il territorio, Bellinzona 2011; T. Carloni, La grande trasformazione del territorio, in R. Ceschi (Hrsg.), Storia del Cantone Ticino, Bellinzona 2015, Band 2: Il Novecento, S. 671–700; P. Fumagalli, ­Cronache di architettura, territorio e paesaggio in Ticino, Bellin­zona 2019.

In Archi erschienen. Inches Geleta, Palazzo Pioda, Locarno, 2016–2019; vgl. Archi 2/2019. Buzzi, Casa agli Orti, Locarno-Solduno, 2016–2019; vgl. Archi 4/2020. Remo Leuzinger, Wohnüberbauung Radice, Massagno, 2013–2020.

Übersetzung aus dem Italienischen: Wulf Übersetzungen

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