«Wir wol­len wei­ter­ler­nen»

In Regensdorf nördlich von Zürich entsteht zurzeit ein neues Stadtquartier. Das Zwhatt soll dereinst rund 8000 Menschen Wohn- und Arbeitsraum bieten – und in jeder Hinsicht nachhaltig sein. Was bedeutet das konkret für die Energieversorgung? Ein Gespräch über innovative technische Lösungen und die Grenzen der Praxis.

Publikationsdatum
30-06-2023

TEC21: Frau Hattenkofer, Herr Reuteler, Regensdorf trägt das Label Energie-Gemeinde. Die Gemeinde ist bestrebt, eine nachhaltige kommunale Energiepolitik vorzuleben und umzusetzen; sie fördert erneuerbare Energien, umweltverträgliche Mobilität und eine  effiziente Nutzung der Ressourcen. Stellte sie besondere energetische Bedingungen an die Entwicklung des Zwhatt-Areals?

-> Stadtquartier Zwhatt

Birgit Hattenkofer: Nein, diesbezüglich gab es keine besonderen Vorgaben. Als die Anlagestiftung Turidomus das Areal 2016 erwarb – damals hiess es noch Gretag-Areal –, gab es für das gesamte Entwicklungsgebiet «Bahnhof Nord», in dessen Zentrum es liegt, noch keinen einzigen rechtsgültigen Gestaltungsplan. Der Hintergrund dafür ist, dass auf diesem Gebiet rund 15 verschiedene Eigentümerschaften mit unterschiedlichen Planungshorizonten beteiligt sind. Die Entwicklung der einzelnen Areale kann teilweise mehrere Jahrzehnte dauern; unter anderem deshalb wurde darauf verzichtet, ein mindestens zehn Jahre dauerndes Quartierplanverfahren anzugehen. Man setzte auf private Gestaltungspläne, die dann angegangen werden, wenn die entsprechende Eigentümerschaft den Transforma­tionsprozess startet. Aber die Gemeinde formulierte mit der Initiative «Zukunft Bahnhof Nord» Vorstellungen für die Zukunft, die 2010 ihren konkreten Anfang mit dem städtebau­lichen Konzept der Dürig AG nahm. Wir waren die zweite Eigentümervertretung, die mit der Entwicklung begann.

Wie war das Vorgehen?

Hattenkofer: 2018 führten wir ein Charrette-­Verfahren durch – einen interdisziplinären Pla­nungsprozess mit mehreren Architektur- und Stadtplanungsbüros, Expertinnen und Experten aus verschiedenen Disziplinen sowie Vertreterinnen und Vertretern der Bevölkerung. Insgesamt waren rund 120 Personen beteiligt. Daraus resultierte der städtebauliche Masterplan von Studio Märkli und das landschaftsarchitektonische Konzept des Büros Lorenz Eugster. Für die Realisierung der einzelnen Bauten fiel nach diversen nachgelagerten Verfahren – Studienauftrag, Suffizienz-Pitch, Skizzenqualifi­­­­­kation – die Wahl auf weitere namhafte Architektur­büros: Roger Boltshauser, Lütjens Padmanabhan, Alexandre Brodsky und Graser Troxler. Vorgesehen sind sieben Gebäude, darunter zwei Hochhäuser. Die Baubewilligungen sind erteilt, derzeit wird diese erste Etappe mit rund 400 Wohnungen, 12000 m2 Gewerbefläche und 330 Tiefgaragenstellplätzen realisiert.

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Stichwort Tiefgaragenplätze – diese Anzahl ist bemerkenswert tief. Ist diese Beschränkung Teil eines Verkehrskonzepts für das Zwhatt-Areal, um eine Belastung der Gemeinde durch den zusätzlichen motorisierten Individualverkehr zu minimieren?

Hattenkofer: Die Anzahl Parkplätze beträgt 0.4 pro Wohnung. Sie soll – neben weiteren Massnahmen wie lenkungswirksamen Parkgebühren, Mobilitätshub mit Sharing-Angeboten, Förderung autoloser Haushalte mit Mobilitätspaketen, optimaler Velo-­Infrastruktur mit 1700 Veloabstellplätzen, Velowerkstatt und Ladestationen für Elektrovelos etc. – dazu beitragen, dass die Zwhatt-Bewohnerschaft möglichst wenig mit dem Auto unterwegs ist. Falls doch, dann bevorzugt mit Elektroautos, auch dafür gibt es Ladestationen. Bei Bedarf kann man alle Parkplätze für Elektroautos umrüsten, die Infrastruktur dafür ist vorhanden. Angestrebt wird ein ÖV-Anteil von 60%, der dank der sehr guten Erschliessung auch realistisch ist. Zu Planungsbeginn gab es seitens Gemeinde auch diesbezüglich keine konkreten Vor­gaben; erst  im Herbst 2020 wurde das Gesamt­er­schlies­­sungs­konzept nebst entsprechendem Kredit für das ­Entwicklungsgebiet Bahnhof Nord in einer Volksab­stimmung gutgeheissen. Es sieht unter anderem ein Fahrtenkontingent für die Abends­pitzenstunde vor. Ein Monitoring wird zeigen, ob es eingehalten wird, allenfalls werden Massnahmen ergriffen.

Welche Ziele wurden in Bezug auf die Nachhaltigkeit der Energieversorgung gesteckt?

Michael Reuteler: Die Energieversorgung des Zwhatt-Areals erfolgt fossilfrei mit nachhaltig vor Ort produzierter Energie aus Grundwasser und Photovoltaik entsprechend des möglichen Autarkie­grads. In der Arealenergiezentrale erzeugen vier reversible Wärmepumpen/Kältemaschinen mit je 0.5 MW die benötigte Wärme- und Kälteenergie mittels zwei Entnahme- und zwei Rückgabebrunnen direkt aus dem Grundwasser, das auf dem Areal vorhanden ist. Die Anlagen werden mit natürlichem Kältemittel betrieben, um die Auswirkungen auf die Umwelt so gering wie möglich zu halten. Zusätzlich werden in den kommenden Jahren zwei hybride Rückkühler mit je 0.5 MW in das System integriert, um die Leistung für die weiteren Etappen zu erhöhen.

Von der Energiezentrale aus werden alle Baufelder über ein arealweites Anergienetz erschlossen. Da das Brauchwarmwasser dezentral direkt in den Gebäuden erzeugt wird, kann das Gesamtenergiesystem aufgrund der tiefen Vorlauftemperaturen sehr energieeffizient betrieben werden. Hinzu kommen smarte Steuerungen für Heizung und Kälte direkt in den einzelnen Nutzungseinheiten in den Gebäuden. Auf Basis von Wetter-­Datenbanken wird der Wärme- und Kältebedarf vorausschauend reguliert. Mit smarten Energiemessgeräten können sämtliche relevanten Kennwerte in Echtzeit aufgezeichnet und im übergeordneten Leitsystem angezeigt werden, um den Betrieb laufend zu optimieren.

Das Areal wird etappenweise bebaut, der Energie­bedarf wird sich sukzessive erhöhen. Wie wird die Energieversorgung etappiert?

Reuteler: Die Energiezentrale ist so gebaut, dass maximal vier Wärmepumpen eingebaut werden können. Bis 2025 werden vorerst nur zwei Wärme­erzeuger in Betrieb genommen, die anderen beiden folgen in den nächsten Etappen. Die Leitungen des Anergienetzes werden schon jetzt von der Zentrale bis zu den Baufeldern geführt, man braucht sie dann nur noch anzuschliessen.

Hattenkofer: Die letzten Bauten sind voraussichtlich 2028–2030 bezugsbereit.

Anvisiert ist auch ein hoher Grad an Selbstversorgung mit elektrischer Energie. Welche Massnahmen sind dafür vorgesehen?

Reuteler: Die Summe der Photovoltaik-Anlagen auf dem Areal hat eine geplante installierte Leistung von ca. 1.7 MW und einen Solarstromertrag von rund 1.5 MWh im Jahr. Die eigenen PV-Anlagen sollen rund 75% des Eigenverbrauchs decken. Der Zusammenschluss zum Eigenverbrauch ZEV ist aktuell in Bearbeitung. In der Zentrale wurde zudem eine Fläche reserviert, um in Zukunft eine Speicher­lösung mit einer Batterieanlage realisieren zu können, um den Eigenverbrauch des Solarertrags zu erhöhen. Wir haben in der Energiezentrale eine eigene Trafostation mit einem Mittelspannungsanschluss an das öffentliche Netz des lokalen Stromversorgers EKZ. Der Netzstrom wird aus erneuerbaren Quellen bezogen.

Hattenkofer: Als wir 2017 mit der konkreten Planung begannen, sahen wir einen Batterieraum vor, doch damals war die Entwicklung der Batterien noch nicht ausgereift. Jetzt, sechs Jahre später, ist sie leider immer noch nicht so weit. Es stellt sich die Frage, wie viele Raumreserven man für künftige technische Entwicklungen sinnvollerweise vorsieht. Wir wollen innovativ sein, aber wir können im Regelfall nur Dinge realisieren, die marktreif sind. Die Entscheidung, die Risiko- und Chancenabwägung, ist für uns als Entwickler nicht immer einfach.

Reuteler: Ideal wäre, wenn man die Batterien der Elektroautos in der Tiefgarage als Zwischenspeicher für überschüssige PV-Erträge nutzen könnte, anstatt diese ins Netz einzuspeisen und dann wieder Strom einkaufen zu müssen. Die meisten Fahrzeuge stehen fast rund um die Uhr in der Garage. Grundsätzlich ist die Technologie vorhanden und einsatz­bereit, in anderen Ländern wird sie bereits verbreitet eingesetzt. In der Schweiz ist die Entwicklung noch nicht auf dem gewünschten Stand. Einerseits lassen aktuell erst wenige Fahrzeuge das bidirektionale Laden zu, andererseits fehlen rechtliche und politische Grundlagen für arealweite Lösungen für V2G (Vehicle-to-Grid). Wenn die Entwicklung einmal so weit ist, wird unser Leitsystem in der Lage sein, das Ganze zu steuern und zu optimieren. Unsere Trafo­station ist so ausgelegt, dass sämtliche Parkplätze bei Bedarf mit einem Elektroanschluss ausgerüstet werden können – das übertrifft die Vorgaben von SIA 2060 E-Mobilität bei Weitem.

Eigene Glasfasernetze sind auch vorgesehen. Warum?

Hattenkofer: Damit das Areal nicht von einem Provider, der das Netz zur Verfügung stellt, abhängig ist. Wir bauen ein Vierfasernetz mit einzelnen Verbindungen und voller Bandbreite bis in die Steckdose in den Wohnungen – die Provider können sich in der Zentrale einrichten, aber die Kontrolle bleibt bei uns. Die Mieterinnen und Mieter haben so die Möglichkeit, ihren Provider flexibel zu wählen.

Reuteler: Es gibt zudem ein zweites Glas­fasernetz, das sogenannte Technet: Es verbindet die Gebäude mit der Energiezentrale und dient der Übermittlung aller Daten und Informationen, die wir auf dem Areal erfassen – von der Videoüberwachung über die Waschmaschinen bis hin zur Paketpost. Diese können wir selbst auswerten oder dem Facility Management übermitteln. Das Verrechnungssystem für den Wärme-, Kälte-, Wasser- und Stromverbrauch für die individuellen Nebenkostenabrechnungen beispielsweise erfolgt automatisiert, basierend auf den Messwerten.

Für Wartung und Steuerung eines derart komplexen, hoch digitalisierten Systems ist ein spezialisiertes Facility Management notwendig. Wie wird es organisiert? Von einem klassischen Abwart kann man in diesem Zusammenhang ja nicht mehr sprechen  

Reuteler: Das ist eine Disziplin, die noch nicht so bekannt ist, man muss die Spezialisten suchen.

Hattenkofer: Es braucht eine individuell auf die Anforderungen abgestimmte Organisation – ein sogenanntes integrales Facility Management –, das sich um das Areal kümmert, vom Arealmanager bis hin zum Siedlungscoach. Man muss die Fachleute rechtzeitig evaluieren und anstellen, damit sie bei Konzept-Fertigstellung ihren Input einbringen können und vor Ort sind, bevor die ersten Gebäude in Betrieb gehen. Für die Mieterinnen und Mieter gibt es eine Mieter-App, mit der sie unter anderem  die Bewirtschaftung kontaktieren oder die eigenen Energie-Werte tracken können. Die App wird auch zwecks Community-Bildung eingesetzt.

Die ausführliche Version dieses Artikels ist erschienen in TEC21 21–22/2023 «Pumpen für das Klima».

-> E-Dossier Nachhaltiges Bauen

-> E-Dossier Digital

Birgit Hattenkofer und Michael Reuteler werden am Gebäudetechnik-Kongress 2023 ein Referat zum Zwhatt halten. Der Kongress findet am 21. September 2023 zum Leitthema «Adaption und Transformation» im Trafo in Baden statt. Weitere Infos und Anmeldung.

 

-> Noch bis zum 13. Juli gibt es die Tickets zum Early-Bird-Preis.

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