Soziales Wohnungsbauprogramm Äthiopien: universale Ansprüche vs. lokale Realität
Die politisch-ökonomischen Mechanismen des Wohnungsbaus sind ein Forschungsthema am ETH-Lehrstuhl von Prof. Marc Angélil. Ein Schwerpunkt liegt auf schnell wachsenden Städten in Schwellen- und Entwicklungsländern wie Ägypten, Brasilien oder Äthiopien.
Die vor Kurzem abgeschlossene Dissertation «Entwicklungszusammenarbeit um jeden Preis – wie globale Akteure und Konzepte urbane und rurale Transformationsprozesse steuern»1 untersucht die räumlichen Auswirkungen von drei Projekten der internationalen Zusammenarbeit in der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba und Umgebung. Eine der Studien beschäftigt sich mit dem bisher grössten sozialen Wohnungsbauprojekt, dem «Integrated Housing Development Program», das in Kooperation mit der Deutschen Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit entstand.
Das Programm sollte Wohnraum für die einkommensschwache Bevölkerung schaffen und der Wohnungsnot entgegenwirken. Das angewendete Konzept, um rund 233 000 Wohneinheiten zu erstellen, beruhte unter anderem auf zwei wichtigen Grundsätzen: privates Wohneigentum durch Hypotheken und standardisierte Wohnblöcke. Obwohl von den geplanten 150 000 bis 200 000 Einheiten zwischen 2004 und 2010 nur rund 80 000 gebaut wurden, schaffte es das Programm, mehr Wohnraum zu erstellen als jeder bisherige Versuch in der Geschichte des Landes.
Substanzielle Abhängigkeit
Seit 2010 wurden weitere ca. 200 000 Einheiten gebaut, allerdings brachte das Projekt auch substanzielle räumliche und soziokulturelle Herausforderungen zutage. Das Zusammenspiel des Hypothekenmodells mit dem architektonisch-städtebaulichen Ansatz von freistehenden und standardisierten Wohnblöcken war ungeeignet, um im grossen Rahmen erschwinglichen und adäquaten Wohnraum für einkommensschwache Bevölkerungsgruppen bereitzustellen. Die Hypotheken wurden trotz Subventionen für viele Wohnungsempfänger der unteren Einkommensschichten so teuer, dass sie selbst in der ursprünglichen – oft prekären – Wohnsituation verblieben und die neue Wohnung an mittelständische Familien vermieteten. Die durch die Bauweise herbeigeführte Abhängigkeit von importierten Werkstoffen wie Stahl verschärfte ausserdem die Preisspirale der Baukosten und Hypotheken.
Wohnen für den Mittelstand statt für die Unterschicht
Auf räumlicher Ebene vernachlässigte das Projekt städtebaulich und architektonisch die lokalen Lebensrealitäten und Raumbedürfnisse. Die standardisierten Wohnungsgrundrisse ermöglichen weder eine schrittweise Anpassung an die jeweilige Lebenssituation, noch stellen sie Aussen- und Innenräume zur Verfügung, die den täglichen Nutzungsanforderungen entsprechen, z. B. einen traditionellen Kochbereich oder genügend Aussenräume für tägliche Haushaltsaktivitäten.
Anstelle der zunächst vorgesehenen Verdichtung beschleunigt das Programm auf städtebaulichem Massstab die Expansion der Stadtrandgebiete, was die Situation für Bürger mit niedrigem Einkommen erschwert, die zusätzlich teure Pendelstrecken ins Stadtzentrum in Kauf nehmen müssen. Dies sind einige Beispiele dafür, wie und warum das Wohnungsprogramm räumliche und soziale Segregation verstärkt oder vielerorts ausgelöst hat. Die Wohnungen erfahren zwar eine enorme Nachfrage, stellen aber wegen der hohen Preise, der Wohnungstypologien sowie der oftmals peripheren Lagen mehrheitlich Wohnraum für die aufkommende Mittelschicht zur Verfügung.
Flexible, gesamtheitliche Konzepte
So stellt sich die Aufgabe, nach anderen Möglichkeiten für erschwinglichen Wohnraum zu suchen, sei es innerhalb oder ausserhalb des Programms. Ein Ansatzpunkt, um die rigiden Grundsätze solcher Programme zu überwinden, ist es, flexiblere, vielseitigere und umfassendere Konzepte zu entwickeln.
Diese müssten sowohl Gestaltungsprozesse und Finanzierungspläne als auch technische und organisatorische Aspekte umfassen. Im Kontext der internationalen Zusammenarbeit bedeutet dies zudem, sich von Standardlösungen wie z. B. persönlichem Wohneigentum als einziger Möglichkeit, vereinheitlichten Entwurfsansätzen für sozialen Wohnungsbau oder Top-down-Prozessen für Wohnungsbau und Stadtplanung zu verabschieden.
Das kürzlich an der Professur Angélil gestartete Forschungsprojekt «Kooperative Produktion von günstigem Wohnraum»2 beschäftigt sich mit solchen Bestrebungen anhand verschiedener geografischer und sozioökonomischer Kontexte in der Schweiz, in Brasilien und in Äthiopien. Das etablierte, aber häufig vernachlässigte Modell des kooperativen Wohnungsbaus und Wohneigentums eröffnet eine Reihe von ganzheitlichen, nachhaltigen und partizipativen Konzepten, die aus einem globalen Wissenspool gespeist und gleichzeitig in den lokalen Gemeinschaften verankert sind.
Obwohl es in Äthiopien und Brasilien legale Strukturen zur Genossenschaftsgründung gibt, wird dieses Organisierungsmodell bis jetzt selten für den Wohnungsbau angewendet. Ziel des Forschungsprojekts ist es, bestehende Ansätze zu identifizieren, deren Potenziale und Risiken zu analysieren sowie eine Reihe von kontextspezifischen Ansätzen für kooperativen Wohnungsbau weiterzuentwickeln oder vorzuschlagen.
Anmerkungen
1 S. Delz: «Development Cooperation at all Costs – How Global Actors and Concepts Influence Rural and Urban Transformation: Case Studies from Ethiopia», ETH Zürich 2015.
2«Cooperative Production of Low-Cost Housing – Socio-Technological Innovation for the Provision of Housing for Low-Income Populations», ETH Zürich.