«Si­mu­la­tio­nen er­lau­ben ein Den­ken in Sze­na­ri­en»

Bevor ein Gebäude gebaut wird, werden Betriebszustände immer ­häufiger anhand eines digitalen Zwillings simuliert. Welche Aspekte sind besonders zu untersuchen? Fördert dies die Planungssicherheit? Oder verbessert sich die Zusammenarbeit? TEC21 hakt bei vier Fachleuten nach, warum Gebäudesimulationen in der Planung Alltag werden.

Publikationsdatum
28-07-2021

TEC21: In der Theorie dienen thermische Gebäude­simulationen dazu, Prognosen zum Raumklima und zum Energieverbrauch zu liefern. Herr Benz, Sie sind Fachmann für Energieeffizienz und Gebäudetechnik und können Einblick in die Praxis geben. Zu welchem Zweck wenden Sie solche Simulationen an?

Michael Benz: Zur Optimierung von haus­technischen Anlagen simulieren wir jeweils unterschiedliche Betriebszustände und ihre Auswirkungen auf das Raumklima. Dazu ein Beispiel: Wir haben bei einem jüngeren Dienstleistungsgebäude evaluiert, wie der sommerliche Komfort zu verbessern ist, ohne eine zusätzliche Kühlanlage einzubauen. Die Simulationen ergaben, dass Anpassungen bei der Nachtauskühlung dafür genügen. Der Check im Nachhinein war eine Bestätigung: Was wir simuliert hatten, stimmte mit den realen Verhältnissen gut überein.

Alois Schälin: Wir arbeiten über 30 Jahre mit Simulationen; Komfortprobleme sind ein wichtiges Motiv für unsere Auftraggeber. Die Analysen sind jedoch komplexer geworden: Begann es damit, die Luftströmung lokal konzentriert zu simulieren, etwa um einen Kaltluftabfall an Fensterfassaden zu bestimmen, werden inzwischen ganze Gebäude auch in einer zeitlichen Dimension untersucht. Was mir zudem auffällt: Simulationen werden nicht mehr nur dann bestellt, wenn bereits existierende Probleme zu beheben sind. Immer häufiger sollen sie Informa­tio­nen über den künftigen Betrieb schon früh im Planungsprozess liefern.

Herr Senn, Sie entwerfen als Architekt Bauwerke. In welcher Phase ist es ratsam, die Annahmen für den Betrieb mit einer Simulation zu überprüfen?

Andy Senn: Erstmals kam ich bei der Planung einer Sporthalle damit in Berührung. Der Gebäudetechniker schlug eine Simulation vor, um den Aufheizeffekt der Glasfront zu untersuchen. Ich war zwar etwas skeptisch, wie sehr das die Architektur be­einflussen würde. Aber schliesslich fiel das Resultat positiv aus. Und ich war ich froh, weil wir auf den äusseren Sonnenschutz verzichten konnten. Das war anhand der Simulationen auch der Bauherrschaft vermittelbar, weil sie dadurch Geld für Bau und Unterhalt spart. Das Gebäude ist 16 Jahre alt. Was damals simuliert wurde, funktioniert bis heute.

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Herr Waldhauser, Sie sind Gebäudetechnikplaner. Wie häufig arbeiten Sie mit Simulationen?

Marco Waldhauser: Wir setzen das regel­mässig ein. Auch bei uns haben einfache thermische Simulationen den Anfang gemacht, um die Parameter für ein gutes Raumklima zu bestimmen. Inzwischen treten immer öfter Bauherrschaften mit dem Anspruch an uns heran, auf Technik möglichst zu verzichten und einfache Lösungen zu realisieren. Zur Projektierung ist hierzu eine Simulation fast zwingend.

Senn: Genau so gingen wir beim Landwirtschaftlichen Zentrum in Salez vor: Wir mussten quantitativ nachweisen, wie die Räume mit architektonischen Mitteln, aber ohne Kühl- und Lüftungstechnik zu klimatisieren sind. Die Simulationsresultate boten der Bauherrschaft die nötige Sicherheit, das Lowtech-­Konzept real umzusetzen.

Waldhauser: Ich möchte einen weiteren typischen Anwendungsfall für Gebäudesimulationen erwähnen. Für die Planung des Hochschulcampus Biel haben wir den Heizwärmebedarf mithilfe von Simulationen bestimmt. Hätten wir dafür konventionell gerechnet, wäre das Ergebnis eine Überdimen­sionierung der Haustechnik gewesen.

Warum?

Schälin: Wenn ich hier kurz antworten darf: Es geht um den Unterschied zwischen statischen und dynamischen Betrachtungen. Letztere berücksichtigen auch die thermische Masse des Gebäudes besser. Deshalb kann eine dynamische Simulation den realen Zusammenhang zwischen Gebäudemasse, Wärmepufferung und Raumklima realitätsnaher abbilden.

Waldhauser: Genau, mit einer Simulation können wir die Auslegung von Heiz- und Kühllasten meistens optimieren. Denn so lassen sich in 80 bis 90 % der Fälle markant tiefere Leistungswerte nachweisen. Aber um das richtig einzuordnen: Der Leistungswert hat direkt nichts mit dem Energieverbrauch des Gebäudes zu tun, sondern bestimmt, wie effizient das haustechnische System arbeitet.

Benz: Ein wesentlicher Unterschied zwischen statischen Betrachtungen und einer dynamischen Simulation ist, ob nur ein spezifischer Nutzungsfall oder viele Einflussfaktoren zu analysieren sind. Simulationen erlauben ein Denken in Szenarien und können eine Bandbreite an Betriebszuständen wiedergeben. Statische Betrachtungen reichen aus, wenn zum Beispiel ein Extremfall untersucht werden soll.

Schälin: Eine Gebäudesimulation erlaubt in diesem Sinn auch, ein zu strikt formuliertes Anforderungsprofil zu hinterfragen. Ich erlebe in Planungsprozessen regelmässig, dass Bauherrschaften zu sehr an einem einzigen Wert festhalten und zum Beispiel auf einer maximalen Raumtemperatur von 22 °C auch im Sommer beharren. Ein Gebäudetechnikplaner hält sich nun an diese Vorgabe oder weist sinnvollerweise – mithilfe von Simulationen – auf Vor- und Nachteile einer dynamischeren Vorgehensweise hin.

Senn: Simulationen erlauben eine Visualisierung von abstrakten Informationen. Sie erklären zum Beispiel, wie gut ein Gebäude klimatisch funktioniert, wenn es nur von der architektonischen Struktur geprägt ist. Für den Architekten hat das Folgen: Wir werden gezwungen, uns mit der Grundsatzfrage Nutzwert versus Selbstzweck eingehend zu befassen.

Wie nah sind sich Gebäudesimulationen und das Building Information Modelling?

Waldhauser: Das Parametrisieren der Planungsprozesse bietet viele Chancen. Das Building Information Modelling senkt die Hemmschwelle für eine Anwendung von digitalen Planungsinstrumenten generell. Unter anderem schwindet der grosse Anfangsaufwand für eine Simulation, weil am virtuellen Modell fast x-beliebige Analysen durchgeführt werden können. Gebäudesimulationen vereinfachen aber auch die Diskussion zwischen Bauherrschaft und Gebäudeplaner: Wird zum Beispiel die Architektur im Kontext des Lokalklimas beurteilt, werden die Ergebnisse dieser Analysen bildlicher aufgezeigt.

Erkennt ein Architekt darin auch eine Chance? Wie viel Freude machen Simulationen, wenn ein Gebäude daraufhin umgestaltet werden muss?

Senn: Wenn es dem Projektziel hilft, spricht nichts dagegen. Ich muss damit umgehen können, umso mehr, da mir eine Haltung sympathisch ist, wonach die Architektur selbst viel zur Raumklimatisierung beitragen soll. Mit Simulationen werden spannende Zusammenhänge zwischen der Archi­tektur und dem Standortklima untersucht, wenn möglichst wenig an die Haustechnik delegiert werden soll. Simulationen erleichtern deshalb auch das Zusammenspiel zwischen Architektur und Haustechnik. Allerdings muss der Austausch so früh beginnen, dass die Projektierung allenfalls einen Schritt zurückgehen darf und gewisse Anpassungen am Projekt noch möglich sind.

Benz: Dieses Zusammenspiel ist in vielen Projekten ein wichtiges Thema. Konkret liefern Simulationen ja wichtige Fakten etwa zum Tagesverlauf von Raumtemperaturen oder zur Wirkung von Beschattungssystemen. Obwohl ich diese Informa­tionen als Fakten bezeichne, geht es darum, dass das Planungsteam darüber diskutieren soll. Denn oft versteht nur der Gebäudetechnikplaner, wie die Technik im Betrieb funktioniert. Die Resultate einer Simulation können dieses Wissen besser vermitteln.

Herr Schälin, Sie simulieren Projekte seit Jahrzehnten. Ist die Zeit gekommen, dass Sie einem Architekten empfehlen dürfen, wie ein Gebäude aussehen soll?

Schälin: Wir werden tatsächlich immer früher in die Planung einbezogen. Unser Mitwirken wird positiv empfunden, wenn wir Verein­fachungs­poten­zia­le aufzeigen können. Das Planungsteam kann darauf aber auch gegenteilig reagieren: Soll die technische Ausstattung entschlackt werden, reduziert sich das Honorar der Fachplanenden unmittelbar. Die Honorar­ordnung regelt das so, dass der Projektaufwand auch die Entschädigung der Planungsfachleute bestimmt...

Die ausführliche Version dieses Interviews ist erschienen in TEC21 22/2021 «Simulieren geht über studieren»

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